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In meiner Arbeit über Pascal, der mir immer mehr zum Stammvater
des Bolschewismus wird, geriet ich an sein Gespräch mit Herrn de Sacy, dem er
Epiktet und Montaigne gewissermaßen als die beiden Pole des nur die menschliche
Vernunft allein gebrauchenden Denkens darstellt, und fand da zu meiner
Verwunderung ein Zitat aus Epiktet, in dem eigentlich schon das ganze Barock
steckt, und gleich auch noch das Szenarium von Calderons gran teatro del mundo.
»Vergiß nicht,« läßt Pascal den Epiktet sagen, »daß du hier wie ein Schauspieler
bist und die Person in einem Stück spielst, die dir der Meister nach seinem
Belieben zugeteilt hat. Ist es eine kurze Rolle, die er dir gibt, spiel sie kurz,
und die lange spiel lang; will er, daß du den Bettler machst, so mußt du’s mit
aller Naivität, deren du fähig bist; und so durchaus. Deine Sache ist, die Rolle
gut zu spielen, die dir zugewiesen worden ist; sie dir auszusuchen, ist nicht
deine Sache, sondern eines andern.« Hier mußte doch, dachte ich, auf den Text
Epiktets im Munde Pascals stark der barocke Sinn des eigenen Zeitalters (wenn
nicht geradezu vielleicht Erinnerung an Calderon) abgefärbt haben und ich
erstaunte sehr, als ich, die Stelle nun beim Epiktet selber nachlesend, sie dort
unverändert vorfand. Pascal hat sie nur ein wenig abgekürzt, der Sinn stimmt. Mit
der deutschen Übersetzung (im 30. Band der Langenscheidischen Bibliothek) und der
lateinischen (in einer alten Ausgabe, in unserer Studienbibliothek, von 1740)
sogar durchaus, im griechischen Urtext bis auf einen gelinden, zunächst ganz
unauffälligen Unterschied in der Interpunktion: das Wort kalos,das in den
Übersetzungen noch in die Funktion des Schauspielers einbezogen wird, wird im
Urtext auf das Konto des Meisters gesetzt, so daß es dort heißt: »deine Sache ist,
die Rolle gut zu spielen; sie dir auszusuchen, die Sache eines anderen«, während
es im Urtext heißt: »deine Sache ist, die Rolle zu spielen, aber die richtige für
dich auszusuchen ist eines anderen Sache.« Dies fiel mir auf, nicht bloß weil es
immerhin den Sinn des Vergleichs doch leise, wenn auch scheinbar unbeträchtlich,
verändert, sondern weil diese Veränderung gerade das berührt, was in mir, vor
Jahren schon, einen solchen inneren Widerspruch gegen Calderons Welttheater so
heftig erregt hatte, daß ich den Entwurf einer Umdichtung schließlich nur deshalb
unausgeführt ließ, weil er doch über meine künstlerischen Mittel ging; denn mein
Atem reicht zwar aus, Calderon umzudenken, nicht aber umzuformen, da hätte man
doch den Hiatus zu kläglich gespürt. Mein innerer Widerspruch gegen Calderon aber
begann dort, wo, nachdem in dem Stück erst die Rollen vom Meister ausgeteilt und
jeder mit der seinen ungefragt versehen worden, worüber der Bettler sogleich
murrt, weil er, was man ihm nicht verdenken kann, lieber die des Königs hätte, wo
zuletzt dann der Prasser vom Meister zur Hölle verdammt wird. Das schien mir gegen
die Abrede, hatte doch der Meister anfangs ausdrücklich verheißen, nach
geschlossenem Spiel an seine Seite zu setzen, »wer’s am besten hat gemacht und
getreu und unverdrossen seiner Rolle Geist erschlossen«. Nun hatte doch, der den
Prasser gab, so gut gepraßt, als man nur irgend prassen kann, und sollte gerade
darum, gerade des Prassens wegen, das er sich ja nicht ausgesucht, das er nur,
nachdem es ihm einmal zugeteilt worden, mit aller Kraft recht nach der Kunst
durchgeführt, gerade weil er die Rolle des Prassers so vorzüglich gespielt, jetzt
