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Seltsam klingt durch die Nacht dieser Zeit die klagende Stimme
Ludwig Schemanns. Ein Getreuer Wahnfrieds, Gobineaus Apostel in Deutschland, das
Erbe Lagardes hütend, hat er, während rings Deutschland eben anfing, ein großes
Geschäft zu werden, sein ganzes Leben im Glauben an eine sittliche Wiedergeburt
der Menschheit aus dem deutschen Geiste verbracht. Nun steht er, an die Siebzig,
auf dem Leichenfeld aller Hoffnungen. Zwar sind Männer seiner tragischen
Weltanschauung, die, den Trug des Irdischen durchschauend, Trost nur in der
eigenen Not, in der nicht die Welt, aber den Täter von der Welt befreienden Tat
finden, stärker gewaffnet als die leichtgläubigen Optimisten, die jetzt aus ihrem
Wahn, der Mensch sei menschlich, aufgeschreckt erwachen. Aber geht jene Kraft bis
zur Zuversicht, Deutschland, sein Deutschland, irgendein Deutschland des deutschen
Geistes noch jemals wieder für möglich zu halten? Er will’s, er wagt’s, er
versucht’s, und dieser Versuch, zunächst vor allem vielleicht eigener Überredung,
ist seine Schrift »Von deutscher Zukunft; Gedanken Eines, der auszog, das Hoffen
zu lernen« (Theodor Weicher Verlag, Leipzig). Hat er’s gelernt, das Hoffen? Vermag
er’s uns zu lehren? Es ist jedenfalls ein Hoffen dunkler Art, ein ungläubiges
Hoffen, ein Hoffen zum Trotz, ein »Handeln jedenfalls, als ob noch Hoffnung
vorhanden wäre«, dessen wir aber, meint er, nicht fähig werden, bevor wir erkannt
haben, »wie gründlich wir verloren sind«. Uns daran zu mahnen, tritt er »als
bewußter Störenfried unter das nur allzu leicht beschwichtigte Geschlecht«. Also:
Verzweiflung, aber keine feig ergebene, sondern eine heroische, die mit
Entschlossenheit nach der Tat, und wenn sie gleich unmöglich wäre, greift. Und man
erwartet, nun wird er seinen Schmerz zusammenbeißen und die Tat nennen, der er die
Kraft zutraut, uns zu einen, zum letzten gewaltigen Entschluß, und wäre das auch
nur einer, von dem wir uns selber neues Leben gar nicht mehr erhoffen, aber Tod in
Ehren. Doch dies fehlt, er kommt über Klagen und Anklagen nicht hinaus. In einer
»Herrschaft der Mindestwertigen« sieht er das Ideal des neuen Geschlechts und den
»Fluch des Goldes gerade beim Deutschen am schlimmsten«, denn »der reiche Deutsche
hängt weit mehr als der reiche Jude an seinen Millionen«. An die Monarchie wagt er
nicht mehr zu glauben: »In den drei Jahrzehnten seiner Regierung hat der letzte
Hohenzoller all das von monarchischem Nimbus, was seine Ahnen in drei
Jahrhunderten aufgesammelt, zu vergeuden gewußt.« Aber auch die Junker hätten
versagt, weil ihnen im entscheidenden Augenblick, bei den »demokratischen
Staatsstreichen«, der Mut zum Bürgerkrieg oder doch zu, wie er es ausdrückt,
»einer Portion Bürgerkrieg« gefehlt. Mas also, wer soll uns zur »deutschen
Einigkeit« helfen, die doch überhaupt »im Grunde noch nie bestanden hat, außer auf
Augenblicke, in denen katastrophale Blitze, wie 1813, 1870, 1914, die deutsche
Welt durchzuckten?« Wo kann noch, nachdem »der höhere Mensch jetzt entwurzelt und
entblättert« worden, unsere Zukunft sein? »Einige Brahmanenreste werden wohl auch
bei uns bleiben wie in Indien. Im übrigen aber wird China Motto werden und eine
ungeheure Mittelmäßigkeit dem deutschen Leben das Gepräge geben«. Wohin wir
blicken, nirgends ist Trost, aber »ein Volk setzt sich zusammen aus seinen Toten,
seinen Lebenden und seinen Kommenden. In unseren Toten ruht unsere Größe. Unsere
Lebenden sind »ein anderes Volk«, ein entartetes Geschlecht. Nur in dem Maße, als
wir uns auf die Ahnen besinnen, als vor allem die Kommenden sich ihrer wert
erweisen, kann uns vor dem Spruche: »Gewesen, für immer gewesen!« noch Rettung
winken. »Einen Hymnus trotzigen Hoffens anzustimmen hat der edle teure Mann
gemeint und es ist eine Nänie auf Deutschland daraus worden. Wie ganz zerschlagen
im Gemüt bin ich davon und frag mich wieder, wie schon oft in dieser Zeit, ob es
nicht wirklich besser wäre, das Lesen aller dieser Schriften von der deutschen Not
ein für allemal zu verschwören, die nichts helfen, ja vielleicht sogar eine Gefa r
