30. April [1920]

Hermann Bahr: 30. April [1920]. In: Kritik der Gegenwart. Augsburg: Haas & Grabherr 1922, S. 123–127.

Verfasser:in Bahr, Hermann
Titel 30. April [1920]
Gesamttitel Kritik der Gegenwart
Erschienen
  • Augsburg
  • Haas & Grabherr
  • 1922
  • Seite 123–127
Rezensiert
  • Wilhelm Doms: Entvölkung oder Barbarei! (1920)
  • Walter Schotte: Rußland und Europa. In: Preussische Jahrbücher (1920)
Volltext In Berlin ist ein neuer Verein (Ibsen pflegte zu sagen: wenn die Deutschen dereinst doch die Torheit ihrer ewigen Vereinsmeierei begreifen lernen, wird zunächst sicherlich ein Verein zur Abschaffung der Vereine gegründet werden) vom Polizei-Präsidenten genehmigt, vom Amtsgericht in das Vereins-Register eingetragen, dann aber diesem genehmigten und eingetragenen, öffentlich anerkannten Verein vom Staatskommissär für Wohlfahrtspflege die »Genehmigung zur Werbung von Mitgliedern und zum Vertrieb von Propagandaschriften versagt« worden; ungefähr wie wenn man einem Theaterdirektor die Konzession erteilen, aber das Engagement von Schauspielern und den Einlaß von Zuschauern verbieten würde. Dadurch, daß der Verein absurd ist, glaubt sich der Staatskommissär offenbar berechtigt, um die Wette noch absurder zu sein. Der Verein, der »Mensch – Erde – Bund« heißt, von Wilhelm Doms, dem Verfasser einer Schrift: »Entvölkung oder Barbarei!« (Verlag Hermann Baumann in Berlin W 9, Köthenerstraße 27) angeregt, verfährt echt neudeutsch, indem er ein Problem, das er in seiner ganzen, bisher unterschätzten Bedeutung erkennt, ein sehr wichtig es Problem, vielleicht zurzeit, ja für ein Jahrhundert das wichtigste von allen Problemen der deutschen Wirtschaft, vielleicht sogar der Weltwirtschaft, mit dreistem Verstand mechanisch durch Verordnungen von bureaukratischer Gewaltsamkeit aus der Welt zu dekretieren meint, ohne zu fragen, ob, was dabei sittlich zerstört wird, nicht doch ein zu hoher Preis für den wirtschaftlichen Gewinn ist, den man sich von diesen drastischen Mitteln verspricht. Natürlich »kann« die Nationalversammlung alles mögliche beschließen, sie »kann« beschließen, wieviel Kinder fortan in Deutschland geboren werden dürfen, und sie »kann« beschließen, daß, sobald die Ziffer der von der Nationalversammlung bewilligten Geburten erreicht ist, der Überschuß abgetötet oder kastriert oder vorher abgetrieben wird. Wie freilich ein solches abtreibendes Deutschland nach einigen Jahren sittlich aussehen und welche Kraft, auch nur Leibeskraft, geschweige Willenskraft ihm in dieser Verluderung bleiben wird, das entzieht sich der Voraussicht wie der Allmacht der Nationalversammlung. Der Staatskommissär, der das Bevölkerungsproblem durch das Verbot der Diskussion zu lösen, meint, und ein Verein, der die Geburten von Amts wegen fixiert haben will, sie sind einander wert! Und dem Verein wird man übrigens immerhin noch eher manche Torheit, manche Roheit nachzusehen geneigt sein, wenn dem Deutschen, der nun einmal sachlichen Gründen zurzeit unzugänglich scheint, wirklich auf andere Weise die furchtbare Bedeutung des Problems nicht beigebracht werden kann. Deutschland kann auf Jahre hinaus kaum zwei Drittel seiner Bevölkerung ernähren. Sein Leben hängt davon ab, wie weit und wie rasch es ihm gelingen wird, die Städte zu beschränken und, zur wirtschaftlichen wie zur geistigen Genesung, wieder Bauernland zu werden. Niemand