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Keine Wissenschaft in Deutschland ist so völlig unberührt
geblieben gerade von den charakteristischen Aeußerungen des modernen Geistes, so
durchaus ausgeschlossen von allen Errungenschaften des vorschreitenden Denkens und
unwandelbar festgeschraubt in die einmal überlieferte Weise als die literarische
Kritik. Was die übrigen in diesem Jahrhundert so von Grund aus revolutionierte
und in neue Bahnen riß, die historische Betrachtung der Dinge im Zusammenhange der
Entwicklung, ist ihr fremd und immer noch wie in den alten Tagen des
metaphysischen Absolutismus, der die dialektische Erfassung des Wechsels und der
Notwendigkeit der Widersprüche nicht kannte, meistert sie ihr Objekt an einem
starren Kanon vorgefaßter Meinungen über das Schöne. Was diesen ewigen
Grundsätzen der Kunst entspricht, lobt, jede geringste Abweichung tadelt sie
unerbittlich und wie die alte Moral die Menschen in gute und böse schied, statt
sie als das unvermeidliche Produkt ihrer Verhältnisse aus dem Begriffe dieser
Verhältnisse zu begreifen, scheidet sie verdienstliche und verwerfliche
Kunstwerke je nach dem Grade ihrer Uebereinstimmung mit der Vorschrift. Daß in der
ästhetischen Vorschrift selbst einmal ein Wandel zulässig werden könnte in der
Abfolge der Zeiten und jedes Geschlecht für seinen besonderen Geist, mit dem
seine besondere Weise der Lebensfürsorge es erfüllt, auch seinen besonderen
Ausdruck in aller Kunst verlangt, ja daß überhaupt kein Kunstwerk jemals, wofern
es nur ein echtes, als eine planmäßige Erfüllung vorgesetzter Regeln, sondern
ein jedes immer als ein menschlichem |