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»Das österreichische Staats- und Reichsproblem«. Geschichtliche
Darstellung der habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Untergang des Reiches.
Von Josef Redlich. I. Band: »Der dynastische Reichsgedanke und die Entfaltung des
Problems bis zur Verkündigung der Reichsverfassung von 1861«. (»Der neue Geist«,
Verlag Dr. Peter Reinhold, Leipzig 1920.) Aber Redlichs ersehntes Werk ist viel
mehr als dieser Titel verheißt: indem es seinem Problem bis auf den Grund
nachgeht, tritt Österreichs Idee hervor, Österreich selber tritt uns entgegen,
Österreichs Unsterbliches, das es freilich leicht hat, nicht zu sterben, weil es
ja zunächst noch nie gelebt hat. Österreich zu verhindern, das ist das bewegende
Motiv aller österreichischen Politik von 1740 bis 1918 gewesen. Wodurch ist unser
altes Vaterland zersprengt worden? Durch den Haß seiner Völker, den Haß ihrer
Erbitterung über das eine vorherrschende Volk, das »Staatsvolk«, die Deutschen.
Jeder österreichische Deutsche wird empört aufschreien: Wann hätten wir in
Österreich je geherrscht, wir, die wahren Stiefkinder Österreichs! Der Deutsche,
der dies sagt, hat ganz recht, er hat ganz ebenso recht wie wer die Deutschen des
unerträglichen Mißbrauchs ihrer Herrschaft anklagt. Sie haben eine Herrschaft
kläglich mißbraucht, von der sie doch selber gar nichts hatten, ja die sie dabei
wirklich im Grunde gar nicht hatten. Es ist ihr tragischer Fluch, es ist ihre
tragische Schuld gewesen, daß sie anderthalb Jahrhunderte lang schweigend
eingewilligt haben in die Knechtung aller Völker, ja in ihre eigene Knechtung
sogar, wenn nur dafür die anderen noch etwas mehr geknechtet wurden, daß sie sich
selber mit Begeisterung unterdrücken ließen, wenn sie dafür nur selber ein bißchen
mitunterdrücken durften: das war ja der eigentliche geistige Gehalt des
österreichischen »Liberalismus« und darin sind alle Parteien der österreichischen
Deutschen bis ans Ende »liberal« geblieben. Jedes Unrecht, an welcher Nation
Österreichs immer verübt, hat an den Deutschen seine getreuesten Handlanger,
Gehilfen und Lobredner gehabt. Immer wieder hat sich seit 48 das beschämende
Schauspiel wiederholt, daß die große neue Idee, durch die allein fortan das Reich
Habsburgs möglich war, die Idee der nationalen Gerechtigkeit, die Deutschen
entschlossen gegen sich fand. Und wenn sie sich diesen Verrat an der Gerechtigkeit
wenigstens hätten bezahlen lassen! Bezahlen durch einen Vorteil für ihr eigenes
Volk! Wenn nun wenigstens wirklich das deutsche Volk über Österreich geherrscht
hätte! Doch auch dieses deutsche Volk hat aller Macht entsagen müssen, die das
Vorrecht einer einzigen deutschen Oberschicht blieb: der Bureaukratie. Die
Bureaukratie, zunächst aus Deutschen erwachsend, bald auch aus allen anderen
Völkern geschmeidige Begabungen an sich ziehend, in sich die Volksarten
vermischend, verwischend, gleich treulos nach oben wie nach unten, nach und nach
aus sich selber eine Art Nation züchtend, war es, von der sich die Deutschen
mißbrauchen ließen, jedem Unrecht an den Völkern, auch am eigenen, zuzustimmen, in
ihrer Eitelkeit, sich dafür mit dem Staat »identifizieren«, wie das liberale
Schlagwort war, zu dürfen, mit einem Staat, den es gar nicht gab. Denn auch Maria
Theresia selbst ist es nicht gelungen, einen österreichischen Staat zu schaffen.
