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In Berlin ist ein neuer Verein (Ibsen pflegte zu sagen: wenn die
Deutschen dereinst doch die Torheit ihrer ewigen Vereinsmeierei begreifen lernen,
wird zunächst sicherlich ein Verein zur Abschaffung der Vereine gegründet werden)
vom Polizei-Präsidenten genehmigt, vom Amtsgericht in das Vereins-Register
eingetragen, dann aber diesem genehmigten und eingetragenen, öffentlich
anerkannten Verein vom Staatskommissär für Wohlfahrtspflege die »Genehmigung zur
Werbung von Mitgliedern und zum Vertrieb von Propagandaschriften versagt« worden;
ungefähr wie wenn man einem Theaterdirektor die Konzession erteilen, aber das
Engagement von Schauspielern und den Einlaß von Zuschauern verbieten würde.
Dadurch, daß der Verein absurd ist, glaubt sich der Staatskommissär offenbar
berechtigt, um die Wette noch absurder zu sein. Der Verein, der »Mensch – Erde –
Bund« heißt, von Wilhelm Doms, dem Verfasser einer Schrift: »Entvölkung oder
Barbarei!« (Verlag Hermann Baumann in Berlin W 9, Köthenerstraße 27) angeregt,
verfährt echt neudeutsch, indem er ein Problem, das er in seiner ganzen, bisher
unterschätzten Bedeutung erkennt, ein sehr wichtig es Problem, vielleicht zurzeit,
ja für ein Jahrhundert das wichtigste von allen Problemen der deutschen
Wirtschaft, vielleicht sogar der Weltwirtschaft, mit dreistem Verstand mechanisch
durch Verordnungen von bureaukratischer Gewaltsamkeit aus der Welt zu dekretieren
meint, ohne zu fragen, ob, was dabei sittlich zerstört wird, nicht doch ein zu
hoher Preis für den wirtschaftlichen Gewinn ist, den man sich von diesen
drastischen Mitteln verspricht. Natürlich »kann« die Nationalversammlung alles
mögliche beschließen, sie »kann« beschließen, wieviel Kinder fortan in Deutschland
geboren werden dürfen, und sie »kann« beschließen, daß, sobald die Ziffer der von
der Nationalversammlung bewilligten Geburten erreicht ist, der Überschuß abgetötet
oder kastriert oder vorher abgetrieben wird. Wie freilich ein solches abtreibendes
Deutschland nach einigen Jahren sittlich aussehen und welche Kraft, auch nur
Leibeskraft, geschweige Willenskraft ihm in dieser Verluderung bleiben wird, das
entzieht sich der Voraussicht wie der Allmacht der Nationalversammlung. Der
Staatskommissär, der das Bevölkerungsproblem durch das Verbot der Diskussion zu
lösen, meint, und ein Verein, der die Geburten von Amts wegen fixiert haben will,
sie sind einander wert! Und dem Verein wird man übrigens immerhin noch eher manche
Torheit, manche Roheit nachzusehen geneigt sein, wenn dem Deutschen, der nun
einmal sachlichen Gründen zurzeit unzugänglich scheint, wirklich auf andere Weise
die furchtbare Bedeutung des Problems nicht beigebracht werden kann. Deutschland
kann auf Jahre hinaus kaum zwei Drittel seiner Bevölkerung ernähren. Sein Leben
hängt davon ab, wie weit und wie rasch es ihm gelingen wird, die Städte zu
beschränken und, zur wirtschaftlichen wie zur geistigen Genesung, wieder
Bauernland zu werden. Niemand hat das Problem in seinem ganzen Ernst klarer,
gewichtiger und eindringlicher dargestellt als neulich Dr. Walter Schotte in einem
Vortrag über »Rußland und Europa«, den er im März in der russisch-deutschen
Gesellschaft hielt und nun in den jetzt von ihm übernommenen, mit Walter Heynen
zusammengeführten »Preußischen Jahrbüchern« bringt (denen übrigens Hans Delbrück
befreundet bleibt, gerade dieses Aprilheft enthält einen glänzenden Aufsatz über
»Kaiser und Kanzler« von Delbrück). Schotte zeigt da, daß die Frage gar nicht ist,
ob wir uns bolschewisieren wollen oder nicht, ob wir uns bolschewisieren sollen
oder nicht, ob wir den Bolschewismus annehmbar, ja vielleicht sogar wünschenswert
finden, sondern nur, ob wir uns überhaupt bolschewisieren können, ob es möglich
ist, Deutschland aus dem kapitalistischen Weltsystem abzulösen, dessen Glied es
jetzt ist, ob nicht schon die Dichtigkeit unserer Bevölkerung uns zwingt, auch
ferner an der kapitalistischen Weltgesellschaft teilzunehmen. »Der Kommunismus
setzt einen gewissen Einklang zwischen den Gütern und Kräften des Bodens und der
Zahl der Menschen, die von ihm leben, voraus; denn er schaltet den Handel, er
schaltet die internationale Arbeitsteilung, er schaltet damit die gütervermehrende
Arbeit des einzelnen aus; er verlangt eine gewisse Autarkie der einzelnen
örtlichen Bezirke des Lebens.« Eben an dieser Autarkie fehlt es uns aber, sie
fehlt im Abendland überall, gerade der Kapitalismus hat sie ja zerstört, indem er
eine Dichtigkeit der Bevölkerung schuf, bei der Autarkie der Wirtschaft nicht mehr
möglich ist. Nach Schotte zählte Deutschland um das Jahr 1300 etwa zwölf
Millionen, um das Jahr 1800 an die vierundzwanzig Millionen, 1910 aber
sechsundsechzig Millionen, Frankreich unter Karl dem Großen acht Millionen, im