statt an die Seite des Meisters gesetzt, vielmehr auf ewig verstoßen sein? Dies
empfand ich als ungerecht. Ich erinnerte mich daran erst heute wieder, beim
heutigen Evangelium: am Donnerstag nach dem zweiten Fastensonntag ist das
Evangelium vom reichen Mann und dem armen Lazarus. Wie da der reiche Mann in
seiner großen Pein der Höllenflammen den Abraham ansieht, ihm doch den Lazarus zu
senden, »daß er seine Fingerspitze ins Waffer tauche und meine Zunge abkühle«,
antwortet Abraham: »Gedenke, Sohn, daß du Gutes empfangen hast in deinem Leben und
Lazarus hingegen Übles; nun aber wird dieser getröstet, und du wirst gepeinigt.«
Das ist einer jener grandiosen Sätze, wie sie nur der Evangelist Lukas hat: gar
nicht erzählend, sondern einfach die Sache selbst hinstellend. Aber macht es uns
nicht schaudern? Und eigentlich erwarten wir, daß der reiche Mann erwidern wird:
»Warum habe ich denn Gutes empfangen in meinem Leben, so daß ich jetzt gepeinigt
werden muß, warum wurde mir denn nicht lieber Übles gegeben in meinem Leben, so
daß ich jetzt auf ewig getröstet würde dafür? Ich habe mir doch jenes Gute nicht
ausgesucht, ich hätte vielleicht das Üble gewählt, wer weiß? Aber ich bin ja gar
nicht gefragt worden!« Und so ließ ich in jenem Entwurf einer Umdichtung Calderons
den Prasser hadern mit dem Meister und sich aufbäumen gegen das Urteil: »Ich hab
mir die Rolle des Prassers nicht ausgesucht, es war nicht meine Wahl, ich bin gar
nicht gefragt worden, ich spielte die Rolle, die man mir gab; ich hätte den
Bettler geradeso gespielt; gerade so gern und gerade so gut, mit ebensoviel
Ergebung und Demut bettelnd, als ich prassend voll Hoffart und Unzucht war. Ich
nahm die Rolle, die man mir gab; und wer kann leugnen, daß ich sie gut gespielt?«
Da spricht die gewaltige Stimme des Meisters: »Zu gut! Verdächtig gut!
Verräterisch gut! Dir ward die Rolle des Prassers zugeteilt, um dein Herz
aufzudecken. Wie du sie gespielt, die Freude, mit der du gepraßt, und daß es dir
möglich war, in dieser Rolle so ganz aufzugehen, dadurch ist dein böses Herz
offenbar geworden. Denn diesen Sinn hat das Spiel der Welt, daß jedem darin eben
die Rolle gegeben wird, an der er zeigen kann, was er sinnt: das ist des bunten
Weltspiels geheimer Ernst« ... Diese meine Wendung scheint mir auch heute noch, wo
die erste Freude des Einfalls längst verraucht ist, im Grunde mehr Calderon als
die Calderons. Auch behält sie durchaus den seltsamen Reiz seiner Erfindung bei,
der recht eigentlich darin besteht, daß immerfort zwischen dem Schein des Theaters
und dem Ernst des Lebens hin und her gewechselt wird, so daß man lange nicht weiß,
ob gemeint ist, dem Theater eine besondere Bedeutung zu geben dadurch, daß es als
ein Sinnbild des Lebens gezeigt wird, oder aber dem Leben eine neue Würde dadurch,
daß es den Rang des Theaters erhält. So geht das Stück zwischen Symbolischem und
Wirklichem immer hin und her, wie denn, wenn der Meister zunächst beim Austeilen
der Rollen als Regisseur des Spiels erscheinend, sich dann als Richter der Welt
enthüllt, auch dies einen im Grunde durchaus realistischen Zug hat: geschieht es
doch Regisseuren auf Proben oft genug, daß ihnen der Schauspieler durch die
Geschicklichkeit, mit der er irgend etwas trifft, menschlich mehr von sich verrät,
als ihm selber lieb ist, man bewundert dann seine Kunst, nimmt sich aber zugleich
im stillen vor, im Leben fortan vor einem Kerl, der derlei so beschämend gut
trifft, lieber auf der Hut zu sein, wodurch man denn auf einmal mitten im Spiel
unwillkürlich schon aus einem ästhetischen Teilnehmer zum sittlichen Richter wird.
