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Wie seit Jahren in der Karwoche lese ich auch heuer wieder das
bittere Leiden unseres Herrn nach den Betrachtungen der gottseligen Anna Katharina
Emmerich in der Niederschrift Brentanos. Daß die fromme Magd durch den Mund des
innigsten Dichters spricht, gibt dem seltsamen Buch seinen so ganz eigenen Reiz.
»Ein frommes, Andacht, mitunter auch Graus und wieder Lächeln erregendes
altdeutsches Bild« hat es Diepenbrock genannt, und in eben diesem Brief an Görres
(ich zitiere nach der Einleitung Öhls zum vierzehnten Band der schönen, leider nun
seit Jahren stockenden, von Schüddekopf geführten Gesamtausgabe Brentanos bei
Georg Müller in München 1912) fährt er fort: »Aus vielen Gesichtern und Gesichten
schaut mir der Clemens gar so leibhaftig hervor.« Clemens hat das selber gar nicht
geleugnet, er gab zu, daß er »nach Pater Kochem und Ähnlichen die Gesichte
verbunden«. So sehr es nun aber ein Glück ist, daß die Gehilfen, denen die heilige
Angela von Foligno, denen die heilige Theresa ihre Gesichte diktierte, bloß
redliche Schreiber waren und keine Dichter, den »Fastenbetrachtungen« der guten
Emmerich, die selbst »ihren Anschauungen nie einen wirklichen historischen Wert«
zuschrieb, hat die steigernde, wenn auch zuweilen unwillkürlich leise fälschende
Nachhilfe des bald von ihr emporgezogenen, bald wieder selber sie beflügelnden
Dichters weiter kein Leid getan. Es ist der schönste Fall einer
Gebetsfreundschaft, wo die beiden in Gott verbundenen einander so viel geben, daß
zuletzt keins mehr sagen kann, was davon ihm, was dem anderen und was der Gnade
von oben gehört. Das Landmädchen selber, wenn es so bei der Arbeit im Garten steht
und es kommen die Vögel geflogen, setzen sich auf den Kopf und die Schultern der
Magd und sie lobsingen dann zusammen Gott, ist ja schon lebende Legende; der
Clemens macht nun nur noch ein Volkslied daraus. Aber wenn er an Verstandeskraft
und Wortgewalt über ihr steht, wie weit bleibt er menschlich hinter einem Wesen
zurück, das sagen durfte: »Ruhig leiden zu können ist mir immer als der
beneidenswerteste Zustand des Menschen erschienen.« Und sie lag im Sterben, als
sie, noch einmal zurückblickend, mit der Wahrhaftigkeit der letzten Stunde
beteuern konnte: »Es ist kein Mensch auf Erden, gegen den ich etwas hätte.« ...
Sie wurde 1774 geboren, drei Monate bevor Susanna Katharina von Klettenberg starb,
die Freundin Goethes, die »schöne Seele« der Lehrjahre, das Urbild Makariens in
den Wanderjahren. Diese beiden Katharinen, der Zeit und dem Ort nach einander so
nah, an äußerem und innerem Stand einander so fern und doch in ihrer letzten
Sehnsucht wieder einander höchst geheimnisvoll verwandt, zu vergleichen, das
Bauernkind mit dem Stadtfräulein, die Augustinerin mit der Herrnhuterin, die
Gefährtin Brentanos mit der Freundin Lavaters, eigentlich also die beiden Enden
jener deutschen Welt, wie muß das meinem eingebornen Sinn für Polarität behagen!
