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Wenn der Inselverlag gerade jetzt des Thukydides Geschichte des
Peloponnesischen Krieges herausgibt (übertragen von Theodor Braun, in ein Deutsch,
das sich zuweilen doch allzusehr der Mundart des Tages nähert, ja fast schnoddrig
wird), so geschieht das vielleicht mit einer geheimen Absicht, derselben, die laut
aus der letzten Berliner Rektoratsrede spricht, aus Eduard Meyers »Preußen und
Athen« (Verlag von Karl Curtius, Berlin). Preußen und Athen, für südlichere
Deutsche reimt sich das nicht so leicht. Was Eduard Meyer meint, wäre
verständlicher, wenn er etwa sagte: Thukydides und Treitschke. Denn dieser
Vergleich stimmt wirklich: beide haben Geschichte mit sublimer Kraft umgedichtet
und Ereignissen einen heroischen Sinn eingeprägt, der den Ereignissen erst von
diesen beiden Dichtern zugeteilt, bald aber in der nachwachsenden Jugend auflebend
dadurch dann allmählich Wahrheit wurde; geschichtliche Wahrheiten bestehen ja
weniger in Taten, als sie aus Deutungen entstehen. Das lehrt das Beispiel des
Thukydides, und eben das will an ihm offenbar Eduard Meyer nun seine Hörer lehren:
was wir erlebt haben, erst die Jugend, die da kommt, wird ihm seinen Sinn geben,
ihren Sinn nämlich, einen rühmlichen oder erbärmlichen, je nach der inneren Art
dieser jetzt erst erwachenden Jugend. Darum beschwört er vor ihr für sie das Athen
herauf, wie Thukydides es zu sehen sich einbildete und es zwang. Da können sie den
Beethovenklang solcher Sätze hören (ich zitiere nach Theodor Braun): »Die Macht,
die man hat, nicht behaupten zu können, ist schimpflicher als ein mißglückter
Versuch, sie zu erwerben ... Für die Ehre, welche unsere Stadt ihrer Machtstellung
verdankt, auf die ihr euch so viel zugute tut, müßt ihr natürlich alle Kraft
einsetzen und keine Beschwerden scheuen, solange ihr überhaupt noch Wert auf Ehre
legt. Glaubt nicht, daß es sich in diesem Kampfe einzig und allein um Knechtschaft
oder Freiheit handelt; es handelt sich auch um den Verlust eurer Herrschaft und um
die gefährlichen Folgen des Hasses, den ihr euch durch eure Herrschaft zugezogen
habt. Und diese aufzugeben seid ihr gar nicht mehr in der Lage, sollte auch dieser
oder jener dunkle Ehrenmann unter den jetzigen Umständen um des lieben Friedens
willen dazu raten. Denn sie ist längst Gewaltherrschaft geworden, die an sich zu
reihen unrecht sein mag, aber wieder aufzugeben gefährlich ist. Solche
Schwachköpfe mit ihrem guten Rat würden ein Gemeinwesen bald genug zugrunde
richten, wenn sie in die Lage kämen, es auf ihre Weise zu regieren. Denn mit
Friedensliebe um jeden Preis, der keine Tatkraft zur Seite steht, kommt man nicht
durch, jedenfalls schickt sie sich nicht für eine Großmacht, sondern höchstens für
einen Vasallenstaat, wo man nichts weiter verlangt als ein knechtisches
Stilleben... Unsere Stadt hat ja eben deshalb in der Welt den großen Namen, weil
sie sich dem Unglück nie gebeugt und im Kriege weder Opfer an Menschenleben noch
Beschwerden gescheut hat und dadurch eine Macht geworden ist, wie sie bis dahin
denn doch nie dagewesen. Und so wird sie für immer im Gedächtnis der Nachwelt
fortleben, sollte es auch wirklich jetzt mit uns zurückgehen; denn die Bäume
wachsen nun einmal nicht in den Himmel. Haben wir doch als Griechen über die
meisten Griechen geherrscht, sowohl der Gesamtheit wie den einzelnen in gewaltigen
Kriegen widerstanden und unsere Stadt groß und blühend gemacht wie keine andere.
