Volltext |
Josef Redlichs unvergleichliches Buch über »Das österreichische
Staats- und Reichsproblem« (Der neue Geist, Verlag, Leipzig) läßt mich noch immer
nicht los: welch schmerzliches Glück, unserm alten heiligen Österreich da noch
einmal in sein brechendes Auge zu sehen! Die Bedeutung des erstaunlichen Werkes,
das sich aus vergilbten Akten, Protokollen, Entwürfen einen spannenden Roman holt,
liegt darin, daß es zunächst zeigt, wie die Lebensfrage, die die neue Zeit dem
alten Reich stellt, nämlich, ob es ihm gelingen wird, dem überlieferten
Zusammenhang so vieler, vorher nur durch die Willenskraft des Hauses Habsburg
vereinter Völker und Stämme nun, da dem erstarkenden Bürgertum in der alten Form
zu enge wird, einen neuen, allen diesen Völkern und Stämmen gerechten oder doch
erträglichen Ausdruck zu geben, wie diese Lebensfrage nur ein einziges Mal
überhaupt erkannt worden ist: auf dem Reichstag zu Kremsier, dessen Ideen fortan
immer wiederkehren, so oft ein wirkliches Österreich versucht wird, aber auch
immer durch die Bureaukratie, die nur über ein unwirkliches Österreich zu
herrschen vermag, im letzten Augenblick noch wieder verhindert werden; daß es
ferner zeigt, wie bei uns 1848 keineswegs das österreichische 1789, wofür es seine
Führer hielten, sondern etwas wesentlich Neues, nämlich eine nationale Bewegung,
ja geradezu die Geburt des Nationalismus war; und daß es endlich zeigt, wie die
»Reaktion« der fünfziger Jahre keineswegs, wofür man sie gemeinhin auszugeben
pflegt, eine »Restauration«, sondern etwas seinem ganzen Wesen nach bisher in
Österreich Unbekanntes, dem alten Österreich durchaus Fremdes, ja für Österreich
Revolutionäres, nämlich eine »in ihren politischen und geistigen Elementen völlig
neue Autokratie« ist, deren aus dem Geiste der Bureaukratie geborenes System:
indem man ja sagt, nein zu tun, den Bedürfnissen und Forderungen der Völker
niemals zu widersprechen, aber immer zuwiderhandeln und alles, was man nicht will,
dadurch zu vereiteln, daß man es auszuführen übernimmt, aber durch die Art, in der
man es ausführt, um allen Sinn und die gehoffte Wirkung bringt, noch bis in die
letzten Tage Franz Josefs, der ja geradezu symbolischen Gestalt dieses
konstitutionell persönlichen Regimes, durchgehalten und fortgewirkt hat. Daß in
Kremsier, das einzige Mal, wo die Völker Österreichs ungestört und im Morgenlicht
der jungen Freiheit noch vertrauensvoll einander ihr Herz, allerdings gar etwas
reichlich, ausschütten konnten, der Weg nach Österreich gefunden war, auf den bis
zuletzt noch, wer immer wirklich dahin wollte, stets wieder zurückkam, durch
keinen Steinregen der Bureaukratie abgeschreckt, das wußte ich längst, selbst aus
der verdrossenen Darstellung des ganz unösterreichischen, ja
widerösterreichischen, allem »Großdeutschen« (»großdeutsch« hießen im Frankfurter
Parlament die für Österreich gegen Preußen Gesinnten, die Rheinländer, die
süddeutschen Demokraten, großdeutsch hieß also damals alles, was unsere heutigen
Großdeutschen hassen; so sehr wandeln Worte mit der Zeit ab und werden sich
untreu!) abholden Anton Springer geht das ja ganz deutlich hervor. Maria Theresia
hätte gern die Länder Österreichs verstaatlicht: dies gelang nicht, sie hat sie
nur bureaukratisiert. Daß Österreich, um seinen Völkern erträglich zu werden, also
vor allem wieder debureaukratisiert werden mußte, das hat in Kremsier Palacky, der
Austroslawist, zuerst bekannt, aber allmählich haben ihm darin, wenn auch zögernd,
mißtrauisch und unwillig, dann doch auch die Deutschen zugestimmt; das besonders
in den Alpenländern noch unversehrte Gefühl fürs eigene »Landl!« und die Liebe zur
