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An solchen Tagen der Ungeduld, wenn die ersten Leberblümchen
blauen, spür ich schon den März, meinen alten Feind, den Schmerzensmonat. Da wird
mir seit Jahren immer, als ging’s nicht mehr weiter. Vita minima. So
niedergebrannt und ausflackernd, als müßte der nächste Hauch das Flämmchen
verlöschen. Ein merkwürdiger Zustand: sozusagen Zahnweh in allen Gliedern, das
sich den Rücken entlang bis ins ermattende Herz frißt. Und immer mit derselben
Vision: ich schließe nur die Augen, gleich erscheinen weiße Mandelblüten an kahlen
Ästen und es riecht nach Meer. Das ist mir aus besseren Zeiten geblieben, als man
noch dem säumigen Frühling entgegen fuhr, abends auf der Südbahn in den
Schlafwagen, am anderen Morgen in Triest auf ein Schiff stieg und übermorgen auf
der Höhe von Gravosa nach Ragusa an der schiefen Agave stand: da war vor der
wogenden Seligkeit aller Winter und aller Norden und aller Nebel weg, da schwieg
der dumpfe Leib, die Sinne sanken und die liebe Seele hob an. Sagen läßt es sich
nicht, aber in der Vita nuova steht ein Vers, der gibt mir noch einen
Nachgeschmack davon: Io vidi la speranza de‹ beati. Ich wurde dort immer wieder
des andern Reichs ganz unmittelbar gewiß: in diesem Spiegel erschien die Welt des
Wahren, Guten, Schönen, aus ihm schien sie mit solcher Evidenz, daß nichts übrig
blieb als hinzuknien, um Gott zu danken und Gott zu loben und Gott anzugehören
fortan. Es ist jetzt gerade sechzehn Jahre her, daß ich, schwerer Krankheit
entflohen, zum erstenmal dort an der Agave stand. Neulich auf dem Gaisberg ergriff
es mich wieder: das Tal war vom Morgenrauch bedeckt, die Berge ganz nah, der
Himmel fast weiß, die Sonne mild und überall ein Abglanz von Geheimnissen. Und da
lag ich und nichts war in mir als Dank. Bis dann mein Blick von ungefähr an den
Paß Lueg geriet: dort geht der Weg ans Meer. Da hätt ich heulen mögen vor
Herzeleid! Und um die Sehnsucht, vor der ich fast vergeh, zu stillen, Sehnsucht
nach Sonnenland, Sehnsucht der Seele, die friert in unserer ungestalten
kimmerischen Welt, nahm ich mir dann daheim wieder einmal die Vita nuova her,
jenes Verses eingedenk. Das ist nun, wenn man grad aus expressionistischen
Gedichten kommt, seltsam. Eigentlich ja genau, was der Expressionist will: der
innere Gehalt des Erlebten, das, was davon unser Eigentum geworden, unsere innere
Gestalt des äußeren Lebens erscheint. Auch diese Gedichte wären also dem, der sie
nicht selbst erlebt hat, unverständlich, und man hätte dann auch, wie bei den
Expressionisten oft, nur das dunkle Gefühl einer gewaltigen, aber chiffrierten
Schönheit, wenn uns nicht Dante selber gleich den Schlüssel zur Entzifferung gäbe.
