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Im Märzheft der »Neuen Rundschau« ein bemerkenswerter Aufsatz
von Otto Hoetzsch über »Tschecho-Slowakei und Polen«. Hoetzsch hat schon vor dem
Krieg, als es noch unter Deutschen guter Ton war, von Slawen nichts wissen zu
wollen, Interesse für ihre Probleme gezeigt, er kennt sie nicht bloß, sondern
fühlt auch ihre Bedeutung für uns alle, fühlt, wieviel Zukunft noch in ihnen
steckt und wieviel auch vielleicht von der Zukunft des ganzen Abendlandes. Und
wenn sein Buch über Rußland (bei Georg Reimer in Berlin, 2. Auflage 1917) nicht
tief genug ins Innere des russischen Menschen dringt, so läßt es uns doch die
großen Züge seines dunklen Angesichts erblicken: wir sehen das neue Rußland
entstehen, staatlich, wirtschaftlich und geistig, sehen es neue treibende Kräfte
entfesseln, ohne sich zur rechten Zeit neuer bindender Kräfte zu versichern, und
so wächst es zu einer Größe, der es dann, die sich selber dann schließlich nicht
mehr gewachsen war. Das Buch enthält sehr viel Material, gut gesichtet und
gegliedert, und wer sich dazu noch das Anonyme russischen Wesens und den Hauch von
Ewigkeit an allen russischen Menschen und russischen Dingen aus eigener Anschauung
oder aus Masaryks »Rußland und Europa« (zwei Bände bei Eugen Diederichs in Jena),
am besten freilich aus dem Brunnen Dostojewskis zu supplieren weiß, dem wird es
ein immer wieder angerufener, immer wieder aushelfender Berater sein. Es lohnt
sich, Hoetzsch nun auch über Tschechen und Polen zu hören. Bei jenen sieht er
»eine neue Bühne für die geistige Bewegung im Slawentum aufgetan«, das
deutsch-tschechische Problem scheint ihm »nicht nur das wichtigste für das innere
Staatsleben Böhmens, sondern geradezu von weltpolitischer Bedeutung« und er
bedauert, »daß die Deutschböhmen auch heute über Führer größeren Stils nicht
verfügen, daß sie das alte österreichische Parteigezänk, die Parteizersplitterung
und Studentenpolitik weiter treiben ohne Programm«. Doch traut er Masaryk und
seinem Mitarbeiter Benesch, dessen »wohlwollende Umsicht gegen Österreich und die
Madyaren er rühmt wie seine korrekte Haltung gegen Deutschland«, die Willenskraft
zu, »ein Verhältnis zum Deutschtum« zu finden, das ihm vor allem auch für
Deutschland »notwendig« scheint. »Wir haben uns zu wenig um das nüchtere und zähe
Volk der Tschechen gekümmert, das von allen slawischen Völkern unserem Denken am
nächsten steht. Ihr Land ist und bleibt für uns die Brücke nach Südosten ... Heute
und künftig sind solche Beziehungen nach der Donau und dem Südosten, nach Balkan
und Türkei ohne ein gutes Verhältnis zum böhmischen Staate überhaupt undenkbar.«
Pannwitz‹ glänzende Schrift »Der Geist der Tschechen« (Verlag Der Friede, Wien
1919) wird aus dem Visionären hier von Hoetzsch in praktische Politik übersetzt.