Die Klettenberg ist, in ihren Briefen und ihren eigenen Schriften vielleicht noch
mehr als in der Darstellung Goethes, die reinste Gestalt protestantischer
Seelenkultur im XVIII. Jahrhundert, ja vielleicht die reinste Gestalt, deren
protestantische Seelenkultur überhaupt fähig ist. Die katholische Gegenfigur dazu
wäre die Fürstin Galitzin, Hemsterhuis‹ Diotima (ich vermute, daß sich Goethe von
ihr Züge Nataliens geborgt hat). Die Emmerich dagegen, die holde Blüte
katholischer Natur, ist an katholischer Kultur ganz arm. Den Drang zu Gott hat die
westfälische Bauernmagd mit dem Frankfurter Edelfräulein gemein, und wenn Schiller
»den eigentümlichen Charakterzug des Christentums in der Aufhebung des Gesetzes
oder kantischen Imperativs« sieht, »an dessen Stelle das Christentum eine freie
Neigung gesetzt haben will« (was im Grunde nicht ganz stimmt, aber eine Wirkung,
ein Ergebnis des Lebens unter dem christlichen Gesetze gut ausdrückt), so sind
beide, die Klettenberg wie die Emmerich, dieser Verwandlung des sittlich Gebotenen
in eigenen Affekt, des mahnenden Gewissens in eine zweite Natur sehr nahe
gekommen. Aber wenn ie darin einander gleichen, scheidet sie, daß in der
Klettenberg jedes Erlebnis zunächst zur Reflexion und erst in der Verdünnung durch
Reflexion zum inneren Besitz wird, während jedes innere Erlebnis der Emmerich von
selbst sogleich Gestalt annimmt: sie kann gar nichts empfinden, so wird es ihr
schon zum Gesicht; was sie denkt, fühlt oder will, erscheint ihr sogleich. Die
Klettenberg aber ist von einer innerlich augenlosen Rasse, die selbst, was sie mit
den Augen des Leibes sieht, dann immer erst, um es sich auch innerlich aneignen zu
können, sozusagen abblenden, immer von allem Gesehenen erst wieder absehen muß, um
es bedenken zu können, um es sich vor dem Verstand rechtfertigen zu lassen, der
allein erst den Erscheinungen, äußeren oder inneren, dann auch zu erscheinen
erlaubt, während für den angebornen inneren Augenschein der Emmerich alles, was
ihr gewiß ist, sich von selbst auch schon Gestalt gibt oder nimmt: sie kann
überhaupt gar nichts denken, ohne daß es sich ihr sogleich zeigt, und es ist sehr
schade, daß Goethe sie nicht gekannt hat, der ganz von derselben Geistesart war,
der auch, sobald er sich zum Gedanken der Urpflanze genötigt fand, diese gleich
mit Augen sah und gar nicht begreifen konnte, was der innerlich augenlose Schiller
mit seiner reinlichen Scheidung der Erfahrung und der Idee denn überhaupt
eigentlich von ihm wollte. Diese Begabung mit inneren Augen, mit dem »dritten
Auge«, wie man es genannt hat, in Städten so selten, gar dem Bürgertum ganz fremd,
ist im Landvolk noch unverkümmert, besonders dort, wo katholische Tradition noch
stark genug ist, der entbildenden Wirkung bürgerlichen, bloß den Verstand
pflegenden und sich mit Wortdressur begnügenden Unterrichts entgegenzuwirken; nur
soweit wir Bauernvolk geblieben sind, sind wir noch Griechen. (Damit ist nur eine
Wirklichkeit ausgesprochen, aber eine freilich, die Schulmeister rasend machen
kann.) Natürlich müssen diese beiden Rassen, die der zwiefachen Augenmenschen und
die der innerlich Augenlosen, einander durchaus mißverstehen, ja es gibt im Grunde
nichts, worüber sich jene, die nur in Gestalten denkt, sich irgendwie mit dieser,
die durch Gedanken erst sieht, im mindesten verständigen könnte, da jeder dasselbe
Wort doch einen ganz anderen Sinn ergibt. Hier wurzelt auch der ewige Vorwurf des
protestantischen Bürgers, es fehle dem Katholiken an »Innerlichkeit«. Denn die
Katholiken, die der protestantische Bürger kennt, sind meistens Landvolk, durch
dessen angeborene Sehkraft alles Innere sogleich Gestalt annimmt und zum Bilde
wird. Dem protestantischen Städter aber ist Sehen immer schon Äußeres und wer
einwärts kein Auge hat, ahnt ja nicht, daß es, so paradox ihm das klingen mag, in
uns ja noch eine zweite Sinnlichkeit gibt, nämlich, wenn auch seit dem Ende des
Barocks durch Ungebrauch verkümmernd (in Goethe noch ganz lebendig: was er
»wissenschaftliches Beschauen«, was er »die Region, wo Metaphysik und
Naturgeschichte übereinandergreifen, also wo der ernste treue Forscher am liebsten
verweilt«, nennt, und sein Begriff einer Naturwissenschaft »mit Geist und Gemüt«,
ja »mit allen liebenden verehrenden frommen Kräften« beruht darauf, und auch noch
Francis Galton, der Eugeniker, hat sie gerade so bezeugt wie schon Johannes
Müller, der Vater der Histologie, der Lehrer Virchows und Haeckels) eine
