1. März [1920]

Hermann Bahr: 1. März [1920]. In: Kritik der Gegenwart. Augsburg: Haas & Grabherr 1922, S. 71–74.

Verfasser:in Bahr, Hermann
Titel 1. März [1920]
Gesamttitel Kritik der Gegenwart
Erschienen
  • Augsburg
  • Haas & Grabherr
  • 1922
  • Seite 71–74
Volltext Diese mörderischen, aber auch selbstmörderischen Steuern, an denen sich jetzt unsere Langmut erproben soll, erinnern mich, was mein Vater, als ich noch ein Jüngling war, immer sagte, wenn er wieder meine Schulden zahlen sollte: Du glaubst rein, du bist der Staat! Ein ordentlicher Mensch aber, fuhr er fort, bemißt nach seinen Einnahmen, was er ausgeben darf; nur der Staat kann sich erlauben, es umgekehrt zu machen! Mein guter Vater irrte: der Staat kann das nämlich auch nicht, oder doch nur bis zu einer gewissen Grenze; das wird sich nächstens zeigen. Ja mit der Erkenntnis dieser Grenze ist der Staat recht eigentlich überhaupt erst entstanden. Er entstand geschichtlich in dem Augenblick, als, während bisher Nomaden Bauern überfallen, niedergemacht und der Ernte beraubt hatten, um dann, nachdem sie verzehrt war, weiterzuziehen und wieder ein anderes Land auszurauben, eines Tages einer auf den produktiven Einfall kam, den Bauer am Leben und ihm vom Ertrag seiner Arbeit soviel zu lassen, als er braucht, um für die Herren arbeiten zu können. Der Bauer, um nur nicht erschlagen zu werden, war einverstanden, bestellte das Land, lieferte, was er sich nur irgend am Mund absparen konnte, den Herren ab, die Herren hatten nicht mehr nötig, kriegerisch von Land zu Land zu schweifen, und so war der Staat entstanden. Vor diesen Anfang aller Staatsbildung kehren jetzt unsere Herren zurück, ins nomadische Prinzip. Sie vergessen, daß Steuern eine natürliche Grenze haben: nämlich daß sie etwas übrig lassen müssen, womit auch im nächsten Jahr wieder Steuern erbracht werden können. Wenn unsere Herren den Einfall, aus dem überhaupt erst der Staat entstand, den Einfall, durch den überhaupt Herren erst möglich wurden, den Einfall nämlich, daß der Knecht: Bauer, Bürger oder Arbeiter hinfort nicht mehr erschlagen werden soll, jetzt so deutlich verleugnen, so muß man annehmen, daß diese Herren Renner und Reisch offenbar entschlossen sind, nach unserem Ende kriegerisch in ein anderes Land zu ziehen und auch dort die friedliche Bevölkerung wieder der Ernte zu berauben, und so weiter rundherum. Ich bin neugierig ... Merkwürdig ist nur, daß uns an dieses Staatsende gerade der Größenwahn unseres maßlosen Staatsbegriffs gebracht hat: wir hätten ja diese tödlichen Steuern gar nicht nötig, wenn wir uns nicht einbildeten, durchaus die Großmacht spielen zu müssen, zwar nicht nach außen, doch desto mehr vor uns selbst. Wir waren einst ein mächtiges Reich, das sich nur freilich zuweilen verlocken ließ, auch schon auf einem allzu großen Fuße zu leben. Jetzt sind wir nur noch ein Fetzen davon und treiben aber weit ärgeren Aufwand: wir sind ein Fetzen auf dem größten Fuß. Ein reicher Grundherr hat sein Erbe verloren; nur ein Lusthaus mit kleinem Ziergarten ist ihm geblieben, Wald und Feld und Wiese sind weg, aber er will immer noch vierspännig fahren! Unsere Bürokratie ging schon weit über die Mittel des alten großen Reiches, aber wir jetzt, statt sie zu beschränken, wir in diesem jämmerlich kleinen Land vergrößern sie noch! Doch wir hätten nicht bloß den Staatsapparat einzuschränken, wir hätten vor allem den Staat selber einzuschränken, schon grundsätzlich (wenn wir Grundsatze hätten!), weil sein monarchischer Umfang in einer Republik ja sinnlos ist. In Monarchien hat der Staat zu dem, was er sonst alles ist, auch noch ein Plakat für den Monarchen