für den Deutschen sind: er meint am Ende sein Elend damit erledigt, wenn er es
schreibend oder lesend »abreagiert«; der Brunnen, aus dem er noch Kraft schöpfen
könnte, wird zu Wasserkünsten mißbraucht. Mir wird überhaupt bang vor dieser
zunehmenden Gewohnheit, daß jetzt jedermann in Deutschland öffentlich laut denkt
und jeden seiner Einfälle sogleich brühwarm der Nation vorlegt! Nicht bloß die
Schamlosigkeit dieser Entblößungen widert mich an, sondern zum Mißtrauen gegen das
Geschäft öffentlichen Verhandelns von Geheimnissen kommt noch die Furcht, ob nicht
überhaupt Wahrheiten, jedenfalls die höchsten Ranges, durch Mitteilung immer schon
denaturiert werden. Favete linguis! heischt der Dichter, und das ist mir schon
sprachlich sehr merkwürdig: Favere heißt einem günstig sein, ihn beschützen, ihm
helfen, hier aber ist mit dem Zuruf, daß wir unseren Zungen eine rechte Gunst
erweisen sollen, einfach gemeint, daß wir zu schweigen haben, also gerade, als
würde die Sprache, sobald sie nur überhaupt gebraucht wird, eben dadurch immer
schon mißbraucht. Wer in unserem Geschäft älter wird, kann sich des Verdachtes am
Ende kaum mehr erwehren, ob nicht mit dem Reden immer schon das Lügen beginnt.
Lästige Wahrheiten, vor denen man zuerst erschrickt, wird man am besten los, indem
man sie gelassen ausspricht. Daher auch der alte Brauch, Gefahren, Schäden, Übel
jeder Art zu »besprechen«. Was wir nennen, ist schon halb gebannt: das Wort hat
die Kraft, Böses abzuschwächen. Vielleicht aber schwächt das Wort nicht nur Böses
ab, sondern mit ebenderselben Kraft auch das Gute. Indem wir etwas beim Namen
nennen, verliert es an Macht über uns. Durch die Sprache hat sich der Urmensch von
den Schrecken der Erscheinungen befreit; sobald das Wort sie fixiert hatte, waren
sie gleich nicht mehr so fürchterlich. Und je mehr nun allmählich das Ungeheuer
von äußerer Welt in Worten fixiert wird, desto mehr verschwinden ihre Drohungen,
bis zuletzt unserem deutschen Volke, das wie kein anderes von der Leidenschaft, ja
von einer wahren Wut für solches Fixieren der Welt, der sichtbaren wie der
unsichtbaren, besessen ist, darüber sie selber überhaupt verschwand. Wir sind ein
Volk extremer Nominalisten, das schließlich von der ganzen Schöpfung nichts als
die Nomenklatur in der Hand behielt; sobald wir etwas benannt haben, ist es für
uns erledigt und alle Metaphysik, deren sich die anderen immer im Grunde doch nur
zum besseren Gebrauch der Wirklichkeit bedienen, dient uns bloß zur Abschaffung
der Wirklichkeit. So glauben wir auch jetzt in unserer Not, wenn es uns nur
gelänge, festzustellen, was oder wer an ihr schuld war, sie damit auch schon los
zu sein: wir schreiben Bücher und meinen etwas getan. Das ist die furchtbare
Gefahr des »Verredens«, vor der Keyserling in seiner letzten Schrift »Philosophie
als Kunst« (Otto Reichel Verlag, Darmstadt 1920) warnt: »Über ausgesprochene
Dinge«, sagt er da, »verlieren wir leicht die Macht, weshalb schöpferische Geister
sich instinktiv davor scheuen, das zu besprechen, was organisch werden soll. Nun
während der letzten Jahrzehnte hat das ganze deutsche Volk seine mögliche
Bedeutung gewissermaßen »verredet«, indem es durch Herausstellen seines gesamten
Geisteslebens den Zusammenhang mit seinem schöpferischen Wesen fortschreitend
aufhob. So besaß es zuletzt überhaupt nur äußeren, keinen inneren Halt. Die
Demoralisation dieser Tage beweist durch ihre bloße Möglichkeit – denn sie, nicht
die Tatsache ist das Entscheidende –, daß das deutsche Leben schon lange rein
äußerlich zusammengehalten war. Hiezu aber konnte es – und dies ist das Bedeutsame
– nur deshalb kommen, weil es in der Macht des Geistes liegt, den Nachdruck auf
diese oder jene Seite der Wirklichkeit zu legen, weil er also wesentlich frei ist
und der Deutsche seine Freiheit dazu benutzt hat, sich selbst seines höchsten
Gutes zu entäußern. Auch auf geistig seelischem Gebiete ist Selbstmord, so
unsinnig er scheint, nicht allein eine Möglichkeit, sondern für viele eine
Wünschbarkeit. Wenn in Geist immer nur in der Welt der Erscheinung als solcher
weilt, dann wird er unwirklich und spiegelhaft wie sie; das Wesenhafte wird ihm