Sinnlichkeit des Geistes, daß es eine sozusagen metaphysische Sinnlichkeit gibt,
mit Organen für unser inneres Geheimnis, ja für das Übernatürliche selbst, die nur
freilich das Übernatürliche nicht nach ihrer eigenen Willkür berühren können,
sondern dazu seine Hilfe brauchen: wie das Auge des Leibes, nach Goethes Wort,
»sich am Licht fürs Licht bildet«, wie das Auge des Leibes, damit das in ihm
ruhende Licht erwache, durch das Licht von außen erst geweckt werden muß, so das
Auge der Seele durch das Licht von oben. Aber nicht bloß ihre Sehkraft hat die
Seele, sondern auch ihren eigenen Hörsinn und ihren eigenen Tastsinn ... Der
Beuroner Pater Alois Mager hat jüngst in einem seiner prachtvollen Aufsät e der
»Benediktinischen Monatsschrift«, in welchen zum erstenmal versucht wird, das
Wesen mystischen Erlebens wissenschaftlich zu bestimmen, seine sämtlichen
Erscheinungen zu beschreiben, die derselben Art zu verbinden, die einander fremden
zu sondern und so die Vorarbeit zu tun, durch die eine »Wissenschaft der Mystik«
überhaupt erst möglich wird (die dann ihr Material etwa von dem trotz seiner
Freundschaft mit Strindberg auch den »Gebildeten« unverdächtigen Karl Ludwig
Schleich, den Entdecker der lokalen Anästhesie, verhören lassen könnte), auf die
Schriften des Johannes vom heiligen Thomas hingewiesen, eines Spaniers, der von
1589 bis 1644 gelebt, also die heilige Theresa nicht mehr von Angesicht, natürlich
aber ihre Werke, das höchste Beispiel katholischer Mystik und vielleicht überhaupt
den reinsten Ausdruck der Liebe, gekannt und nun mit dem unerbittlichen Verlangen
des Aristotelikers nach reiner Ordnung und strenger Konsequenz, was denn nun
eigentlich mystisch zu heißen verdiene, gefragt hat. Er scheidet es vom einfachen
Tugendleben dadurch, daß, während er dieses »in einer aus inwendiger
Ursächlichkeit quellender Bewegung«, einer Bewegung also, die wir selber aus
eigener Kraft vermögen, sieht, jenes nicht aus uns selbst, sondern von oben bewegt
wird. Und er schränkt mystisches Erleben wesentlich auf eine »fühlbare Berührung«
ein: es bringt »in Kontakt« mit der Ewigkeit. Wer es erlebt, ist fortan der
Übernatur unmittelbar gewiß, doch ohne von ihr mehr als eben diese Gewißheit
aussagen zu können, er hat Erfahrung von ihr, aber nicht Erkenntnis. Daher kann
mystisches Erleben den Glauben nur bestätigen, nicht aber ersetzen, noch
entbehren. Es gibt uns nur die Gewähr für die »Tatsache« dieser uns sonst
verschlossenen Welt; und vielleicht doch auch eine Verheißung, fortan von ihr
berührt zu bleiben, und manchen vielleicht auch die Kraft, diese »Tatsache« der
von ihnen ganz unmittelbar erlebten Übernatur zu bezeugen durch Gleichnisse von
ihr im Natürlichen, Gleichnisse der eigenen Tat, wie die Heiligen, oder
Gleichnisse des eigenen Werkes, wie jene ganz seltsamen Künstler, die von allem,
was sonst Kunst heißt, unbegreiflich weit wegstehen, obwohl sie ja dieselben
Ausdrucksmittel gebrauchen. Der Gewaltigste dieser hohen Kunst, den wir Deutschen
haben, ist Matthias Grünewald, und erst wenn man annimmt, daß ihm der Isenheimer
Altar geradezu sozusagen in die Hand diktiert worden ist, kann man auch die
Vermessenheit begreifen, mit der der Meister sich getrost seiner Subjektivität
durchaus überlassen konnte: nur im sichersten Gefühl vollkommener innerer Bindung.
Nur der innerlich ganz Gebundene darf sich ja völliger Freiheit von dieser Welt
erkühnen, sie hat keine Gewalt mehr über ihn. Niemals ist diese Freiheit des
Gläubigen mächtiger den Augen verkündet worden als von Grünewald. Im Genter Altar
ist die Empfindung des Malers noch Übernatur, gleichsam ganz Natur; sie halten zu
jener Zeit noch Eintracht. Aber dem Isenheimer fühlt man an, daß die Wahrheit
schon insgeheim bedroht wird: da rafft dieser Allemanne noch einmal ihre ganze
Kraft in sich zusammen. Höher ist deutsche Kunst niemals gelangt. Ich habe mich in
diesen dunklen Tagen der Karwoche wieder ganz dem Isenheimer ergeben. Da steht er
vor mir, in den meisterhaften Reproduktionen, die Piper in München zunächst für
Oskar Hagens wegweisendes Buch aufnehmen ließ und dann, während sie für dieses
Buch verkleinert worden waren, in voller Größe noch als eigene Mappe herausgab.
Kein schöneres Geschenk hat unserer Nation jemals ein Verleger gemacht, ein
Abschiedsgeschenk, denn auch den Isenheimer Altar haben wir ja jetzt verloren.
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