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Am 20. März waren es hundertfünfzig Jahre, daß Hölderlin geboren
wurde. Man hat in Deutschland nicht viel Aufhebens davon gemacht. Novalis und
Hölderlin, unsere beiden tiefsten Dichterdenker nach Goethe, die einzigen seiner
voraussehenden und voraussagenden Art, sind heute noch ganz ebenso unbekannt, wie
sie zeitlebens unbemerkt blieben. Der Deutsche macht von Goethes Farbenlehre,
Novalis‹ Fragmenten und Hölderlins Hyperion, den weisesten Büchern der letzten
zweihundert Jahre, Büchern, die das Geheimnis deutschen Weltgefühls enthalten,
keinen Gebrauch; es bleibt in ihnen begraben. Was seitdem unter uns erschien, ist
immer nur genau soviel wert, als es sich, der Form oder dem Gehalt nach, bewußt
oder unbewußt ihnen nähert: am reinsten Stifter im »Nachsommer«, aufs tiefste
Wagner im »Tristan«, in den »Meistersingern« und im »Parsifal«, sehnsüchtigst
zuweilen Hugo Wolf und Gustav Mahler. Denn es ist das Geheimnis der großen Form,
das in diesen weisesten Büchern ruht; und das Geheimnis der großen Form schließt
sich keiner Erkenntnis auf, sondern nur der Liebe: »Liebend gibt der Sterbliche
vom Besten«, sagt Hölderlin und vielleicht kann überhaupt nur wer liebt, erst
geben; lieben ist geben, sich geben, sich ergeben (und dies in jedem erdenklichen
Sinne von Ergebung). Auch Nietzsche, der jenes Hölderlin-Wort in einem Jugendbrief
an Rhode zitiert, hat später selber ganz ebenso gesagt: »Nur aus Liebe entstehen
die tiefsten Einsichten.« Auch er hat das Geheimnis der Liebe gekannt, er hat es
nur nicht üben können, weil er sein ganzes Leben in der Haft des dunklen Werdens
blieb und niemals die reine Freiheit sicheren Glaubens an das ewige Sein gewann,
in der allein das Wunder der Liebe blüht. Ihm hat, wie Pascal, zu höchsten Gaben
des Geistes die doch alles erst belebende, verklärende, beseelende Kraft: die
Demut des Herzens gefehlt; darum ist aus ihm nur ein brüchiger Hölderlin geworden,
ein qualmender Hölderlin, glühend und sich verzehrend wie jener auch, doch ohne
jemals, mit welcher Gier er es sich auch verhieß, rein aufzuflammen. Es gehört zu
den verruchten Unfällen, durch die der deutsche Geist immer wieder aus seiner Bahn
geschleudert wird, daß Hölderlin erst in dieser Karikatur, die Nietzsche von ihm
ist, auf die Deutschen zu wirken begann. Wenn nach dem heroischen Nietzsche-Roman,
der Ernst Bertrams edles Buch über ihn ist (den »Versuch einer Mythologie« nennt
er es selbst; bei Georg Bondi in Berlin 1919) nächstens einmal ein Pedant, von der
ungeheuren Persönlichkeit Nietzsches, der vielleicht das mächtigste
Schauspielergenie deutscher Nation, im höchsten Sinn, im Sinn des Barock, war,
absehend, einfach seinen Gehalt an eigenen oder doch eigens erlebten Gedanken
eruiert, wird sich vielleicht nicht viel mehr als eine freilich schon durch das
unerschrockene Wagnis der Verbindung, durch ihre gotische Spannung beglückende
Summe von Wagner und Hölderlin und dem uralten deutschen Ultramontanismus, der
schon unseren Humanismus wie unser Barock gezeitigt hat, ergeben. Nietzsche kam in
seinem Weltgefühl doch eigentlich nirgends über Hölderlin hinaus. In der Jenenser
Fassung des Hyperion heißt es: »Der leidensfreie, reine Geist befaßt Sich mit dem