Von den Polen, die er für »politisch nicht so reif wie die Tschechen«, aber »den
Deutschen politisch weit überlegen« hält, und ihrer »Bauerndemokratie«, die, schon
um Frankreichs und Englands willen, »die Barriere zwischen Deutschland und Rußland
zu bilden« übernehmen wird, kann er sich ein solches Verhältnis zu Deutschland
nicht versprechen: »Wir halten eine Verständigung mit der Tschecho-Slowakei für
möglich und notwendig. Wir halten eine Verständigung mit dem neuen polnischen
Staate auch für erstrebenswert, aber nicht für möglich.« Dasselbe Heft enthält
übrigens noch einen zweiten Aufsatz über Rußland, der allein schon durch die
Tatsache, daß sein Verfasser Hermann Hesse, diese liebe letzte Stimme
Traumdeutschlands, sich jemals im Leben genötigt fühlen konnte, mit Rußland
abzurechnen, erstaunlich ist. »Die Brüder Karamasow oder der Untergang Europas«
heißt der Aufsatz, der mich mit neuer Liebe zur rührenden Gestalt seines Dichters,
zugleich aber mit einer grimmigen Wut, Dostojewski durch ein so grobes
Mißverstehen geschändet zu sehen, erfüllt, ja mit einem wahren Entsetzen: denn
wenn es möglich ist, daß ein so rein gewillter, so hochgesinnter Mann und ein
Dichter noch dazu das offenbare Geheimnis eines gewaltigen Leb nswerkes, des
gewaltigsten seit Balzac, so grauenhaft verkennen kann, wer will sich da jemals
wieder an das dann eben doch durchaus sinnlose Geschäft des Schreibens wagen? Ich
habe niemals im Leben einen Aufsatz mit solcher anhaltender Verneinung eines jeden
einzelnen Satzes gelesen, und mit solcher Lust, mein Tintenfaß dem Versucher an
seinen Kopf, auf den er die Wahrheit stellt, zu werfen! ... Hesse bekennt
zunächst, selbst an den Untergang Europas zu glauben, und gerade »an den Untergang
des geistigen Europa«. Den meint er in Dostojewski »mit ungeheurer Deutlichkeit
ausgedrückt und vorausverkündet. Daß die europäische, zumal die deutsche Jugend
Dostojewski als ihren großen Schriftsteller empfindet, nicht Goethe, auch nicht
einmal Nietzsche, das scheint mir für unser Schicksal entscheidend ... Das Ideal
der »Karamasows«, ein uraltes asiatisch-okkultes Ideal, beginnt europäisch zu
werden, beginnt den Geist aufzufressen.« Auch ich habe dunkle Stunden der Furcht
für Europa. Doch dann ist es immer wieder gerade Dostojewski, der mich ermannt,
und es ist das »Ideal« der Karamasow, von dem ich mir die Wiedergeburt des
Abendlands, die Heimkehr des Geistes in ein neues Barock erhoffen will. Was aber
ist mir das »Ideal«, das in allen Werken Dostojewskis, niemals aber mächtiger als
in den Karamasow erscheint? Die Versicherung der Wirklichkeit von Gut und Böse.
Daß es ein Reich des Guten, Schönen, Wahren gibt, auch außer uns und über uns und
gegen uns, selbst ohne uns, ja wenn wir auch gar nicht wären, und jedenfalls
unserer Meinung, unserem Willen, unserer Zustimmung entrückt, aus sich und an sich
von Ewigkeit da, das Sein selbst, an dem jeder von uns nur insoweit erst
teilnimmt, als er es durch seinen Glauben und seine Tat anerkennt; dann erst,
daran erst sind wir. Und ich weiß seit Goethe und Wagner keinen Künstler, der es
gewaltiger anerkannt, ja der die Gegenwart des ewigen Guten, Schönen, Wahren so
hellfühlend auch noch in ihren letzten Verborgenheiten an verlorenen Menschen
aufgespürt und mit solcher Seligkeit verkündigt hätte wie Dostojewski, der dann
auch noch eben in dieser Verkündigung von Gut und Böse die Weltsendung seines
Volkes erkennen zu müssen meinte. Was aber ist für Hesse »das asiatische Ideal«,
das er bei Dostojewski findet und das sich durch Dostojewski jetzt zur Eroberung
Europas anschickt? Darauf antwortet Hesse: »Es ist, kurz gesagt, die Abkehr von
jeder festgelegten Ethik und Moral zugunsten eines Allesverstehens,
