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Ich stecke noch immer in Josef Redlichs unerschöpflichem
»Reichsproblem« fest! In seiner Zeichnung Franz Josefs zeigt Redlich eine
Meisterschaft, die nur von den höchsten Künstlern geschichtlicher Darstellung
zuweilen erreicht wird; nur etwa mit dem unvergänglich über die Zeiten hin
ragenden Denkmal, das, aus lauter unscheinbaren kleinen Zügen, Macaulays sinnende
Hand William dem Oranier und seiner Mary gesetzt hat, mag ich sie vergleichen. Wie
wer immer seit 1848 in Österreich irgend etwas zu tun oder zu sein versucht hat,
muß wohl auch Redlich an Franz Josef sozusagen persönlich gelitten haben, doch er
läßt es in keinem Atemzug merken: er tritt selber ganz still zurück, urteilt gar
nicht über ihn, läßt ihn nur erscheinen, aber mit welcher unheimlichen Gegenwart!
Der ungarische Graf Szecsen hat einmal im Ministerrat mit offenbarer Ironie, doch
sicher, daß der Kaiser sie nicht merken würde, vorgeschlagen, daß die »Mitwirkung«
der Landtage eine »entscheidende« sein sollte, »allein Seiner Majestät ein
ausgleichender Einfluß zur Beseitigung des Drucks der Majoritäten zu wahren wäre«.
Diese herrliche Formel, deren Nachsatz den Landtagen die Entscheidung, die sie
ihnen im Vordersatz zuspricht, im selben Atem wieder abspricht, indem die
Majoritäten zwar anerkannt, aber zugleich ihr »Druck« »beseitigt« wird, enthält
das ganze System Franz Josefs. Ihm blieb er bis ans Ende treu, denn es war das
System seines Wesens. Er hat nie Nein gesagt, wenn er etwas nicht wollte, aber er
hat auch sein Ja nie getan; er hat allem, was ihm zuwider war, zugestimmt, aber
immer mit einer Wendung, durch die seine Zustimmung unwirksam wurde. Er war noch
»ganz und gar von der Herrschervorstellung und dem Herrschergefühl des XVIII.
Jahrhunderts erfüllt«, aber bei dieser bloßen Vorstellung, diesem bloßen Gefühl
davon blieb’s dann, er hatte nicht die Herrscherbegabung dazu, den sich
unmittelbar auf den anderen übertragenden Willen. Er »befahl« gern, gar in seiner
Jugend, aber wenn, was er befohlen, dann meistens nicht geschah, ließ er es gut
sein. Niemand hat Menschen und Dinge so rasch wieder fallen lassen, mit derselben
Ungeduld, mit der er eben noch auf sie vertraut hatte. Ungeduld, leidenschaftliche
Hast und eine merkwürdige Vorliebe für »überraschende und überstürzte Wendungen«,
die freilich aber immer nur Zeichen seines Ärgers, in dem er, wenn ein Versuch
nicht gleich gelingt, lieber von der ganzen Geschichte überhaupt nichts mehr hören
will, niemals aber innere Wendungen sind, bleiben ihm eigen. Das Haus Habsburg,
das jahrhundertelang die hohe Kunst, warten zu können, mit solcher Meisterschaft
geübt hat, Pläne von einer Ewigkeit hegend, daß es auf ein halbes Jahrhundert
früher oder später dabei wirklich nicht ankam, hat in diesem Spätling plötzlich
die Geduld verloren; in ihm wird es auf einmal nervös. Vielleicht auch, weil er,
was ebenso ganz unhabsburgisch war, sich um zu viel »gekümmert« hat. Die
Habsburger schufen, aus ihren Träumen, aus gebietenden, ihnen selbst oft kaum
recht verständlichen starken Instinkten, zuweilen aus Marotten; »kümmern« mochten
sich dann die Handlanger darum, Franz Josef aber war sein eigener Handlanger, er
»kümmerte« sich gern, und am liebsten um Kleines, Kleinstes. Als er einst eine
seiner »Kundmachungen« im verstärkten Reichsrat einfach zu verlesen befahl, ohne
irgendeine Diskussion darüber zuzulassen, vergaß er nicht, dieses Verbot doch
durch den Zusatz zu mildern: »Höchstens die Vorbringung eines Dankes und deren
Annahme per acclamationem«. Und er vergaß, wie das Protokoll berichtet, auch
nicht, noch ausdrücklich anzuordnen, »die Sitzung werde erst nach der