Jahre 1806 neunundzwanzig Millionen, im Jahre 1901 neununddreißig Millionen,
Italien um 600 sechs Millionen, um 1800 sechzehn Millionen, um 1900 zweiunddreißig
Millionen Menschen. Während also der Satz, in dem die Völker wachsen, achtzehn
Jahrhunderte lang überall ungefähr derselbe bleibt, tut das XIX. Jahrhundert auf
einmal »einen Riesensprung«, ja Schotte nennt dies geradezu »das eigentliche, das
Hauptereignis« des XIX. Jahrhunderts. »Die internationale Arbeitsteilung, die bis
zum Kriege nur automatisch und noch keineswegs bewußt, aber doch schon in
unendlich feiner Verästelung sich durchgesetzt hat, ist die unmittelbare
Organisationsfolge des hohen Dichtigkeitsgrades der Bevölkerung.« Sie schafft nun
einen »Gütervorrat«, der zugleich ihr Ergebnis, aber auch wieder eine Bedingung
ihrer Eristenz ist. Der Krieg hat ihn zerstört, so stehen wir in der
Weltwirtschaft jetzt ohne Gütervorrat und kaum der Hälfte unserer Leistungen fähig
da. Das Kapital Europas ist in die Vereinigten Staaten, nach Südamerika und nach
Japan abgewandert. Geld wie Rohstoffe haben diese Länder in Fülle, aber es fehlt
ihnen an Arbeitern, während es den Arbeitern Europas wieder an Arbeit fehlt, denn
wir sind nicht mehr reich genug, um die zur Arbeit notwendigen Rohstoffe zu
kaufen. So können wir zurzeit kaum die Hälfte der Bevölkerung ernähren, und
Schotte hat recht, wenn er »die Zumutung, in diesem Augenblick aus irgendwelchen
idealen Gründen oder aus Verzweiflung oder Furcht das Wirtschafts- und
Gesellschaftssystem zu ändern, die Zumutung, uns zu bolschewisieren« abweist. Aber
auch wenn wir, auf Experimente verzichtend, die Kraft zu ruhiger Arbeit, und einer
härteren, einer schlechter entlohnten Arbeit, wiederfinden, wird die Gelegenheit
zur industriellen Arbeit weitaus geringer sein, weil, was ein Aufsatz August
Müllers im Aprilheft der neuen Rundschau Fischers gut darlegt, der Krieg die schon
längst vorhandene Tendenz Amerikas und Ostasiens, »bisherige Absatzgebiete für
europäische Industrieartikel durch Übergang zu eigener Herstellung dem früheren
europäischen Lieferanten zu verschließen«, beschleunigt und schon immer mehr
verwirklicht hat. Japans Ackerbau, Seidenzucht und Teeproduktion waren schon von
1883 bis 1893 »um rund tausend Prozent« gewachsen. »Werden die fünfhundert
Millionen Chinesen in diesen Entwicklungsgang hineingetrieben, so muß dieses
begabte Volk gleiche oder vielleicht sogar größere Ergebnisse erzielen. Wie dann
noch eine Aufnahmefähigkeit des ostasiatischen Marktes für europäische Produkte
und die Lieferung von Reis, Sojabohnen und anderen Nahrungsmitteln und Rohstoffen
im Austausch gegen europäische Industrieprodukte möglich sein soll, ist nicht
vorstellbar. Namentlich wenn man sich erinnert, daß auch die unter viel
günstigeren Bedingungen produzierende und vom Weltkrieg nicht bis in die
Grundfesten erschütterte amerikanische Industrie als Konkurrent Europas auf dem
ostasiatischen Markt immer stärker auftritt.« Wie sollen wir uns dann die
Nahrungsmittel und Hilfsstoffe der Landwirtschaft verschaffen, deren Einfuhr vor
dem Krieg über zwei Milliarden Mark, wie die Rohstoffe, deren Einfuhr für die
Textilindustrie ½ Milliarden Mark, wie den Reis, wofür sie 60 Millionen Mark, den
Kaffee, wofür sie 219 Millionen Mark, den Kakao, wofür sie 67 Millionen Mark
betrug, lauter in deutscher Arbeit ausbezahlte Millionen? Nein, auch wenn wir uns
der »Zumutung, uns zu bolschewisieren« erwehren, können wir nicht leben, solange
wir nicht den Mut finden, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen und wieder ein
Bauernland zu werden. Wir lügen uns noch immer vor, alle Staaten hätten doch ein
Interesse, uns zu retten. Sie hätten es vielleicht, aber sie haben es nicht,
können es vor eigener Not und Angst wohl auch gar nicht haben. Das industrielle
Deutschland war ein Kunstwerk des Imperialismus, es ist nur imperialistisch
möglich. Wer es heute noch will, muß an unsere Kraft zum Imperialismus glauben
(von dem es allerhand Formen gibt, auch eine bolschewistische). Als Industrieland
ist Deutschland nur mit dem Schwerte möglich. Ein Industrieland kann Deutschland
erst wieder sein, nachdem es noch einmal Krieg mit England geführt und in diesem
neuen Krieg gesiegt haben wird. Wer Phantasie hat, mag sich diesen Sieg von den
vereinigten Bolschewismen Rußlands, Deutschlands, Italiens und Frankreichs
errungen denken. Ich, ohne soviel Phantasie, hoffe lieber auf ein deutsches
Bauernland, ein unimperialistisches, stilles, friedfertiges Land, in dem dann
schon auch ein Austragstüberl für den deutschen Geist zu finden sein wird, den
alten deutschen Geist, der jetzt lange genug landfremd herumirren hat müssen.
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