Stoffe nicht, ist aber auch Sich keines Dings und seiner nicht bewußt, Für ihn ist
keine Welt; denn außer ihm Ist nichts ... Nun fühlen wir die Schranken unsres
Wesens, Und die gehemmte Kraft sträubt ungeduldig Sich gegen ihre Fesseln, und es
sehnt der Geist Zum ungetrübten Äther sich zurück. Doch ist in uns auch wieder
etwas, das Die Fesseln gern behält; denn würd‹ in uns Das Göttliche von keinem
Widerstande Beschränkt – wir fühlten uns und andere nicht. Sich aber nicht zu
fühlen ist der Tod ...« In diesem stillen Ja zu Leid wie Lust der Individuation,
womit Hölderlin sich von Fichte befreit, steckt eigentlich auch schon die
tragische Wendung zu seinem Empedokles, aber steckt nicht, sobald man den Akzent
der Ergebung mit dem des Trotzes vertauscht, auch schon der ganze Zarathustra
darin? In einem wundervoll gedankenreichen Aufsatz über »Hölderlin und den
deutschen Idealismus« (im Logos, Band VII, Heft 3, bei Mohr in Tübingen) hat Ernst
Cassirer zum erstenmal gezeigt, wie frei Hölderlin nicht bloß Fichte, sondern auch
Schelling gegenübersteht, ja daß er, statt, wie man bisher immer meinte, von
Schelling beherrscht oder doch geführt zu werden, gerade umgekehrt selber
Schelling, den »mit einer schlechthin unvergleichlichen Empfänglichkeit Begabten,
das eigentliche Genie der Rezeptivität«, befruchtet hat. Im Jahre 1913 erwarb die
Berliner königliche Bibliothek ein Folioblatt, das auf zwei Seiten die
entscheidenden Gedanken Schellings enthält. Es beginnt damit, daß alle Metaphysik
künftig in die Moral falle, ein Gedanke Kants, den er nur bei weitem noch nicht
erschöpft habe. Mit der Vorstellung des absolut selbständigen Ich tritt zugleich
eine ganze Welt aus dem Nichts hervor. Zunächst: Wie muß eine Welt für ein
moralisches Wesen beschaffen sein? Eine Frage, die der Physik »endlich einmal
wieder Flügel gibt«. Und von der Natur geht es dann zum Staat, über den wir aber,
als etwas Mechanisches, noch hinaus müssen. Es thront die Idee, die alle
vereinigt, die Idee der in sich Wahrheit und Güte verschwisternden Schönheit. So
wird der Philosoph zum Dichter, die Poesie wird am Ende wieder das, was sie am
Anfang war: Lehrerin der Menschheit. Eine neue Mythologie im Dienste der Ideen:
die Mythologie muß philosophisch werden und die Philosophie mythologisch. Dieses
grandios gedrängt Kant überschreitende Blatt, das auch schon gleichsam mit dem
Finger auf Nietzsche zeigt, ist von Hegels Hand, nach einem Konzept Schellings,
das, wie nun Cassirer überzeugend dartut, den Ertrag der Begegnung Hölderlins mit
Schelling im Sommer 1795 enthält. Und gewiß hat Cassirer auch darin recht, wenn er
meint, daß in diesen so denkwürdigen Gesprächen, die sich an Fruchtbarkeit für die
Geschichte des deutschen Geistes nur etwa noch mit den Disputationen Lessings und
Jacobis zu Wolfenbüttel und Braunschweig im Juli und August 1780 und mit der
Wagnertaufe Nietzsches im Goldglanz der Tribschener Tage vergleichen lassen, daß
da Schelling es ist, der empfängt, Hölderlin aber, der aussät: »Schelling hat dem,
was damals als Forderung in Hölderlins Geiste bereit lag, nur erst die bewußte
systematische Formulierung gegeben. Was bei diesem eine Notwendigkeit seiner
künstlerischen Natur war, das verwandelt er in eine programmatische Notwendigkeit.
