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Wer Moritz Benedikt gekannt hat, vermag sich kaum vorzustellen,
daß die grenzenlose Vitalität dieses rings alles in Bewegung setzenden, selber von
Bewegung taumelnden, strotzenden, rauchenden, aber auch überall Bewegung
erregenden, steigernden, beschleunigenden Mannes jetzt still stehen soll! Das
vermessene Wort, daß Bewegung alles sei, das Ziel nichts, recht aus dem Wesen des
Berliner »Betriebs« gesprochen, ist mir niemals so sinnlich gegenwärtig geworden
als beim Anblick dieser grandiosen, ja fast dämonischen Zeitungsexistenz. Wir
hatten miteinander kaum zwei Gedanken und nicht ein einziges Gefühl gemein: alles
was mir am alten Österreich lieb und wert war, schien ihm verdächtig und wofür er
sich erregte, ließ mich kalt. Meine Bewunderung für das Außerordentliche seiner
Erscheinung, für das Geheimnisvolle seiner Wirkung wird dadurch nicht geringer. Es
gelang ihm, sich der letzten Generation des alten Österreich zu bemächtigen, indem
er es verstand, sich ihr unentbehrlich zu machen. Seit etwa fünfundzwanzig Jahren
war die »Neue Freie Presse« dieser eine Mann und ohne die »Neue Freie Presse« zu
leben, schien in dieser Zeit dem richtigen Normalösterreicher undenkbar; er mußte
sich täglich zweimal über Moritz Benedikt ärgern. Von einem adligen Jüngling wird
erzählt, daß er, nach lebhaft verbrachter Jugend bald aller Freuden dieser Welt
überdrüssig geworden, entschlossen, Mönch zu werden, und vor keiner Entbehrung
zurückschreckend, sich doch an der Klosterpforte noch besann, über die Zumutung
empört, das Abonnement der »Neuen Freien Presse« aufzugeben, die natürlich auch er
»gräßlich« fand, aber doch im Dasein eines Österreichers unvermeidlich. Daß sie so
sehr eine Lebensmacht in unserem Lande geworden, mag sie zunächst Friedländer und
Etienne verdanken, die westlichen Journalismus klug den Bedürfnissen des sich
rasch nach Bildungsglanz umsehenden Wiener Bürgertums, und besonders seines dem
Handel benachbarten Teils, anzupassen wußten. Daß sie’s blieb, auch in einer Zeit,
da die Vorherrschaft des »liberalen Gedankens« erschüttert, ja gebrochen, daß
sie’s selbst über ein allmählich schon überhaupt jedem Gedanken entfremdetes und
nur noch durch den Anfall von Impulsen bestimmbares Bürgertum blieb, verdankt sie
Benedikt. Er muß doch irgendwie der letzten Menschenart des alten Österreich
geheimnisvoll tief verwandt und doch auch, um sie so gängeln zu können, wieder
selbst ihr weit überlegen gewesen sein ... Die Redaktion der »Times« hielt sich
einst einen Mann, den sie zuweilen jahrlang spazieren gehen ließ. Denn er war nur
für den Superlativ begabt und wurde darum für die großen Gelegenheiten aufgespart:
nur in den Stunden der Entscheidung, bei nationalem Unglück oder zu hohen Festen,
wenn es galt, mit aufgestauter Kraft einen unerhörten Ton anzuschlagen, ließ man
ihn los; er war gewissermaßen als das Ereignis seines Blattes angestellt.
