28. Februar [1920]

Hermann Bahr: 28. Februar [1920]. In: Kritik der Gegenwart. Augsburg: Haas & Grabherr 1922, S. 68–71.

Verfasser:in Bahr, Hermann
Titel 28. Februar [1920]
Gesamttitel Kritik der Gegenwart
Erschienen
  • Augsburg
  • Haas & Grabherr
  • 1922
  • Seite 68–71
Volltext An solchen Tagen der Ungeduld, wenn die ersten Leberblümchen blauen, spür ich schon den März, meinen alten Feind, den Schmerzensmonat. Da wird mir seit Jahren immer, als ging’s nicht mehr weiter. Vita minima. So niedergebrannt und ausflackernd, als müßte der nächste Hauch das Flämmchen verlöschen. Ein merkwürdiger Zustand: sozusagen Zahnweh in allen Gliedern, das sich den Rücken entlang bis ins ermattende Herz frißt. Und immer mit derselben Vision: ich schließe nur die Augen, gleich erscheinen weiße Mandelblüten an kahlen Ästen und es riecht nach Meer. Das ist mir aus besseren Zeiten geblieben, als man noch dem säumigen Frühling entgegen fuhr, abends auf der Südbahn in den Schlafwagen, am anderen Morgen in Triest auf ein Schiff stieg und übermorgen auf der Höhe von Gravosa nach Ragusa an der schiefen Agave stand: da war vor der wogenden Seligkeit aller Winter und aller Norden und aller Nebel weg, da schwieg der dumpfe Leib, die Sinne sanken und die liebe Seele hob an. Sagen läßt es sich nicht, aber in der Vita nuova steht ein Vers, der gibt mir noch einen Nachgeschmack davon: Io vidi la speranza de‹ beati. Ich wurde dort immer wieder des andern Reichs ganz unmittelbar gewiß: in diesem Spiegel erschien die Welt des Wahren, Guten, Schönen, aus ihm schien sie mit solcher Evidenz, daß nichts übrig blieb als hinzuknien, um Gott zu danken und Gott zu loben und Gott anzugehören fortan. Es ist jetzt gerade sechzehn Jahre her, daß ich, schwerer Krankheit entflohen, zum erstenmal dort an der Agave stand. Neulich auf dem Gaisberg ergriff es mich wieder: das Tal war vom Morgenrauch bedeckt, die Berge ganz nah, der Himmel fast weiß, die Sonne mild und überall ein Abglanz von Geheimnissen. Und da lag ich und nichts war in mir als Dank. Bis dann mein Blick von ungefähr an den Paß Lueg geriet: dort geht der Weg ans Meer. Da hätt ich heulen mögen vor Herzeleid! Und um die Sehnsucht, vor der ich fast vergeh, zu stillen, Sehnsucht nach Sonnenland, Sehnsucht der Seele, die friert in unserer ungestalten kimmerischen Welt, nahm ich mir dann daheim wieder einmal die Vita nuova her, jenes Verses eingedenk. Das ist nun, wenn man grad aus expressionistischen Gedichten kommt, seltsam. Eigentlich ja genau, was der Expressionist will: der innere Gehalt des Erlebten, das, was davon unser Eigentum geworden, unsere innere Gestalt des äußeren Lebens erscheint. Auch diese Gedichte wären also dem, der sie nicht selbst erlebt hat, unverständlich, und man hätte dann auch, wie bei den Expressionisten oft, nur das dunkle Gefühl einer gewaltigen, aber chiffrierten Schönheit, wenn uns nicht Dante selber gleich den Schlüssel zur Entzifferung gäbe. Dadurch, daß er, mit einer Pedanterie, die fast etwas Kindliches hat, uns immer zunächst erst einmal treuherzig erzählt, woraus das folgende Gedicht entstanden ist, und ihm dann immer sogleich auch noch einen Selbstkommentar anfugt, der die Gestalt, zu der ihm sein Erlebnis eben ward, nun wieder zerrinnen läßt und das Gedicht wieder auflöst, wieder ins Erlebnis, in den Urstoff zurück, gerade dadurch, daß so dem Bildner hier immer wieder der Redner ins Wort fällt und unablässig Bericht zur Gestalt, gleich aber wieder Gestalt zum Bericht wird, läßt er uns mitleben, als wären wir