»Gemeinde« halfen ihnen dabei. Nicht ohne geheime Sorgen freilich, denn sie
wußten, daß die Frage doch schwieriger war, als jener biedere Tiroler meinte, der
im Landtag fragte, wozu sie denn in Österreich erst noch einen Reichstag
brauchten, da jedes Land schon selber am besten seine Sachen zu bestellen wisse,
für alles übrige aber die »uralte Verbindung des Volkes durch die geheiligte
Person des Monarchen« ausreichend sei; sie wußten, daß diese bloß persönliche
Verbindung der Völker jetzt nicht mehr genügte, daß es jetzt galt, durchaus nun
auch noch eine rechtliche zu schaffen, eine völkerrechtliche, durch gegenseitiges
Zugeständnis und Einverständnis gesichert (so lange das Haus Habsburg noch die
innere Kraft gehabt hatte, seine Völker ihre Gemeinschaft immer wieder an
ungeheuren Schicksalen unmittelbar erleben zu lassen, so lange sie, am Wallenstein
oder am Prinzen Eugenius, von jedermann mit Händen zu greifen war, war’s unnötig,
sie nun erst auch noch schwarz auf weiß zu haben: in eben dem Grad erst als das
Haus Habsburg selber unsicher wird, wird eine Staatssicherung notwendig, das
Gefühl seiner eigenen Schwäche macht Josef zum rabiaten Zentralisten). Also wenn
der Kremsierer Entwurf noch immer das Problem nicht rein, nicht ohne Rest zu lösen
wußte, so mahnt uns Redlich mit Recht, nicht zu »übersehen, daß das, was die
Männer von Kremsier versuchten, ... technisch politisch betrachtet, eine Aufgabe
bedeutet, wie sie in der Geschichte bisher einzig nur hier gestellt worden war:
nämlich die Aufgabe, ein aus vielen historischen Territorien und verschiedenen
Völkern bestehendes, bisher durch den Machtwillen der Dynastie zusammengefaßtes
Reich zu einer organischen Verbindung der Teile umzugestalten, den »Staat« zu
dekonzentrieren und zu dezentralisieren und ihn dabei doch zu erhalten, nämlich
das Ganze dieser Länder als Großmacht nach außen und als Zentralgewalt im Innern
unerschüttert in Funktion zu erhalten. Das Gegenteil: die Föderisierung freier
Länder zu einem neuen Ganzen ist oft gelungen, ist überhaupt die einzige Form, in
der seit dem XVII. Jahrhundert schöpferische Staats- und Großmachtbildung durch
die Menschen westlicher Kultur sich als möglich erwiesen hat. Die völlig neue
Aufgabe, die aber nun hier gestellt war, erforderte auch völlig neue politische
und juristische Begriffe und Formen. Die Autonomie der Länder war davon nur die
erste und wichtigste Konzeption.« Die ganze Verhandlung ging damals eigentlich nur
zwischen Tschechen und Deutschen. Beide waren bereit, entgegenzukommen, aber auf
verschiedene Art: die Tschechen waren als Autonomisten bereit, dem »Staat«
entgegenzukommen, die Deutschen zentralistisch der Autonomie. Daran, daß die
Deutschen nach Kremsier sich von der Bureaukratie wieder einfangen ließen und,
statt von den freien Gemeinden aus über die Länder empor einen höchsten Ausdruck
wirklicher Völkergemeinschaft zu wölben, in allen entscheidenden Augenblicken
zuletzt doch niemals von der Verwechslung des Staates mit dem alten
theresianisch-josefinisch-bureaukratischen starren Machtapparat loskommen konnten,
daß sie niemals den liberalen Wahn vom »deutschen Charakter Österreichs«
überwanden, daß darum der Kremsierer Entwurf bis in die letzten Stunden
Österreichs »das einzige große politische Denkmal des gemeinsamen Willens zum
Staate blieb, welches im kaiserlichen Österreich die Völker durch ihre Vertreter
geschaffen haben«, daran zerbrach Österreich. Nun ist’s erreicht, nun sind wir
Böhmen und Ungarn los, wir sind allein, so herrlich allein! ... Überraschend aber,
ja verblüffend war mir, daß Redlich von 1848 den Nationalismus datiert. Draußen
erscheint er 1806 zuerst, nach Jena, doch bloß als Notwehr gegen Napoleon, noch