Benedikt, auch ein solcher geborener Superlativ, ließ sich auf das Kunststück ein,
seinen Abonnenten täglich zweimal ein Ereignis zu liefern, und er hat damit ein
dringendes Bedürfnis erfüllt in einem Land, das von der Maxime Franz Josefs
beherrscht war, Vorgänge welcher Art immer, äußere wie innere, zu verhüten, unter
allen Umständen zu verhüten, um jeden Preis zu verhüten, weil, daß überhaupt etwas
vorging, von vorneherein schon als ein verdächtiges Zeichen und mit dem »System«
unvereinbar galt. Der »Vorgang« an sich wurde von der Obrigkeit wunderlich
überschätzt; kein Wunder, daß ihn dadurch auch der Untertan ganz ebenso
überschätzen lernte. War man oben nur darauf aus, nicht zuzulassen, daß etwas
vorging, so ließ man sich nur desto gieriger unten auf alles ein, womit etwas
vorzugehen versprach. In dem ereignislosen Österreich Franz Josefs war jeder
willkommen, von dem man sich ein Ereignis verhieß. Und aus allem, was immer es
auch war, sogleich ein Ereignis zu machen, Tag für Tag und Jahr um Jahr, ist recht
eigentlich das Geheimnis Benedikts gewesen, es gab nichts, was nicht unter seiner
Hand zum Ereign s wurde; so hat er das stärkste Bedürfnis der letzten
österreichischen Generation erfüllt: über die Leere des langweiligsten Daseins
hinweggetäuscht zu werden durch den Schein fortwährender ungeheurer Aufregung; er
war in einem gewissen Sinne das notwendige Komplement Franz Josefs. Auch der
besten Absicht allein wäre das niemals gelungen, aber es lag offenbar schon in
seiner Natur: er konnte die Dinge gar nicht anders sehen als aufregend. Und wenn
Speidel einmal von Dingelstedt gesagt hat, für diesen habe jede Sache nur insofern
existiert, als sie ein Glanzlicht auf ihn warf, so hat Benedikt umgekehrt alles,
was es auch immer war, nur als eine Gelegenheit für sich gebraucht, ein Glanzlicht
darauf zu werfen. Bald wurde eine Methode, zuletzt fast eine Manie daraus, für die
das Leben überhaupt nur noch aus Ereignissen bestand, fortwährend Unerhörtes
geschah, die Luft voll Drohungen, immer irgendeine Gefahr im Anzug, immer
irgendeine geheime Verschwörung abzuwehren, unser ganzes Dasein ein einziges
ungeheures Abenteuer war, was im Grunde ja auch die Weltanschauung der tragischen
Dichter ist, Shakespeares wie Wagners, deren Anwendung auf ein zum Frühstück und
zur Jause gelesenes Blatt aber freilich zunächst eher fragwürdig scheint, doch für
Österreich durch den Erfolg beglaubigt worden ist und eigentlich ja nicht einmal
so ganz neu war, denn sie geht eigentlich auf Börne zurück. (Die Geschichte der
österreichischen liberalen Presse zeigt immer wieder dasselbe bewegende Motiv: der
Ton Börnes und Heines sucht immer wieder irgendeinen, nie ganz gelingenden
Ausgleich mit den nachhallenden Akzenten der klassischen deutschen Humanität.
Einige Male wird diese Spannung nach der Seite der deutschen Humanität hin
entschieden, das sind dann unsere höchsten Erscheinungen: Emil Kuh, Speidel, Hugo
Wittmann) ... Vor dem Krieg hat Benedikt sein Blatt geraume Zeit vom Semmering aus
redigiert, ein Kunststück ohnegleichen, gar bei seinem Ehrgeiz, sich selber,
seinen Sinn und seinen Ton bis in die letzte Zeile hinein vernehmen zu lassen.