Mit der ganzen Schärfe seines Geistes – einer Schärfe, die sich gerade in dem
Übergange der Gebiete und Probleme und gleichsam in ihrem Helldunkel immer wieder
bewährte – stellte er mit einem Schlage den Inhalt und das Ziel der inneren
geistigen Kämpfe Hölderlins ans Licht. Er lieh seiner unbestimmten Sehnsucht den
Begriff und das Wort: er versicherte ihn, daß zwischen dem, was er als Dichter
erstrebte und bedurfte, und dem, was die Philosophie, was die Vernunft als höchste
Aufgabe aufstellte, keine unüberbrückbare Kluft und kein unaufheblicher Dualismus
bestand. Die Poesie selbst darf und kann zur Lehrerin der Menschheit werden; der
»Monotheismus der Vernunft« und der »Polytheismus der Einbildungskraft« sind
miteinander vereint und versöhnt. Hölderlins Intuition von der Natur und von der
griechischen Götterwelt wird von Schelling zur bewußten Deduktion umgebildet.« Und
ganz so selbstgesetzt und geisteigen wie zu Schelling steht Hölderlin aber auch zu
dem anderen Jugendfreund, zu Hegel, mit dem ihn, wie er einmal so rührend
schreibt, »die Losung: Reich Gottes!« verband. Beiden ist er der Gebende, weil er,
während ihnen die Grenzen des Denkens gezogen sind, einer höheren Region angehört,
der prophetischen, in der zum Element des Denkers nun noch das en hüllende des
Dichters tritt. Aber der Schritt über Kant genügt ihm nicht, er wagt noch mehr, er
wagt auch den Schritt über Goethe. Denn wenn Goethe sich im Schaukelstuhl von
Systole und Dyastole still am farbigen Abglanz beruhigt, mit einer »inneren
Desperation« freilich, deren furchtbaren Ingrimm die Gespräche mit dem Kanzler
Müller immer wieder bezeugen, ist Hölderlins Los: »auf keiner Stätte zu ruh’n«, er
gehört zu den Gezeichneten, die keinen Frieden finden im Irdischen, zu den mit der
inneren Unruhe Gestachelten, die sie selber nun zum eigenen Segen oder Fluch
entscheiden müssen, als, wie der Beuroner Maler Willibrord Verkade sein schönes
Selbstbildnis genannt hat: »Unruhe zu Gott« (jetzt bei Herder in Freiburg
erschienen), Unruhe zu Gott, wie sie van Gogh durchrast, wie den Grünewald, oder
aber Unruhe zum Nichts, ins ewige Nein. Seiner heiligen Unruhe zu Gott ringt
Hölderlin den Begriff der Stille, das Gefühl eines Festen im Strömenden, den
Glauben an ein Sein ab. Er weiß es nur selber gar nicht, wie weit er zuletzt schon
allen Pantheismus unter sich läßt. Er weiß doch auch nicht, wie seine ganze Zeit
das nicht weiß, was im Grunde seine Griechen alle sind: keine griechischen
nämlich, sondern Griechen des von ihr verleugneten, gewaltsam vergessenen Barock,
ja des bayerischen Barocktheaters geradezu und seiner durchaus ins Christliche,
genauer: ins Jesuitische spiritualisierten Antike, deren Gestalten nun ein
Erlebnis von solcher, jedes Gemüt umwälzenden Macht hatten, daß die Spur davon
nimmer in der abendländischen Menschheit ganz verlöschen kann. Auch Nietzsche hat
des Christentums entraten zu dürfen doch nur deshalb wähnen können, weil er nicht
wußte, wie durchaus übergriechisch sein Dionysos ist, wie ganz barock! Er hat doch
auch nicht gewußt, daß er, wenn er vom Theater Athens spricht, im Grunde nur immer
das Barocktheater beschreibt. Gerade so wie Wagner nicht gewußt hat, daß Bayreuth
auferstandenes Barock, daß der Parsifal die Krone des Barocktheaters ist. Davon
steht allerhand in meiner nächstens erscheinenden Schrift über das Burgtheater.
Man wird sie lesen, gerade darüber aber wieder hinwegzulesen trachten, über das
Entscheidende darin, genau so wie man’s mit dem herrlichen Werke macht, dem ich
sie verdanke, ja das mich überhaupt erst österreichisches Wesen, aber auch den
Goethe seit der Pandora und wo noch die Möglichkeiten einer künftigen deutschen
Kultur liegen können, erkennen gelehrt hat, mit Josef Nadlers gewaltiger
Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, neben Burdachs hohem
Werk der ersten germanistischen Leistung seit Wilhelm Scherer, die wieder der
erlauchten Tradition der Grimm und Uhland ebenbürtig ist. | |