es selbst: nicht bloß die Frucht ist’s, die wir empfangen, ja wir sehen nicht bloß zugleich auch ihre Blüte schon, sondern uns wird dabei fast, als wäre dies Blühen und Reifen und Fruchten an uns selber geschehen, und auch wir wären der die goldenen Äpfel tragende Baum und die sie leis abschüttelnde Hand und die rasch auffangende Schale zugleich. Indem hier Dante gleich sein eigener Düntzer ist und uns, wie der Empfängnis und der glücklichen Geburt des Gedichts, so dann schließlich auch noch gewissermaßen den Grabreden beiwohnen läßt, entsteht im Wechsel der Hebungen und Senkungen dieses Verlaufs ein Wohlgefühl, dessen Kraft allein uns erst fähig macht, reinem Expressionismus standzuhalten. Der Impressionist hat’s ja leicht, sein Gedicht ist nichts als Echo: da hallt das rlebnis selber zurück; das Erlebnis selber spricht, nur jetzt mit erhobener Stimme. Doch das Gedicht des Expressionisten ist nicht Echo, das ist Antwort und Gericht: das Leben hat angefragt, der Dichter spricht ihm sein Urteil; das Leben ist erschienen, der Dichter weist der Erscheinung erst den Sinn an, ihren Sinn und seinen; das Leben bringt den Stoff herbei, der Dichter holt die Gestalt heraus. Wie sollen wir das also verstehen, Antwort verstehen, ohne zu wissen, was denn gefragt worden ist, den Sinn verstehen, ohne zu wissen, welcher Erscheinung, eine Gestalt verstehen, ohne das Geheimnis zu kennen, auf das sie deutet, ja das uns eben von ihr doch erst gedeutet werden soll? Niemand kann die Harzreise, vielleicht das schönste Gedicht Goethes, verstehen, der nicht ihren Rohstoff, der nicht den Fall Plessing kennt, niemand kann »Ilmenau« verstehen ohne das Vorspiel in Goethes Leben dazu. Das expressionistische Gedicht ist immer ein Schlußwort, es setzt den Anfang voraus; es ist immer, freilich im höchsten Sinn, Gelegenheitsgedicht: die Gelegenheit vor das Gericht der Ewigkeit zu fordern, ist recht eigentlich sein Amt. Dies erklärt auch, weshalb unter uns nur immer der impressionistische Goethe lebt, der, Horcher nach außen und innen, der Widerklang eigener und fremder Welt, nicht aber der Expressionist Goethe, der Seher, Gesetzgeber und Rechtsprecher, weil man doch, um das Gesetz, das er gibt, ganz zu verstehen, zuvor erst den Fall, an dem er ausspricht, kennen und also die neun Bände des herrlichen Graf (bei Rütten und Löning in Frankfurt) immer bei sich oder noch besser hinter sich, nämlich ein für allemal schon in sich haben muß. Und das ist auch der Grund, weshalb ebenso der Zaubergarten der Sonette Shakespeares unbesucht liegt. Auch sie sind expressionistisch und das expressionistische Gedicht ist immer ein Schiedsspruch, es setzt also voraus, daß man weiß, worüber es entscheidet. Wenn Dante darum selber vor jedem Gedicht ansagt, worum es geht, und dann erst aus dem Stoff die Gestalt unter unseren Augen aussteigen, unter unseren Augen die Erfahrung sich zur Idee zurück verklären läßt, so geschieht das aus einem tiefen Wissen um das Wesen der Kunst, der großen Kunst, der rechtsprechenden, das Gute, Wahre, Schöne mit Namen nennenden, der gesetzgebenden Kunst. Und erst wenn unter unseren Expressionisten einer den Mut fände, wieder so »naiv« zu sein und seinen Gedichten ihre lebendige Vorgeschichte mitzugeben, könnte der Expressionismus aufhören, in der Rätselecke der Literatur zu stehen. |
Zusammenfassung Über seine ihn im März befallende Sehnsucht nach dem Süden, Dantes »Vita nuova« und ihr Verhältnis zum expressionistischen Gedicht.
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