zu sein: alles was ein Volk an seinem angestammten Fürsten bewundern will, die jedes Verdienst ehrende Huld, die jeder Not bereite Gnade, die Förderung der Wissenschaft, den Schutz der Künste, den Glanz einer lässig stolz mit dem Dasein spielenden Freudigkeit, übernimmt im Namen des Kaisers oder Königs der Staat. Ist der Kaiser oder König weg, von dem man sich derlei nach dem alten Brauch erwartet, so wird der Staat, der darin fortfährt, eher etwas komisch. Er hat dafür ja nie viel Talent gezeigt und sollte sich freuen, es jetzt los zu sein und sich seinen eigentlichen Aufgaben allein zuwenden zu können. In dem Augenblick aber, wo sich unser taat entschließt, fortan nur noch die natürlichen Aufgaben des Staates zu besorgen, wären wir zwei Drittel der neuen Steuern los, weil der Staat dann ja kaum ein Drittel so viel kostet als jetzt. Was sind denn die natürlichen Aufgaben des Staates? Schon der brave alte Adam Smith zählt sie auf: Sorge für Schutz nach außen, also Wehrmacht; Sorge für Sicherheit im Innern, also Polizei; und endlich Sorge für Handel, Gewerbe und Elementarunterricht. Nichts weiter. Es sind auch die drei Dinge, für die der Staat seiner Natur nach begabt ist. Dies kann er leisten. Mischt er sich aber in Geistiges oder in Kunst, gar aber in Sittliches ein, so wird er sogleich dilettantisch. Unser Problem ist jetzt, den Staat aus dem unnützen heillosen kostspieligen Herumdilettieren in allem Möglichen, wovon er nach seiner mechanischen Art nichts ahnen kann, wieder auf sein eigenes Gebiet heimzubringen. Sein Dilettantismus ist allerdings alt genug, er geht auf die Ghibellinm zurück. Die waren die ersten, die dem Staat Macht auch über den Geist anmaßten, wovon sich der Geist ja bis auf den heutigen Tag nie wieder ganz erholt hat. Die Staatsform ihrer Feinde dagegen, die Staatsform der guelfischen Stadtstaaten des mittelalterlichen Italien, die Staatsform des guelfismo popolare war bisher in der Geschichte des Abendlands die einzige, die den Geist frei ließ. »Der guelfische Staat, sagt Hermann Hefele (in seiner bei Reichl in Darmstadt erschienenen Schrift »Der Katholizismus in Deutschland«, worin ein größeres Werk über »Guelfen und Ghibellinen« verheißen wird, das ich nach der Geisteskraft dieser glänzenden Proben mit freudiger Ungeduld erwarte), der guelfische Staat entmaterialisiert die Gesellschaft und die Kultur eben dadurch, daß er dem Staat die einzige Ordnung der materiellen Dinge zuweist und seine Aufgaben und Funktionen auf den bloßen Rechtsschutz einschränkt; das gesamte geistige und kulturelle Leben mit seinen erzieherischen Tendenzen ist der Sphäre staatlicher Vormacht und politischer Bestimmtheit entzogen und dem Gewissen der Gesellschaft und ihrer Tradition überlassen. » Für ein solches guelfisches Gemeinwesen könnten wir die Kosten dieses dann einfach bloß für Militär, Polizei und Kommerz sorgenden, alles andere aber der Gesellschaft überlassenden Staates schon gerade noch aufbringen, und so blüht mir unverbesserlichem Optimisten noch aus unserem Elend doch wieder eine Hoffnung auf, die, daß wir nun, wenn schon nicht aus Einsicht, so doch unter dem Zwang der Not, mit jenem ghibellinischen Staatsschwindel, an dem wir ersticken, doch endlich einmal brechen, uns bescheiden, eine lose Föderation kleiner Stadtstaaten zu werden, und so den von uns verschuldeten Unsegen doch noch in Heil für unsere Kinder wandeln lernen. |
Zusammenfassung Bahr ärgern die Steuern, weil Österreich nicht begreift, dass, wenn man nur mehr ein Bruchteil seiner alten Größe hat, man nicht auf noch größerem Fuß leben kann.
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