lange nicht aggressiv. Das Erwachen eines dankbar stolzen Gefühls für die
besondere Sinnesart des eigenen Volkes, für das schlechtweg Einzige,
Unnachahmliche, Unersetzliche, wie jedes einzelne Volk für sich in der Welt steht,
seinen eigenen Segen und seinen eigenen Fluch mitbringt, den die anderen kaum
ahnen, niemals verstehen können, und seines Schritts seinen unbetretenen Weg geht,
für das Geheimnis, dessen Offenbarung die Geschichte jedes Volkes ist, danken wir
Herdern; durch ihn ist auch, unter den ermutigenden Blicken Goethes, das
Selbstgefühl der Tschechen erst erweckt worden. Aber erst wenn sich in dieses
Gefühl des eigenen Wertes und der eigenen Sendung noch Anmaßung, das Ve langen,
nicht bloß anders als irgendein anderes Volk, sondern besser als alle, mehr als
sie, ja zum Führer der anderen, zum Herrn über sie bestimmt zu sein, und der
Drang, sich über das ihm geschichtlich überlieferte Maß auszustrecken, mischt,
erst dann wird es zum Nationalismus. Redlich zeigt nun, wie Kaiser Josef durch
seinen Versuch, das alte Völkerreich in einen »deutschen Obrigkeitsstaat« zu
verwandeln, das Selbstgefühl der Ungarn und Tschechen aufscheucht, das bei Kroaten
und Slowenen sich an Napoleons Illyrischem Reich, bei den Serben an Karageorgs
Heldenkämpfen gegen die Türken entzündet. Noch greift es damals nirgends an, hält
sich zunächst im Kulturellen, am liebsten bei den alten Sprachschätzen der
Nationen, bleibt auch zunächst im engen Kreise der »gebildeten« Oberschicht; das
ist das romantische Zeitalter des Nationalgefühls. Erst allmählich, unter dem
Druck längst unterirdischer drohender, durch die wirtschaftlichen Stoßkräfte des
Bürgertums angeschwollener Spannungen, streckt es die Hörner vor und kaum hat es
sein Recht verlangt, verlangt es auch schon ein Vorrecht, kaum weiß es sich frei,
will es im nächsten Atemzug schon die Freiheit zur Bewältigung der anderen
mißbrauchen: der Drang nach nationaler Selbstbestimmung schlägt sogleich nach
nationaler Expansion und damit in nationale Herrschaft um, ganz wie das Bürgertum,
eben noch selber des Adels Knecht, beim nächsten Augenblick den Arbeiter zu
knechten unternimmt. 1848 holt unser Bürgertum nicht bloß, sich erhebend, 1789
nach, sondern es schießt sogleich, sich überhebend, auf die noch gar nicht
errungene Freiheit halb schon wieder verzichtend, darüber hinaus und schießt auf
die Macht, die Staatsmacht los; eben noch demokratisch maskiert, entblößt es sich
nationalistisch. In Frankfurt hatte der Freiherr von Andrian, vom
niederösterreichischen Landtag ins Vorparlament entsendet, eben noch feierlich
verlangt, »daß der Ausschuß die Garantie der nichtdeutschen im Deutschen Bund
befindlichen Nationalitäten als eine der vornehmsten Aufgaben der Versammlung
erkläre«, als schon in einer der ersten Sitzungen sich alles voll Aufregung »ob
der drohenden slavischen Gefahr« zeigt und bald darauf Giskra das Lob des Fürsten
Windischgraetz singt, weil der den Prager Juniaufstand niederkartätscht. Die
Deutschen, deren Bürgertum dem der anderen österreichischen Völker an Entwicklung
voraus ist, machen die Wendung von Revolutionären in Nationalisten zuerst, aber
man kann nicht sagen, daß sich die anderen spotten lassen, bald ist’s ein
Wettrennen und so ward Österreich eingerannt. Aber auch heute noch, nachdem
Österreich zersunken, behält der Nationalismus überall sein doppeltes Gesicht: ein
sanftes, um Schutz flehendes, das gleiche Recht aller Völker ansprechendes, solang
die Nation schwach ist, und ein grimmig grausames, Herrschaft heischendes, sobald
sie sich stark fühlt. Dadurch aber, daß Redlich nun den nationalistischen