Eben um diese Zeit war auch ich dort, der leise sich ankündigenden Neigung des
Alters zu stadtmüder Einsamkeit und Waldesstille gehorchend. Dies gab mir
Gelegenheit zur Entdeckung, daß in diesem atemlos von der Arbeit gehetzten, ja
fast vom Augenblick verschlungenen Zeitungsmann doch auch ein Mensch enthalten
war. Er ging dort in aller Früh, sobald er telephonisch den Grundriß des
Abendblattes besorgt, eilends im Winterglanz auf den Sonnwendstein, wo dann oben
auch wieder sein erstes war, die Redaktion telephonisch anzufallen, was er, rüstig
heimgekehrt, noch vor dem Essen und dann jede Stunde wieder bis in die Nacht
hinein fast mit einer Art Monomanie wiederholte; ja er hielt es aus, ganze
Feuilletons am Telephon abzuhören und das Merkwürdige war mir, daß er aus diesem
gelinden Wahnsinn dann, statt erschöpft, vielmehr wie von einem erfrischenden Bad
zurückzukehren schien und das unterbrochene Gespräch, das ich inzwischen halb
vergessen hatte, mit einer mir fast unheimlichen Sicherheit sogleich richtig
wieder aufzunehmen eine mir unbegreifliche Kraft der Konzentration besaß. Sein
stupendes Wissen trug er gleichsam in Fächern oder Laden wohlverwahrt mit sich
herum, die er denn nur herauszuziehen hatte, um nach Wunsch alles unter seinem
Buchstaben vorzufinden. Mir, der eigentlich gar nichts weiß, weil ich nichts
behalten kann, was nicht mit mir verwächst, so daß ich, was ich jetzt lese, es sei
denn, daß ich daran mich selber erlebe, stets schon eine Stunde darauf wieder
vergessen habe, kam die Registratur dieses Gehirns, das überhaupt irgend etwas,
das es einmal aufgenommen, je wieder vergessen zu können unfähig schien, oft
geradezu magisch vor, wenn auch von einer sozusagen mechanisierten Magie. Sein
Gedächtnis, mit dem ich, vom Anblick eines solchen Phänomens völlig bezaubert,
gern experimentierte, mir vorher daheim die verwegensten Fragen an ihn aus allen
Gebieten vorbereitend, hat mich immer wieder verblüfft. Ein Buch, das er vor
zwanzig Jahren gelesen, ein Mensch, den er damals gekannt, ein Gespräch von damals
waren ihm noch fast wörtlich gegenwärtig, und besonders seine Kenntnis englischer
Menschen wie Dinge schien unerschöpflich. Wie freilich dies alles eigentlich unter
sich zusammenhing und wie dies alles dann noch mit ihm selber zusammenhing, ist
mir nie klar geworden, ja nicht einmal, ob es überhaupt mit ihm zusammenhing. Er
war mir das merkwürdigste Beispiel eines von sich getrennt lebenden Menschen.
Jenen, von dem der mächtige, gefürchtete, umschmeichelte, umworbene, belogene,
verhaßte, verleumdete, beneidete, verleugnete, zuletzt schon fast legendäre
Zeitungsgewaltmensch getrennt lebte, hab ich erst auf dem Semmering gelegentlich
überrascht. Da kam dann zuweilen unversehens ein kleiner Privatmann aus ihm
hervor, eher fast ein bißchen verlegen, höchst gutmütig, ja bis zur Schwäche, mit
Anwandlungen einer gewissen, nicht sehr tiefen Sentimentalität und von einer halb
rührenden, halb auch fast leise komischen Bewunderung für starke Menschen,
besonders wenn sie groß oder auch nur breit gewachsen waren: eben der Privatmann
aus Mähren. Sogar seine Stimme bekam dann zuweilen den leise singenden mährischen
Klang, wenn er in einem kritischen Gespräch über irgend wen oft auf einmal, die
Augen niederschlagend, beschämt zärtlich gestand: »Ich hab ihn aber gern!?« Leute,
für die das noch ein Argument ist, sind nicht mehr allzu häufig heutzutage. Dieser
Privatmensch aus Mähren, der noch fähig war, einen ganz einfach »gern zu haben«,
trat aber aus dem Tyrannen der »Neuen Freien Presse« jedesmal sogleich hervor,
wenn dann seine Frau, um uns zum Tee zu rufen, in der Tür erschien, wirklich wie
der Waldmüller-Zeit entstiegen, mit einem Schubert-Hauch. Und ich meine, daß, was
für eine Frau jemand hat, doch im Grunde mehr über ihn sagt, als was er selber tut
und läßt, ja vielleicht mehr, als er selber über sich weiß. | |