Schlafmützen freilich werden davon nichts hören wollen,wer sich aber fühlt und es
selbst zu was bringen will, wird uns nacheifern, und wenn ihm das nicht gelingt,
uns wenigstens beneiden. Und wenn man uns jetzt haßt und gern los sein möchte, so
ist das noch allen so gegangen, die das Zeug in sich fühlten, über andere zu
herrschen. Wer aber um den Preis von Ruhm und Größe auch Haß und Neid in den Kauf
nimmt, macht kein schlechtes Geschäft; denn Haß währt nicht lange, der große Name
aber, wenn man ihn mal hat, ist unsterblich. Nehmt also im voraus darauf Bedacht,
was euch künftig Ehre und gegenwärtig keine Schan e machen wird, und strebt
danach, daß euch beides zuteil werde. Laßt euch mit den Lakedämoniern auf keine
Verhandlungen ein, damit es nicht aussieht, als ob auch die jetzigen Beschwerden
zu viel würden. Je weniger man im Unglück den Mut verliert, je steifer man den
Nacken hält, umso besser wie für die einzelnen, so für die Staaten.« Knarrts in
diesen Sätzen nicht wahrhaftig ganz preußisch? Wird hier nicht schon ganz
fritzisch der eigene Vorteil immer in aller Unschuld sogleich zum Weltgesetz
sublimiert, Ehre höchst naiv nur in Macht, Gewinn und Erfolg gesetzt, durch jeden
eigenen Verlust, das Recht der Menschheit gekränkt? Und wenn also Briefe des alten
Fritz oft Seiten lang antik klingen, indem auch er, durchaus atheniensisch, stets
mit den erhabensten Grundsätzen auf Raub auszieht, ist das angelesen, ist das
»Literatur«, hat er sich bewußt thukydideisch oder plutarchisch stilisiert oder
kommt es unwillkürlich aus einer tiefen inneren Verwandtschaft Preußens mit Athen?
Beide Völker sind kriegerische Händler, deren bewaffnetem Handelssinn nun aber
(was z. B. den ähnlich situierten Venetianern oder Genuesen durchaus fehlt) ein
metaphysischer Zug beigemischt ist: es genügt ihnen nicht, das Geschäft zu machen,
sondern sie müssen sich dabei noch auf einen kategorischen Imperativ berufen, sie
müssen sich dabei noch als Agenten der sittlichen Weltordnung fühlen können. Dem
Kaiser, was des Kaisers, und Gott zu geben was Gottes ist, Irdisches und
Himmlisches rein zu scheiden sind sie unfähig, sie bestehen darauf, daß ihr
Handelsgeschäft zugleich auch ein Gottesdienst sei. Wir anderen alle geben
gelegentlich zu: Ja, das war wirklich eine Gemeinheit von mir, aber wer kommt denn
im Leben ohne jede Gemeinheit durch? So wird ein Athener, ein Preuße niemals
sprechen, denn er begeht eine Gemeinheit erst, wenn es ihm gelungen ist, sie sich
in eine sittliche Pflicht umzurechnen. Daß ihm dies gelingt und daß es ihm ganz
ehrlich gelingt, das ist des Atheners und des Preußen besonderes Talent. Athen und
Preußen vermögen immer ein gutes Gewissen zu haben. Daß ihnen das so leicht wird,
daß es in aller Aufrichtigkeit, ja daß es mit einer gewissen Einfalt geschieht,
die fast etwas Rührendes hat, das ist’s, was ihnen die anderen Völker nicht
verzeihen, können. Gar dem Wiener wird dadurch die Verständigung mit Preußen
erschwert: was er braucht, dazu glaubt sich der Preuße schon eben dadurch, daß er
es braucht, berechtigt; dem Wiener wird auch ein unzweifelhaftes Recht, das er
hat, sogleich verdächtig, wenn es ihm einen Vorteil bringt. Le trop et le peu
gâtent le jeu, sagt das Sprichwort. | |