Allesgeltenlassens, einer neuen, gefährlichen, grausigen Heiligkeit, wie sie der
Greis Sofima vorverkündigt, wie sie Alescha lebt, wie sie Dimitri und noch weit
mehr Iwan Karamasow bis zur deutlichsten Bewußtheit aussprechen ... Das »neue
Ideal«, von welchem der europäische Geist in seinen Wurzeln bedroht ist, scheint
ein völlig amoralisches Denken und Empfinden zu sein, eine Fähigkeit, das
Göttliche, Notwendige, Schicksalhafte auch noch im Bösesten, auch noch im
Häßlichsten zu erfühlen, und auch vor ihm noch Hochachtung und Gottesdienst
darzubringen, ja gerade vor ihm besonders ... Der »russische Mensch (den wir
längst auch schon in Deutschland haben) ist weder mit dem »Hysteriker« noch mit
dem Säufer oder Verbrecher, noch mit dem Dichter und Heiligen irgendwie
bezeichnet, sondern einzig mit dem Nebeneinander, mit dem Zugleich all dieser
Eigenschaften, der Karamasow ist Mörder und Richter zugleich, Rohling und zarteste
Seele zugleich, er ist ebenso der vollkommenste Egoist wie der Held vollkommenster
Aufopferung. Ihm kommen wir nicht bei von einem europäischen, von einem festen,
moralischen, ethischen, dogmatischen Standpunkt aus. In diesem Menschen ist außen
und innen, Gut und Böse, Gott und Satan beieinander.« Wer von uns beiden hat nun
recht? Kann Hesse nicht lesen oder kann ich es nicht? Ist Dostojewski jenseits von
Gut und Böse wie Nietzsche? Denn darauf geht Hesses Anklage ja hinaus! Suarès,
unter allen Franzosen der tiefste Kenner Dostojewskis, sagt: »En Dostojewski,
j’admire un Nietzsche racheté«. Und Maria Maresch (in »Der russische Men ch«,
Verlag Tyrolia) sagt: »Der russische Mensch ist Nietzsches Überwinder«. Und Josef
Leo Seifert sagt (in einem mich sehr stark berührenden, auch meine »Synthese
zwischen West und Ost« erhoffenden, sich durchaus zur katholischen Kirche
bekennenden Aufsatz im Januarheft der überhaupt höchst merkwürdigen Wiener
Zeitschrift: »Der Strahl«, Verlag Bund der geistig Tätigen): »Der Westen suchte
die Freiheit, das Verbotene als erlaubt anzusehen, und brachte es schließlich zur
völligen »Emanzipation« von dem Sittengesetz des Geistes – allerdings mehr
theoretisch – im Marxismus sowohl wie im Positivismus. Der Slawe hat sich dagegen
den Begriff des Gegensatzes von Gut und Böse scharf gewahrt, wie denn auch
nirgends ein so ernstgemeinter Rigorismus zutage trat wie bei den slawischen
Sekten. In seinem Kampf um Gewissensfreiheit wehrte er sich dagegen, eben das Böse
für gut und das Gute für böse ansehen zu lernen.« Schon als Russe, und gar als ein
Russe, der seine Lebenskraft darin fand, so durchaus russisch als nur irgend
möglich zu sein, war Dostojewski unfähig, den Unterschied zwischen Gut und Böse zu
leugnen oder auch nur zu verwischen oder gar Gut und Böse zu vermischen: gerade
dies hat er doch an den »Westlern« so furchtbar gehaßt! »Sie haben den Unterschied
von Gut und Böse verloren,« klagt sein Schatow. Und in seiner »Auseinandersetzung«
mit Gradowskij, dem »Westler«, der »Aufklärung« für das russische Volk verlangt
und dem er nun mit einer grandiosen Einfalt erwidert, es brauche sie nicht, weil
es etwas Besseres hat: das Christentum, sagt Dostojewski selbst, nicht durch den
Mund einer seiner Gestalten, sondern im eigenen Namen geradezu (zwölfter Band der
sämtlichen Werke bei R. Piper, München): »Mag immerhin unserem Volk Tierisches und
Sündhaftes anhaften, eines aber hat es zweifellos; daß ist, daß es wenigstens, als
Ganzes genommen (und nicht nur im Ideal, sondern in der wirklichsten Wirklichkeit)
seine Sünde niemals für das Richtige gehalten hat, hält oder halten wird, auch
niemals den Wunsch empfinden wird, sie dafür zu halten! Es sündigt, aber früher