Ihr Ehrgeiz mußte sich’s genügen lassen, ein Staatsorgan zu schaffen, eben die
Bureaukratie. Das Organ eines niemals existierenden Staates zu sein, im Namen
dieses nicht existierenden Staates hundert Jahre lang allen Völkern die
furchtbarsten Opfer abzufordern, durch die Macht dieses nicht existierenden
Staates hundert Jahre lang die Vereinigung der Völker zu verhindern, darin besteht
das Wesen dieser in der Geschichte ganz einzigen, äußerlich sich gern skurril
gebenden, im Tiefsten dämonischen Erscheinung: denn wirklich, eine dämonische Null
ist unsere Bureaukratie gewesen, und wenn das ein schlechter Witz scheint, an
diesem üblen Spaß ist unser altes Vaterland zugrunde gegangen. Das Reichsproblem
war: gleichberec tigten Völkern bei geschützter innerer Freiheit die Gestalt einer
gemeinsamen Erscheinung zu geben. Sehr schön, sagte die Bureaukratie, doch da
müssen wir vor allem einen Staat haben! Und durch diesen Staat, den es nicht gab,
den es in Österreich nie gab, den es nicht geben konnte, weil es ja gerade der
geschichtliche Beruf Österreichs, seine Sendung war, eine neue, eine höhere Form
der Vereinigung von Völkern, ein staatsfreies Reich zu bilden, ist Österreich
immer wieder verhindert worden... Was Karl VI. der Erbin hinterließ, war das alte,
durch Eroberung, Heirat, Waffenglück, Vertrag oder Zufall erbrachte, nur durch die
Pragmatische Sanktion gesicherte Familiengut des Hauses Habsburg, ein
Großgrundbesitz, sozusagen eine Reihe von Gehöften, darunter eins, Ungarn, ein
ständischer Staat war, die anderen einfach »die Länder« genannt wurden, die Länder
des Hauses Österreich. Es lag nicht in der Art dieses gewaltigen, in seinem
stolzen Sinn die Welt hegenden Hauses, das wir, die wir davon nur noch durch Blut
von Lothringen doch wesentlich entfärbte Exemplare kennen lernten, uns in der
ganzen ungeheuren Spannung seines am liebsten Unmögliches begehrenden, nie zu
stillenden Machtwillens kaum mehr vorzustellen vermögen, es lag nicht im Bereich
seines überfliegenden Ehrgeizes, sich um das Gut zu kümmern; Habsburg war nicht
vom Schlage des braven kleinen Landedelmannes. Es hatte dafür gesorgt, auf den
einzelnen Höfen des Familienguts zuverlässige Meier zu haben: dazu waren die
»Ritter und Landmänner« von einst allmählich geworden, zuweilen durch Schwert und
Hochgericht (was nach dem Weißen Berg geschah, war weder Germanisierung noch
Katholisierung Böhmens, es war die Erziehung des Adels aus ständischem Trotz zu
Vasallengehorsam, eben zu Hausmeiern Habsburgs), gelegentlich auch durch Mischung
mit gelenken welschen, irischen oder spanischen Abenteurern. Die hielten das Gut
schon in Ordnung und lieferten getreu. Was sie sonst trieben, wenn sie nur
lieferten, fragte das Haus Habsburg nicht: daheim war der ständische Adel Herr,
über Justiz und Polizei wie Steuern und Landesdefension; selbst Ferdinand II. hat
die ständische Verwaltung in Böhmen geschont. Das Haus hatte Sorgen anderen
Ranges. Ihm war eigen, nur in der Idee zu leben; Wirkliches kam ihm dabei nur als
Mittel der Idee in Betracht. Der Hausbesitz interessierte nur als Kraftquelle.
Schon der brave alte Springer, der ahnungslos deutschtümelnde Geschichtsschreiber
Österreichs, klagt, »daß man aus den Erbländern eben nur die Mittel ziehen wollte,
um die mit einer beschränkten Familienpolitik seltsam verflochtenen hochgehenden
Pläne eines Universalreichs zu verwirklichen«. Übrigens: »beschränkt«, wie sie der
gute Mann nennt, war diese Familienpolitik eigentlich nur durch die Welt: in
seinen großen Zeiten fühlte sich Habsburg so groß, daß dafür kaum der Weltraum
knapp auszureichen schien. Es ist ein nur von sich erfülltes Geschlecht, jeder
einzelne scheint da nur aus Selbstsucht zu bestehen, einer Selbstsucht freilich
von besonderer Art, nicht seiner eigenen Selbstsucht nämlich, sondern einer ihm
von den Ahnen her als Pflicht, ja Schicksal auferlegten, der er sich selber mit
seinem Eigensinn und seinem Eigenglück aufzuopfern hat: Habsburgs ungemessene
Selbstsucht zu tragen, auf sich zu nehmen fast wie einen Fluch, ist des einzelnen
Habsburgers Art, selbstlos zu sein. »Den einen innersten Sinn, welcher Habsburg
belebt«, hat Erich v. Kahler (in seiner im Münchener Verlag des »Neuen Merkur«
