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Wir sind reich an mittleren Begabungen. Aber nicht bloß ihre
Zahl erregt Staunen, sondern doch auch ihr hoher Rang. Wir haben mehr mittlere
Begabungen und diese mittleren Begabungen reichen jetzt höher als je, mit dem
Können, das heute jeder Liebhaber der Kunst hat, war man früher schon ein Virtuos
und unsere Virtuosen beschämen technisch manchen alten Meister. Wenn dieser
Hochgrad des Durchschnitts ein Gewinn ist, so bezahlen wir ihn aber damit, daß dem
Abendland zur Zeit in Kunst und Wissenschaft überall der Große fehlt. Es fehlt
überall der geniale, der eine ganze Zeit summierende, der säkulare Mann. Mittlerer
Begabungen in höchster Vollendung haben wir die Fülle und wir haben überall
Spezialisten von so verblüffender Geschicklichkeit, daß uns das Außerordentliche
fast gemein und darum eigentlich auch wieder schon gleichgültig geworden ist. Den
aber, der nun seine Kunst oder Wissenschaft durch die Macht, den inneren Gehalt
oder auch nur das Ausmaß seiner Erscheinung entscheidend bestimmen könnte, so daß
er sich fortan aus der Geschichte der Menschheit nicht mehr wegdenken läßt, den
Mann, auf den eine ganze Zeit nur gewartet zu haben scheint, um in ihm erst ganz
erfüllt und so selber aber durch ihn eigentlich überflüssig zu werden, hat heute
das Abendland weder in der Tonkunst noch in der bildenden noch im Schauspiel. So
waren noch Bruckner, Hugo Wolf und Mahler, so noch van Gogh, Cezanne, Rodin, so
noch Mitterwurzer, Kainz, Novelli und die Duse. Heute hat bloß die Dichtung einen
solchen, das Maß der Zeit überragenden, ihr den Sinn weisenden, Völker
verbindenden, Vergangenheit erntenden, Zukunft säenden Mann. Daß sein Name den
Vielen noch fremd klingt, daß er, o Schande! nicht einmal den Nobelpreis hat, daß
er sein erlauchtes Leben als Schulmeister im Winkel eines mährischen Dorfs
verspinnt, darüber wird am Tage des Gerichts unsere Zeit dereinst verhört werden
... Otakar Brezina, 1868 geboren. 1901 erschienen seine »Hände«; sie wurden 1908
von Dr. Emil Saudek verdeutscht (Verlag von Moritz Frisch in Wien). Stephan Zweig,
mit den immer witternden Ohren, hat ihn damals gleich erkannt, auch ich fing dann
bald gelegentlich für ihn zu trommeln an. Durch Ernest Denis, den Vollstrecker
Palackys, mit seinem Feingefühl für »le millénaire qui sommeille dans toute âme
slave«, und durch die Vorlesungen über die neue böhmische Literatur, die H.
Jelinek 1910 an der Sorbonne hielt, erfuhren auch die Franzosen von ihm. Diese
Vorlesungen Jelineks erschienen dann als Buch im Verlag des »Mercure de France«.
Daß ich Böhmen kenne, liebe, vielleicht auch ein wenig zu verstehen hoffen darf,
hab ich Ernest Denis, Masaryk, Machar, Kvapil und diesem Buch zu danken (das
leider meines Wissens nicht ins Deutsche übersetzt worden ist). Es hat mir auch
Brezinas Geheimnis erst erschlossen, mit einigen Versen aus seiner ersten
Dichtung: Les Lointains mysterieux. Diese Verse sind mir unvergeßlich: La lèvre
brûlante des femmes n’a point entflammé mon sang de passion, la folie amoureuse
n’a point lui dans mon regard; la braise blanche de la volupté n’a point étinceleé
dans mes nerfs et j’ai peu respiré d’odeurs amicales dans man vie. Le résolvais
tout seul, dans ma clôture silencieuse, le calcul de la vie je ne me baissais que
sur le parterre de mes rêves, je péchais plus dans les pensées que dans la vie et
j’aimais la chimère et je baissais la vapeur de mes désirs ... Mon printemps a été
une triste chanson élégiaque que la vie m’a jouée, flûtant, d’un trêmolo doux ...
J’ai respiré de bonne heure le parfum aigre de la pauvretré, et je moissonnais sur
mes sillons, la récolte des humbles ... Je ne désire pas me désaltérer aux rivages
de la vie moi qui ai recueilli dans mon âme la douceur des rayons mystiques, qui
me suis agenouillé, rêveur, dans le temple du mystère. Aus diesen Versen schlug
mir das Herz eines Menschen, den mich Saudeks Übersetzung der »Hände« doch nur
erst ahnen hatte lassen. Das will kein Tadel seiner Übersetzung sein. Sie klingt
sehr gut übersetzt, doch sie klingt eben übersetzt. Das hat wohl Saudek selbst
gefühlt und so rief sich dieser Sprachkünstler jetzt unseren gewaltigen Dichter
Franz Werfel zu Hilfe: Brezinas »Winde von Mittag nach Mitternacht« sind jetzt »in
deutscher Nachdichtung von Emil Saudek und Franz Werfel« erschienen (Kurt Wolff
Verlag, München). Ein Glücksfall, für uns und Brezina. Hier ist wieder einmal ein
Meisterwerk der Weltliteratur deutsches Eigentum geworden! Jede leiseste Spur von
Übersetzung ausgetilgt, alles ganz eingedeutscht, ja wie vom Genius unserer
heiligen Sprache selber rauschend! So sehr, daß man nicht bloß das Original keinen
Augenblick vermißt, sondern eher fast Angst hätte vor dem Original, weil man sich
kaum vorzustellen wagt, daß es die Gewalt, die Höhe, die Flammenpracht dieser
Übersetzung erreichen kann! Und was ich mir immer schon leise von Brezina verhieß,
aber dennoch zu glauben den Mut nicht fand, wie beseeligt’s mich in dieser
reinsten Erfüllung! Seit Jahren träumt mir von einem zweiten Barock, das, wie
jenes erste nordsüdlich gewesen, nun dazu nun auch noch westöstlich wäre und wenn
jenes gotischen Seelendrang mit der Sonne Lateins vermählt, jetzt dazu durch
abendländische Kraft noch Asiens altheiligstes Urgeheimnis mit der unschuldigen
Jugendlust Amerikas verschwistern sollte! Von einer zugleich seelischen wie
geistigen Spannung träumt ich, so hoch und so weit, daß in ihr Raum noch für
Dostojewski, doch aber irgendwie über Goethe hin schon auch für Walt Whitman wäre!