oder später sagt es doch: ich habe gefehlt ... Die Sünde ist etwas
Vorübergehendes, Vergängliches, Christus aber ist ewig. Das Volk sündigt stündlich
und treibt Unfug, aber in besseren Stunden, in den Stunden Christi verwechselt es
nie Recht mit Unrecht.« Hier wurzelt der Glaube Dostojewskis an sein Volk, von dem
allein er sich noch die Rettung der Welt verspricht, seit er überall in Europa,
dessen Fläche, das obenauf schwimmende Treiben der Zweifler und Leugner allein,
nicht aber die geheimen in der Tiefe waltenden Mächte sich ihm zeigten, das
Element des Menschenlebens: den Unterschied zwischen Gut und Böse wanken sah. Auch
er hat vor fünfzig Jahren schon an den Untergang, den »Bankrott« Europas geglaubt
(im »Jüngling«, siebenter Band der Piperschen Ausgabe, Seite 293), das ihm, wie
der Iwan Karamasow sagt, nur noch »ein Friedhof« schien, ein »teuerster,
allerteuerster Friedhof, aber längst schon ein Friedhof und auf keinen Fall mehr
als das.« Und eben um derselben ewigen Güter willen, für die jetzt Hesse vor dem
russischen Menschen so bangt, war Dostojewski so bang vor Europa. Darum schien ihm
jeder Russe, der Europäer ward, ein »natürlicher Feind Rußlands«, ja schon »jede
Berührung mit Europa schädlich und demoralisierend«, weil ihm Rußland etwas war,
»das Europa nicht im geringsten gleicht«, nämlich »der Hüter der Wahrheit Christi«
(in den »Politischen Schriften«, Band der Piperschen Ausgabe, Seite 189, 190 und
191). Mit Novalis, für den Europa noch die Christenheit war, hätte sich der Russe
Dostojewskis verständigen können, er kann es nicht mit dem Europa des
Übermenschen, an dem ihm eben jenes »Nebeneinander« und »Zugleich« aller
Eigenschaften, eben jene »Bereitschaft, jederzeit jede Eigenschaft annehmen zu
können«, wovor jetzt Hesse zurückschaudert, bis ins Mark seiner Seele verhaßt
sind. Was Hesse so verabscheut, ist, gewaltiger noch als in den Karamasow, schon
einmal im »Jüngling« ausgesprochen: Ich weiß doch, daß ich unendlich stark bin,
eben durch diese unmittelbare Kraft der Verträglichkeit mit allem, was es auch
sei, die allen klugen Russen unserer Generation in so hohem Maße eigen ist ... Ich
kann auf die allerbequemste Weise zwei entgegengesetzte Gefühle zu gleicher Zeit
empfinden – und das, versteht sich, doch nicht aus eigenem Willen. Aber
nichtsdestoweniger weiß ich, daß das ehrlos ist, vor allem deshalb, weil es gar zu
einsichtsvoll ist.« Aber wen läßt Dostojewski so sprechen? Seinen Werssilow, einen
Westler, einen jener entwurzelten, an Europa verfallenen, das angestammte Wesen
verratenden Unrussen, »klugen«, allzu klugen, europäisch klugen Russen wie
Kirillow, Iwan Karamasow, Rogoschin, Raskolnikow, Swidrigailow, lauter Leuten, die
fortwährend »ins Ausland reisen wollen«, die »keinen Verbleib mehr haben« (auch
das Untier Smerdjakow steht in dieser fruchtbaren Reihe!), die gar nicht der
russischen Wirklichkeit angehören, sondern nur ein europäischer Spuk sind,
»Traumgestalten«, wie Mereschkowski einmal gesagt hat, »Traumgestalten in dem
grausamen, realen und zugleich phantastischen Traum, den der eherne Reiter jetzt
schon zwei Jahrhunderte lang träumt«. Aus diesem entsetzlichen Traum will
Dostojewski das russische Volk erwecken: zur einzigen Realität, die es für ihn im
Grunde gibt, zur Realität der zehn Gebote. »Lies die zehn Gebote – da ist alles
auf ewig niedergeschrieben. Erfülle sie nur, trotz all deiner Fragen und Zweifel,
und du wirst ein großer Mensch sein.« Denn für Dostojewski gilt durchaus, was sein
Freund Wladimir Solowjew, der Übersetzer Kants, der an Plotin, den Kirchenvätern,
der deutschen Mystik, Schelling und Baader gebildete, der katholischen Kirche nahe