hat das Problem in seinem ganzen Ernst klarer, gewichtiger und eindringlicher dargestellt als neulich Dr. Walter Schotte in einem Vortrag über »Rußland und Europa«, den er im März in der russisch-deutschen Gesellschaft hielt und nun in den jetzt von ihm übernommenen, mit Walter Heynen zusammengeführten »Preußischen Jahrbüchern« bringt (denen übrigens Hans Delbrück befreundet bleibt, gerade dieses Aprilheft enthält einen glänzenden Aufsatz über »Kaiser und Kanzler« von Delbrück). Schotte zeigt da, daß die Frage gar nicht ist, ob wir uns bolschewisieren wollen oder nicht, ob wir uns bolschewisieren sollen oder nicht, ob wir den Bolschewismus annehmbar, ja vielleicht sogar wünschenswert finden, sondern nur, ob wir uns überhaupt bolschewisieren können, ob es möglich ist, Deutschland aus dem kapitalistischen Weltsystem abzulösen, dessen Glied es jetzt ist, ob nicht schon die Dichtigkeit unserer Bevölkerung uns zwingt, auch ferner an der kapitalistischen Weltgesellschaft teilzunehmen. »Der Kommunismus setzt einen gewissen Einklang zwischen den Gütern und Kräften des Bode s und der Zahl der Menschen, die von ihm leben, voraus; denn er schaltet den Handel, er schaltet die internationale Arbeitsteilung, er schaltet damit die gütervermehrende Arbeit des einzelnen aus; er verlangt eine gewisse Autarkie der einzelnen örtlichen Bezirke des Lebens.« Eben an dieser Autarkie fehlt es uns aber, sie fehlt im Abendland überall, gerade der Kapitalismus hat sie ja zerstört, indem er eine Dichtigkeit der Bevölkerung schuf, bei der Autarkie der Wirtschaft nicht mehr möglich ist. Nach Schotte zählte Deutschland um das Jahr 1300 etwa zwölf Millionen, um das Jahr 1800 an die vierundzwanzig Millionen, 1910 aber sechsundsechzig Millionen, Frankreich unter Karl dem Großen acht Millionen, im Jahre 1806 neunundzwanzig Millionen, im Jahre 1901 neununddreißig Millionen, Italien um 600 sechs Millionen, um 1800 sechzehn Millionen, um 1900 zweiunddreißig Millionen Menschen. Während also der Satz, in dem die Völker wachsen, achtzehn Jahrhunderte lang überall ungefähr derselbe bleibt, tut das XIX. Jahrhundert auf einmal »einen Riesensprung«, ja Schotte nennt dies geradezu »das eigentliche, das Hauptereignis« des XIX. Jahrhunderts. »Die internationale Arbeitsteilung, die bis zum Kriege nur automatisch und noch keineswegs bewußt, aber doch schon in unendlich feiner Verästelung sich durchgesetzt hat, ist die unmittelbare Organisationsfolge des hohen Dichtigkeitsgrades der Bevölkerung.« Sie schafft nun einen »Gütervorrat«, der zugleich ihr Ergebnis, aber auch wieder eine Bedingung ihrer Eristenz ist. Der Krieg hat ihn zerstört, so stehen wir in der Weltwirtschaft jetzt ohne Gütervorrat und kaum der Hälfte unserer Leistungen fähig da. Das Kapital Europas ist in die Vereinigten Staaten, nach Südamerika und nach Japan abgewandert. Geld wie Rohstoffe haben diese Länder in Fülle, aber es fehlt ihnen an Arbeitern, während es den Arbeitern Europas wieder an Arbeit fehlt, denn wir sind nicht mehr reich genug, um die zur Arbeit notwendigen Rohstoffe zu kaufen. So können wir zurzeit kaum die Hälfte der Bevölkerung ernähren, und Schotte hat recht, wenn er »die Zumutung, in diesem Augenblick aus irgendwelchen idealen Gründen oder aus Verzweiflung oder Furcht das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu ändern, die Zumutung, uns zu