Dadurch, daß er, mit einer Pedanterie, die fast etwas Kindliches hat, uns immer
zunächst erst einmal treuherzig erzählt, woraus das folgende Gedicht entstanden
ist, und ihm dann immer sogleich auch noch einen Selbstkommentar anfugt, der die
Gestalt, zu der ihm sein Erlebnis eben ward, nun wieder zerrinnen läßt und das
Gedicht wieder auflöst, wieder ins Erlebnis, in den Urstoff zurück, gerade
dadurch, daß so dem Bildner hier immer wieder der Redner ins Wort fällt und
unablässig Bericht zur Gestalt, gleich aber wieder Gestalt zum Bericht wird, läßt
er uns mitleben, als wären wir es selbst: nicht bloß die Frucht ist’s, die wir
empfangen, ja wir sehen nicht bloß zugleich auch ihre Blüte schon, sondern uns
wird dabei fast, als wäre dies Blühen und Reifen und Fruchten an uns selber
geschehen, und auch wir wären der die goldenen Äpfel tragende Baum und die sie
leis abschüttelnde Hand und die rasch auffangende Schale zugleich. Indem hier
Dante gleich sein eigener Düntzer ist und uns, wie der Empfängnis und der
glücklichen Geburt des Gedichts, so dann schließlich auch noch gewissermaßen den
Grabreden beiwohnen läßt, entsteht im Wechsel der Hebungen und Senkungen dieses
Verlaufs ein Wohlgefühl, dessen Kraft allein uns erst fähig macht, reinem
Expressionismus standzuhalten. Der Impressionist hat’s ja leicht, sein Gedicht ist
nichts als Echo: da hallt das Erlebnis selber zurück; das Erlebnis selber spricht,
nur jetzt mit erhobener Stimme. Doch das Gedicht des Expressionisten ist nicht
Echo, das ist Antwort und Gericht: das Leben hat angefragt, der Dichter spricht
ihm sein Urteil; das Leben ist erschienen, der Dichter weist der Erscheinung erst
den Sinn an, ihren Sinn und seinen; das Leben bringt den Stoff herbei, der Dichter
holt die Gestalt heraus. Wie sollen wir das also verstehen, Antwort verstehen,
ohne zu wissen, was denn gefragt worden ist, den Sinn verstehen, ohne zu wissen,
welcher Erscheinung, eine Gestalt verstehen, ohne das Geheimnis zu kennen, auf das
sie deutet, ja das uns eben von ihr doch erst gedeutet werden soll? Niemand kann
die Harzreise, vielleicht das schönste Gedicht Goethes, verstehen, der nicht ihren
Rohstoff, der nicht den Fall Plessing kennt, niemand kann »Ilmenau« verstehen ohne
das Vorspiel in Goethes Leben dazu. Das expressionistische Gedicht ist immer ein
Schlußwort, es setzt den Anfang voraus; es ist immer, freilich im höchsten Sinn,
Gelegenheitsgedicht: die Gelegenheit vor das Gericht der Ewigkeit zu fordern, ist
recht eigentlich sein Amt. Dies erklärt auch, weshalb unter uns nur immer der
impressionistische Goethe lebt, der, Horcher nach außen und innen, der Widerklang
eigener und fremder Welt, nicht aber der Expressionist Goethe, der Seher,
Gesetzgeber und Rechtsprecher, weil man doch, um das Gesetz, das er gibt, ganz zu
verstehen, zuvor erst den Fall, an dem er ausspricht, kennen und also die neun
Bände des herrlichen Graf (bei Rütten und Löning in Frankfurt) immer bei sich oder
noch besser hinter sich, nämlich ein für allemal schon in sich haben muß. Und das
ist auch der Grund, weshalb ebenso der Zaubergarten der Sonette Shakespeares
unbesucht liegt. Auch sie sind expressionistisch und das expressionistische
Gedicht ist immer ein Schiedsspruch, es setzt also voraus, daß man weiß, worüber
es entscheidet. Wenn Dante darum selber vor jedem Gedicht ansagt, worum es geht,
und dann erst aus dem Stoff die Gestalt unter unseren Augen aussteigen, unter
unseren Augen die Erfahrung sich zur Idee zurück verklären läßt, so geschieht das
aus einem tiefen Wissen um das Wesen der Kunst, der großen Kunst, der
rechtsprechenden, das Gute, Wahre, Schöne mit Namen nennenden, der gesetzgebenden
Kunst. Und erst wenn unter unseren Expressionisten einer den Mut fände, wieder so
»naiv« zu sein und seinen Gedichten ihre lebendige Vorgeschichte mitzugeben,
könnte der Expressionismus aufhören, in der Rätselecke der Literatur zu stehen.
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