zuletzt ganz unzugänglich, sein Leben wird mechanisch wie das eines abschnurrenden
Räderwerks. Und damit wird es vollkommen unfähig, Bedeutendes hervorzubringen; es
versinkt in unentrinnbarer Subalternität. Wenn ein Mensch immer nur bemerkt, was
da ist, und nie das Werdende, so kann er nicht einmal ein leidlicher Politiker
sein. Wenn er sich immer nur auf den Boden gegebener Tatsachen stellt, so kann er
durch keine neuen, selbstgeschaffenen das Antlitz der Erde verändern. Wenn er sich
immer nur darüber klar zu werden versucht, was außer ihm geschieht, so muß die
innere Klärung ausbleiben. Daher das unwahrscheinlich Barbarische bei überaus
vielen äußerlich oft gut gebildeten und jedenfalls häufig sogar gelehrten Gliedern
des deutschen Volkes. Ja, wenn einer als Geist fortlaufend in der Vorstellungswelt
als solcher lebt, so wird er schließlich vollkommen irreell. Er verliert jeden
bewußten Zusammenhang mit dem Geschehen, sein Denken wird unverantwortlich sowohl
als wirkungslos, und so täuscht er sich immerdar nicht allein über den wahren
Charakter alles außer ihm Werdenden, sondern vor allem über sich selbst. Daher die
ungeheure, dem Außenstehenden ganz unverständliche Selbsttäuschung, der die
Deutschen durch Jahrzehnte erlagen. Sie hielten sich für etwas ganz anderes, als
was sie sind. So stehen sie heute erschüttert vor einem zertrümmerten Götzenbild
ihrer selbst. Dieses ganze Verhängnis ist wesentlich der Erfolg eines
philosophischen Fehlers. Deutschland hatte Jahrzehnte lang sein Bewußtsein in der
Erscheinungswelt, die ein äußeres Spiegelbild ist, zentriert und damit seinen eben
doch vorhandenen Willen, seine Kraft in den Dienst des Äußerlichen gestellt. Es
hätte ihm aber von jeher freigestanden, den Akzent auf die Geistesmacht in sich zu
legen. Sollen die Deutschen je wieder hochkommen, so muß dies jetzt geschehen. Aus
der Äußerlichkeit müssen sie sich zum Innerlichen zurückwenden, bewußten,
unmittelbaren Anschluß wiedergewinnen an den schöpferisch-lebendigen Mittelpunkt
ihrer selbst. Die angelsächsischen Völker haben nie bei dem Gedanken Halt gemacht,
daß die Welt aus Erscheinungen besteht: für sie besteht sie in erster Linie aus
Entscheidungen.« Diese Wahrheit von den Erscheinungen als unseren eigenen
Entscheidungen, gleich unentbehrlich für das Leben des einzelnen wie der Völker,
begreifen und ergreifen zu lernen hätten aber die Deutschen wahrhaftig nicht erst
das Beispiel der Angelsachsen not, wären sie nicht Goethen, den sie nur im Munde
führen, längst entfremdet, denn Goethes Wissenschaft wie seine Kunst, ja sein
ganzes Leben, ruht auf der Erkenntnis, daß alles getan sein will. Immer wieder hat
er es als das letzte Geheimnis aller Kreatur wiederholt, »daß man auf diesen
höheren Stufen nicht wissen kann, sondern tun muß: so wie an einem Spiel wenig zu
wissen und alles zu leisten ist. Die Natur hat uns das Schachbrett gegeben, aus
dem wir nicht hinaus wirken können, noch wollen; sie hat uns die Steine
geschnitzt, deren Wert, Bewegung und Vermögen nach und nach bekannt werden; nun
ist es an uns, Züge zu tun, von denen wir uns Gewinn versprechen.« So war’s immer,
so wird’s immer sein: auch unser Erkennen bleibt ohnmächtig, ohne einen
kategorischen Imperativ, der es tätig macht. Daher jenes favete linguis, das alle
tiefen Religionen umgibt: es hütet das hl. Schweigen, das allein uns die Stimme
des Gewissens vernehmen läßt, das Gebot der Tat, durch die wir die Wahrheit
bezeugen, aber eben dadurch auch selber nun erst von Angesicht erkennen lernen.
Der Geist allein ohne die guten Werke genügt zur ganzen Wahrheit nicht; sie kann
nicht erredet werden, sie muß getan sein. Als die Franzosen erlitten, was wir
jetzt erleiden, wußten sie das und sie sagten sich: Niemals davon reden, immer
daran denken! Fänden auch wir jetzt doch endlich die Kraft zum heiligen Schweigen,
in dem allein die großen Entscheidungen reifen, sonst kanns geschehen, daß bald
auch die letzte Spur deutschen Wesens »verredet« sein wird. Die großen Völker
haben in ihren größten Zeiten das Wort immer an die Fläche des Daseins verwiesen:
Tiefen sind stumm. | |