bolschewisieren« abweist. Aber auch wenn wir, auf Experimente verzichtend, die Kraft zu ruhiger Arbeit, und einer härteren, einer schlechter entlohnten Arbeit, wiederfinden, wird die Gelegenheit zur industriellen Arbeit weitaus geringer sein, weil, was ein Aufsatz August Müllers im Aprilheft der neuen Rundschau Fischers gut darlegt, der Krieg die schon längst vorhandene Tendenz Amerikas und Ostasiens, »bisherige Absatzgebiete für europäische Industrieartikel durch Übergang zu eigener Herstellung dem früheren europäischen Lieferanten zu verschließen«, beschleunigt und schon immer mehr verwirklicht hat. Japans Ackerbau, Seidenzucht und Teeproduktion waren schon von 1883 bis 1893 »um rund tausend Prozent« gewachsen. »Werden die fünfhundert Millionen Chinesen in diesen Entwicklungsgang hineingetrieben, so muß dieses begabte Volk gleiche oder vielleicht sogar größere Ergebnisse erzielen. Wie dann noch eine Aufnahmefähigkeit des ostasiatischen Marktes für europäische Produkte und die Lieferung von Reis, Sojabohnen und anderen Nahrungsmitteln und Rohstoffen im Austausch gegen europäische Industrieprodukte möglich sein soll, ist nicht vorstellbar. Namentlich wenn man sich erinnert, daß auch die unter viel günstigeren Bedingungen produzierende und vom Weltkrieg nicht bis in die Grundfesten erschütterte amerikanische Industrie als Konkurrent Europas auf dem ostasiatischen Markt immer stärker auftritt.« Wie sollen wir uns dann die Nahrungsmittel und Hilfsstoffe der Landwirtschaft verschaffen, deren Einfuhr vor dem Krieg über zwei Milliarden Mark, wie die Rohstoffe, deren Einfuhr für die Textilindustrie ½ Milliarden Mark, wie den Reis, wofür sie 60 Millionen Mark, den Kaffee, wofür sie 219 Millionen Mark, den Kakao, wofür sie 67 Millionen Mark betrug, lauter in deutscher Arbeit ausbezahlte Millionen? Nein, auch wenn wir uns der »Zumutung, uns zu bolschewisieren« erwehren, können wir nicht leben, solange wir nicht den Mut finden, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen und wieder ein Bauernland zu werden. Wir lügen uns noch immer vor, alle Staaten hätten doch ein Interesse, uns zu retten. Sie hätten es vielleicht, aber sie haben es nicht, können es vor eigener Not und Angst wohl auch gar nicht haben. Das industrielle Deutschland war ein Kunstwerk des Imperialismus, es ist nur imperialistisch möglich. Wer es heute noch will, muß an unsere Kraft zum Imperialismus glauben (von dem es allerhand Formen gibt, auch eine bolschewistische). Als Industrieland ist Deutschland nur mit dem Schwerte möglich. Ein Industrieland kann Deutschland erst wieder sein, nachdem es noch einmal Krieg mit England geführt und in diesem neuen Krieg gesiegt haben wird. Wer Phantasie hat, mag sich diesen Sieg von den vereinigten Bolschewismen Rußlands, Deutschlands, Italiens und Frankreichs errungen denken. Ich, ohne soviel Phantasie, hoffe lieber auf ein deutsches Bauernland, ein unimperialistisches, stilles, friedfertiges Land, in dem dann schon auch ein Austragstüberl für den deutschen Geist zu finden sein wird, den alten deutschen Geist, der jetzt lange genug landfremd herumirren hat müssen. |
Zusammenfassung Fragen der Bevölkerungsentwicklung und -ernährung begegnet Bahr mit der Hoffnung, dass statt Imperialismus und Industrienation ein deutsches Bauernland die Zukunft ist.
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