Damit hätte nun, daß unser ganzes Leben nichts als ein Spiel ist, worin das
Schicksal jedem seine Rolle zuweist, schon noch einen ganz anderen Sinn, es wäre
dann ein Spiel von besonderer Art, nämlich ein Probespiel, das aber nicht die
Spielkunst des Spielers erproben soll, sondern seinen menschlichen, seinen
sittlichen Wert, in dem es also gar nicht so sehr darauf ankäme, gut zu spielen,
als vielmehr sich auszuspielen, an seiner Rolle sich aufzutun und was man selber
ist, kundzutun, und dies ebensosehr durch das was man von der Rolle trifft, als
durch das was man ihr schuldig bleibt. Die Bühne des Lebens wäre dann doch anders
gemeint als die des Theaters, auf der, wer den König spielt, um so besser ist, je
königlicher er ihn gibt, während ihm auf jener andern nur so weit königlich zu
sein erlaubt ist, als das Sittengebot zuläßt. Und so käme denn auch hier die mir
seit je so liebe Geschichte Herodots von der schönen Agariste wieder zu neuen
Ehren, die mir vor Jahren schon meinen Dialog vom M rsyas eingab. Um Agariste
warben viele, aber Hyppokleides, der anmutigste der Freier, bekam sie schließlich
dennoch nicht, denn er tanzte zu gut, besser als einem freien Manne ziemt. Auch
hier wird also schon über den irdischen Vorzügen ein höherer Wert anerkannt, den
gerade nun auch in diesem irdischen Leben zu bewähren mehr als jeder irdische
Vorzug gilt, ja recht eigentlich der Sinn dieses irdischen Lebens, der Ernst
unseres Spiels in der Welt ist. Und so hätte mein griechischer Text des Epiktet
mit seiner Interpunktion recht und die der lateinischen wie der deutschen
Übersetzung wäre falsch: das » kalos« gehört nicht zum Spieler des Lebens hinüber,
sondern zum Regisseur. Du, Mensch, hast deine Rolle zu spielen; sie gut
auszusuchen ist nicht deine, sondern eines anderen Sache. Du kannst unbesorgt
sein: der andere sucht sie dir gut aus, nämlich so, daß an ihr gerade du, so wie
du nun einmal bist, dartun kannst, was du bist, daß du dich an ihr entscheiden
kannst, für das Gute oder für das Böse in dir, daß du dir an ihr das ewige Leben
oder den ewigen Tod bereiten kannst. Nur wähne nicht, daß es in diesem Spiel das
Spiel gilt, es gilt seinen geheimen Ernst! Wenn du dich freilich an den Applaus
der Welt hältst, kann’s dir übel gehen: der Hippokleides hat zu gut getanzt, der
reiche Prasser hat nur zu gut gepraßt. Womit aber gar nicht gesagt ist, daß nicht
auch einmal ein Prasser in Abrahams Schoß und nicht auch einmal ein Lazarus in die
Hölle gelangt: dies hängt von der inneren Haltung beim Prassen oder Betteln ab.
Jedem wird in diesem Spiel der Welt gerade die Rolle zugeteilt, die gerade die
Verlockungen enthält, an denen er, je nach dem er widersteht oder unterliegt,
erproben kann, was er wert ist. Vergiß nur nicht, daß du daran, wie du die Rolle
spielst, nicht weltliche Macht zu zeigen hast, sondern deine Freiheit von der
Welt! Mir fehlen hier die Hilfsmittel, um festzustellen, ob Calderon den Epiktet
gekannt hat. Doch ich zweifle nicht daran. Ob er aber den griechischen Text
gekannt hat? Er wird ihn in der lateinischen Übersetzung gelesen haben, die »
kalos« mit bene wiedergibt und dieses bene dann auf das Spiel der Rollen, statt
auf ihre Verteilung bezieht, und mag dadurch verlockt worden sein, als er dann den
Epiktet zu dramatisieren unternahm, dem Theatersinn des Vergleichs allzustark
nachzugeben. Daß aber auch Pascal das bene falsch stellt, damit beweist er nur
wieder den Jansenisten, für den ja, bevor noch das Spiel der Welt beginnt, längst
schon alles entschieden, der eine schon bei der Geburt auserwählt, der andere
verdammt, das ganze Spiel sinnlos ist und uns wirklich nichts anderes übrig
bleibt, als daß jeder seine Rolle, der eine die des Auserwählten, der andere die
des Verdammten so gut als möglich spielt, wodurch dann aus dem großen Welttheater
eine recht erbärmliche Komödie wird, eine Komödie von Automaten. | |