Philosoph (den Harry Köhler verdeutscht hat, bei Eugen Diederichs in Jena) einmal
an Strachow schrieb: »Ich glaube nicht nur an alles Übernatürliche, sondern, genau
gesprochen, ich glaube eben nur an dieses.« Ja darin ist eigentlich das Innerste
Dostojewskis enthalten: auch er hat erst vom Erlebnis des Übernatürlichen aus, vom
Erlebnis Christi, dann allmählich auch ein Verhältnis zu seinem eigenen Leben, ein
Verhältnis zur Natur gefunden. Was Suarès einmal sehr gut formuliert hat: »De la
douleur l’amour conclut en lui à la beauté de la vie.« Darum kennen im Grunde
seine Werke nur ein einziges Thema: den Kampf zwischen Gut und Böse, den Kampf zur
Entscheidung für das Gute. Er weiß, daß auch im besten Menschen ein Scheusal
steckt (der heilige Franziskus hörte nicht auf, sich immer noch den schlechtesten
der Menschen zu nennen). Und er weiß auch noch ein tiefes Geheimnis, dem Novalis
einmal nahe kommt, mit den allerdings leicht mißdeutlichen Worten: »Die Sünde ist
der große Reiz für die Liebe der Gottheit. Je sündiger man sich fühlt, desto
christlicher ist man.« Gemeint ist damit ganz dasselbe, was Dmitri zuletzt zu
Aljoscha sagt: »Brüder, ich habe in diesen zwei Monaten einen neuen Menschen in
mir entdeckt, ein neuer Mensch ist in mir auferstanden! Dieser Mensch war immer in
mir verborgen, doch es wäre mir nie zum Bewußtsein gekommen, daß ich ihn in mir
trug, wenn Gott nicht dieses Gewitter geschickt hätte.« Solche Gewitter Gottes
sind alle Romane Dostojewskis und ich weiß in der ganzen Literatur seit Balzac
keine Gestalt, durch die der sittliche Gehalt unserer abendländischen
nordsüdlichen westöstlichen Kultur so vollkommen ausgedrückt wäre wie durch diesen
Dmitri und die Gruschenka in den Karamasow. Wer das noch nicht weiß, mag es von
Wolynski lernen, dem schöpferischen Kritiker der mit Tschechow beginnenden, als
»Dekadenz« doch eigentlich ganz unzureichend etikettierten, eher prophetisch zu
nennenden Gruppe, dessen »Reich der Karamasow«, schon vor zwanzig Jahren verfaßt,
nun endlich, längst ungeduldig erwartet, jetzt auch deutsch bei Piper in München
erscheint. Es ist ein Meisterwerk, das den Vergleich mit dem Höchsten dieser Art
aushält. Hier wird ein Kunstwerk nicht umschrieben oder nacherzählt oder
analysiert, hier ist es selber noch einmal produktiv geworden, es ird ein neues
Stück Leben daraus. Thomas Mann sprach neulich vom »neuen Typus des intellektualen
Romans«, wofür er als Beispiele Bertrams Nietzsche-Buch und die Werke Spenglers
und Keyserlings nannte. Dahin gehört auch Wolynskis beseelte Schrift, in der das
Schicksal der Karamasow sozusagen zum Mythos zugleich gesteigert, aber auch
beruhigt wird; und so tritt aus dem Flammenrauch nun erst ihre Gestalt in voller
Reine hervor. Vielleicht lehrt das herrliche Buch auch Hesse, den lieben sanften
Dichter, verstehen, daß die Karamasow nicht der Untergang Europas sind, sondern
ein Aufgang. Wolynski sagt: »Die Kulturvölker Europas mit ihrer ganzen
komplizierten, Jahrhunderte alten Zivilisation stehen in einer sklavischen
Abhängigkeit vom histostorischen Prozeß und haben in dieser Sklaverei jeden
Instinkt für die endgültigen Wahrheiten verloren, die alles plötzlich zum
Stillstand bringen, um alles zu ändern. Aber Rußland steht in seiner naiven
Kulturlosigkeit diesen Wahrheiten besonders nahe und kehrt durch die wahnsinnigen
Ekstasen seiner großen Dichter immer wieder zu ihnen zurück.« Das ist es doch
auch, was mich so stark auf ein neues Barock hoffen läßt, ein zweites, auch wieder
in jedem Sinne katholisches Barock, ein Barock, das ins erste nun auch noch Walt
Whitman mit Dostojewski hineinzunehmen die weltumspannende Seelenkraft hätte!
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