Wie oft, wenn ich dann aus diesem Traum von einem Dichter, der beides wäre, Walt
Whitman und Dostojewski zugleich, erwachte, wie hab ich mich dann oft selber
ausgelacht! Und siehe, jetzt ist mir’s aber erfüllt: in Brezina sind wirklich
Whitman und Dostojewski heiter lächelnd beisammen, jenes erste Barock ist hier
gleichsam erst noch einmal wieder gotisiert, dann aber durch diese slawische
Gotik, eine weichere, zugleich aber auch heißere, eine fast zerfließende,
verdampfende, dann aber wieder sich zusammenballende Gotik hindurch und empor
getrieben worden, empor und dahin, im Flug nach Fernen über Länder und Meere
gleitend und ihren Atem, ihren Dunst einziehend und aufsaugend, bis es gleichsam
von allen Zeiten, von allen Orten trächtig geworden, ein überschwellender Ball der
Welt. Denn das ist ja das ungeheure der Dichtung Brezinas, wie hier Stimmen aller
Völker durch Äonen einander zurufen, wie hier Urlauten der böhmischen Erde der
Schrei der Zukunft antwortet,wie Patriarchenluft um den Mund dieses Futuristen
weht! Es gibt ein böhmisches Kirchenlied, »Hospodine, pomiluj my«, das man früher
den Slawenaposteln zuschrieb, jetzt aus dem XII. Jahrhundert datiert: bei Brezina,
dessen Grundform überhaupt ja der Psalm ist, kehrt es wieder, aber auch Peter
Chelcicky, Hußens Evangelist, der Tolstoi des böhmischen Mittelalters, klingt
immer wieder durch, aber auch des Saazer Notars »Ackermann« (den Konrad Burdach
mit Alois Bernt auferweckt und jüngst Darmstadt gespielt hat, aber das Burgtheater
leider noch immer nicht) klingt zuweilen an, die ganze Heimat klingt nach, klingt
mit, aber so, daß aus ihr zugleich doch auch die ganze Welt widerklingt: dieser
Dichter ist von seiner Zeit, ist von seinem Volk, ist von sich selbst so tief
durchdrungen, daß er dadurch ihr und ihm und sich entkommt, in eine Höhe, wo dies
alles schweigt, wo die Masken vom Antlitz der Wahrheit fallen, wo Zeit, Volk,
Individuum wieder zum großen Vater heimgekehrt sind. Dort entquillt ihm aus
Schaudern geheimsten Freudenleids dann von bebenden Lippen solches Stammeln
letzter Ahnungen: O du, dessen Liebe regnet wie brennender Schwefel nieder in die
Gärten irdischer Liebe! Wir beten, beten Gebete, für unsere Feinde Gebete, für
die, die wider uns schreiten durch die Dämmerungen des Lebens. Unsere Siege sind
Wege zu Dir, doch selbst unsere Niederlagen bedeuten unsichtbaren Sieg. In den
sausenden Hieben der Schwerter saust auch das Klirren der Ähren der geheimnisvoll
reifenden Ernte. O wie freudig schallen die Schläge aus der Ferne als Echo
zurücke! In unsern geschliffenen Klingen und in den Klingen der Feinde läßt du
doch die Eine Sonne allgemeinsamen Morgens blitzen. Und den Samen aus blutigen
Händen, du heißt ihn als Lilie aufblühn. Unzählige ewige Flammen fressen die
Finsternisse, so auch die Sonne und also der Durst, der geheime, der Welten. Doch
von den Gipfeln des Kosmos wälzt es sich finster aufs neue, und dennoch! Am Ende
ist Licht! Denn Schmerz und Licht sind beide – Formen der einen, der gleichen
Schwingung deines Geheimnisses nur. Durch den Mittag unserer Gefechte möge uns
läuten die Glocke ätherischer Küsse der im Tode versöhnten Seelen. Gib, daß auf
unsre vom Schamrot der Erbschuld entbrennenden Wangen der Tauwind des neuen
Schattens kühlend sich senke, in welchem auch wir einst mit unseren Seelen die
Seelen der Feinde durchdringen in reuiger, leidvollster Liebe. »Und dennoch! Am
Ende ist Licht!« – hat das nicht einen Beethoven-Klang? »Und den Samen aus
blutigen Händen, du heißt ihn als Lilie aufblüh’n« – ist es nicht das Merkwort
dieses kreißenden Augenblicks? Wo schlug seit Walts Salut au monde das Herz der
Menschheit jemals mit solcher Gewalt? | |