Charakter von 1848, seinen Zusammenhang mit den Gedanken des XVIII. Jahrhunderts
von angebornen Rechten des Individuums, welche Gedanken der Nationalismus einfach
vom Individuum auf die Nation überträgt, und den Nationalismus als »die
unausweichliche Konsequenz der Grundideen von 1789« gezeigt hat, ist eine
Geistesgeschichte des Nationalismus, dieser Inversion der Revolution, durch die
diese zuletzt überall sich selber wieder auffrißt, erst möglich geworden. Und eben
von hier aus erblicken wir nun auch die »Reaktion« der fünfziger Jahre zum
erstenmal recht, in der zwei Gewaltsamkeiten einander begegnen: die des
Bureaukraten der des Nationalisten. Diese Reaktion ist durchaus nicht, wofür man
sie stets ausgibt, eine »Restauration des alten Habsburgischen Herrschertums«,
sondern mit ihr beginnt in Österreich etwas ganz neues: ein »durchaus persönliches
Regime«, die »Epoche der völlig ungehemmten kaiserlichen Machtpolitik«, die
Verbindung des zentralistischen Absolutismus im Innern mit »einer ausgesprochen
dynastischen Prestigepolitik nach außen«. Für meine Generation, die zwischen 1860
und 1880 Geborenen, ist es ein Verhängnis gewesen, daß wir, noch unmittelbar unter
den Nachwirkungen dieses säbelrasselnden Schreiberschreckensregiments aufwachsend,
von Eltern und Lehrern verleitet wurden, es für »das alte Österreich« anzusehen,
von dem doch dieses allerneueste wahrhaftig nicht einen einzigen Zug hatte,
sondern nur zuweilen die Grimasse. Das hat die meisten von uns blind für
Österreich gemacht, auf Lebenszeit blind für jede österreichische Wirklichkeit, ja
manchen blind für alle Wirklichkeit überhaupt, für den bloßen Begriff von
Wirklichkeit, dafür, daß es in der Welt so was wie Wirklichkeit überhaupt geben
könnte! Denn von aller Wirklichkeit abzusehen, wegzusehen, sie gar nicht
zuzugeben, geschweige zuzulassen, einzulassen, niemals auch nur zu vermuten, daß
etwas, was nicht in den Akten war, dennoch vielleicht vorhanden sein könnte,
diesen grandios absurden Versuch einer Weltschöpfung auf kaiserlichen Befehl
unternimmt das Ministerium Bach. Das Bürgertum antwortet später mit den
»Gründerjahren« darauf, geradewegs einer Parodie davon, in der dann ganz ebenso
plötzlich über Nacht von ein paar genialen Journalisten eine neue Gesellschaft,
ein neues Wien »ernannt« wird wie früher von Bach ein neuer Staat, ein neues
Österreich. Wir haben von klein auf nur in Fiktionen, von Fiktionen, für Fiktionen
gelebt und wenn einer unter uns einmal die Dreistigkeit hatte, sich zu fragen, ob
sich nicht immerhin doch auch etwas denken ließe, was keine Fiktion wäre, vor
solchem Verrückten wurden wir dringend gewarnt. Das Ministerium Bach war freilich,
als meine Generation erschien, schon durch die Niederlagen von Magenta und
Solferino weggeblasen, es war ja doch nur durch eine versteckte Wirklichkeit
hinter sich überhaupt möglich, aber so konsequent gewesen, auch diese: das Heer
Radetzkys verkommen zu lassen. Aber jenes »Ministerium lauter Premiers« hatte doch
im Grund eigentlich gar nicht regiert, es war nur eine Fassade von Ideen.
Österreich hatte sich umgekehrt: in seinen großen Zeiten war’s Habsburg, dessen
Idee herrschte, während Beamten die Durchführung überlassen blieb; jetzt war’s der
Kaiser, mit dem brennenden Ehrgeiz, »sein eigener Ministerpräsident zu sein«, der
alles selber durchzuführen und eigenhändig auszuführen recht eigentlich für sein
Amt hielt und sich nur die Ideen dazu von den Ministern supplieren, soufflieren
ließ. Minima non curat praetor, heißt’s, aber Franz Josef ist gar kein praetor
gewesen, gerade nur auf die minima verstand er sich am liebsten, bis so sein
ganzes Land selber eines Tages nur noch ein Minimum war. | |