Mittagsstunde abzuhalten sein, damit nicht entstellte Berichte darüber in die
Abendblätter dringen; das Abendblatt der »Wiener Zeitung« aber habe den Text des
a. h. Handschreibens zu veröffentlichen«. Man sieht: er war nicht bloß sein
eigener Ministerpräsident, er war noch mehr, er war sogar auch sein eigener
Präsidialist. Bismarck hat einmal gesagt: »Der Kaiser von Österreich hat viele
Minister, aber wenn er will, daß etwas geschieht, muß er es selbst machen.«
Bismarck w ßte aber nur den Grund nicht: denn den Minister, durch den etwas
geschehen wäre, hätte der Kaiser ja sofort davongejagt. Le roi régne, mais il ne
gouverne pas heißt der Grundsatz; bei Franz Josef war’s gerade umgekehrt. Diesem
Sinn für kleine, kleinste Dinge entsprach auch seine Neigung, wenn er die Wahl
hatte zwischen einem bedeutenden Menschen und einem unfähigen, immer diesen
vorzuziehen. Er hatte eine fast rührende Schwäche für unbegabte Leute, besonders
wenn sie das selber wußten, ihn selber davor warnten, aber dann das, was sie nicht
konnten, dennoch auf Befehl gehorsamst übernahmen, wie jener unglückliche Benedek,
der jedesmal im voraus wußte, daß er versagen würde, der das auch jedesmal
treuherzig im voraus beteuert und der denn dann auch jedesmal wieder pünktlich
gehorsamst versagt hat ... Das Wesen Österreichs wird in diesem Buch zum erstenmal
aufgedeckt, ganz bloß und nackt liegt es da vor uns, und was wir schaudernd
erlebt, hier lernen wir es zum erstenmal verstehen; die Formel ist im Grunde ganz
einfach: eben als es sich vollenden sollte und das erste Beispiel eines
übernationalen Reiches unter den dem Nationalismus verfallenen Staaten des
Abendlandes geben mußte, in diesem größten Augenblick hat es nur kleine Menschen
gehabt, kleinwinzige Menschen ... Und wie stark hört man dem gelassenen Vortrag
dieses durchaus »wissenschaftlichen« Werkes aber doch überall sein persönliches
Erlebnis an: nur tiefst erlittene Bücher haben solchen unvergeßlichen Klang. Einen
merkwürdigen Weg ist Redlich gegangen. Er ging als Jüngling zunächst zur
Wissenschaft; der Schüler Maurenbrechers in Leipzig, Dietrich Schäfers in Tübingen
wollte das Wesen des modernen Staates erkennen lernen. Aber bald fand er, daß, was
die Wissenschaft ihn lehrte, doch nirgends mit der Wirklichkeit ganz stimmte: die
Begriffe, vom Westen geholt, deckten sich mit der deutschen, mit der
österreichischen Erfahrung nicht. Der junge Staatsrechtsforscher unterschied sich
nun von seinen Staatsrechtslehrern dadurch, daß er den Einfall hatte, gerade
diesen Hiatus zwischen den Staatsbegriffen und unseren Staatserfahrungen selber zu
seinem Problem zu nehmen. Er beschloß, sich die Staatswirklichkeiten einmal näher
anzusehen, von innen her, durch eigene Teilnahme. Um Politik verstehen zu lernen,
schien es ihm das einfachste, selbst Politik zu machen. Die Schule mag ihm nicht
leicht geworden sein: zehn Jahre Deutscher Nationalverband und dann noch drei
Wochen Finanzminister! Aber sein Buch zeigt, daß es schon dafür stand. Und ob ihm
nicht doch bestimmt ist, nachdem er nun aus der Erfahrung durch Anschauung zur
Erkenntnis gelangt, erst recht noch einmal zur »Erfahrung« berufen zu werden, als
einer jetzt, der erkannt hat und daraus handeln kann? ... Wie reich ist mir der
Segen dieses Monats, der mich zugleich mit Redlichs Buch und Werfels herrlichem
»Spiegelmenschen« (Kurt Wolffs Verlag, München), dem österreichischen Faust,
beglückt hat! Und dieser freut mich vor allem schon auch für meinen lieben Albert
Heine so; denn von »Dies irae« über »Jakobs Traum« zum »Spiegelmenschen«,
wahrhaftig, eine so gewaltige Klimax ist lange keinem Burgtheaterdirektor
beschieden worden! | |