erschienenen Schrift »Das Geschlecht Habsburg«, der einzigen mir bekannten, die
versucht, dem singulärsten Fürstenhause des Abendlandes sein tragisches Geheimnis
abzuspähen) »die Selbstbehauptung des Geschlechts« genannt: »Durchsetzung des
Geschlechts« sei sein »einziger Grundsinn«. Aber diese »Selbstbehauptung« hätte
noch allein nicht genügt ohne ihre fast unheimliche Steigerung zur
Selbsterweiterung bis an die Sterne, bis ins Kosmische. Nur deswegen scheint in
manchen Habsburgern vielleicht der Mensch so ganz verdünnt, weil in ihnen wirkli h
nur noch der geringste Teil dem Menschlichen zugewendet blieb. Ihre Seele wäre
jedenfalls dem Gedanken, den Mars abzusetzen oder den Saturn zu belagern, eher
zugänglich gewesen als dem Plan, einen österreichischen Staat zu verfertigen. Der
Wunsch zu »regieren« war ihnen ganz fremd; ihnen genügte zu herrschen. Noch als
Karl VI. starb, gab es keinen österreichischen Staat. Es gab auch noch keinen
Österreicher. Und er hatte noch kein Vaterland und keine Ursach, es zu lieben. Es
gab nur das Haus Österreich. Alle diese andern schönen Dinge sind Erfindungen der
Maria Theresia, mit der eine Hausfrau den Thron besteigt, sorgenvoll, geschäftig
und was man in Wien eine »Häferlguckerin« nennt: aus dem Wunsche, die »Häferln«
alle stets in schönster Ordnung zum »Gucken« bereit zu haben, entstand, was unsere
Patrioten noch bis vor fünfundzwanzig Monaten klopfenden Herzens den
»österreichischen Staatsgedanken« nannten (ich habe da mein Leben lang kein
einziges Mal mitgeklopft, aber mein Herz schlägt, so lange es überhaupt noch
schlagen wird, für Österreichs unzerstörbare Wirklichkeit). Nun weiß ich schon,
daß es ja nicht bloß Häferlguckerei war, sondern auch Not, der Zug der
merkantilistischen Zeit zur Kommerzpolitik, das Beispiel des neidisch gehässig
bewunderten Preußen. Und es hätte, selbst in der unseligen Fortsetzung des weit
vom Hause Habsburg fallenden Josef, vielleicht auch nichts geschadet, die gesunde
Natur der Erbländer hätte sich schon von selber wieder hergestellt, wäre nicht
längst, nur auf eine Gelegenheit lauernd, ein anderes Unheil bereit gestanden, das
nun, auf das Zeichen der durchaus auf Völkerbeglückung erpichten Kaiserin,
losbrach. Das war jene merkwürdige Menschenart, die, geringer Herkunft, in der
Nähe der Großen, sich zunächst durch die Kunst des Lesens und Schreibens, bald
auch durch die mit der Ausübung dieser Kunst verbundene geistige Behendigkeit und
Geschicklichkeit empfehlend, rasch unentbehrlich zu werden verstanden und in ihrer
anfangs recht zweideutigen Stellung, halb Bedienter, halb Vertrauter, vor Schlägen
nicht sicher, als Mitwisser von Geheimnissen sich aufnötigend, immer mehr Einfluß
gewonnen hatte. Aus Schreibern waren sie durch ihre Kenntnis des in den
Welthändeln immer mehr Bedeutung und Wichtigkeit erlangenden römischen Rechts
allmählich zu Räten geworden, es entwickelte sich an den hohen Schulen, in den
städtischen Kanzleien, an den Höfen der Fürsten ein gelehrtes Beamtentum, zunächst
nur sozusagen als Bote zwischen Herren und Knechten, durch den der Wille des Herrn
nun in einzelne Gebote für den Knecht umgeschaltet, zur allgemeinen Kenntnis und
zur Anwendung auf den besonderen Fall gebracht wird. Dieser neue Stand enthält von
Anfang an eine Gefahr für den Fürsten wie für das Volk, eben schon in dieser
Zwischenstellung zwischen beiden, weil er den Fürsten mit den Augen des Volkes,
das Volk wieder von oben herab ansieht, sich beiden fremd, beiden zugleich
verdächtig, aber auch unentbehrlich und also von vornherein geneigt fühlt, beiden
zu mißtrauen, beide zu verachten und beide zu betrügen. Die Lässigkeit des Adels,
der nicht die Geduld hat, Geist dann auch noch sozusagen in Kleingeld
umzuwechseln, und darum immer ratlos ist, wenn es gilt, Ideen zu verwirklichen,
erleichtert es diesen Rechtsgelehrten und Kameralisten aus ihrem Geschäft
sozusagen eine Geheimwissenschaft zu machen, es entsteht eine Art Freimaurerei der
gelehrten Bildung. Daß diese Geheimwissenschaft im Grunde gar kein Wissen, sondern
nur ein Vorrat von Kenntnissen und Behelfen, daß es keine Gelehrsamkeit, sondern
nur praktische Geschicklichkeit im Geistigen, daß ihre »Bildung« wirklich nur
solches Kleingeld und noch dazu Papiergeld des Geistes ist, gelingt ihnen zu
verheimlichen. Dieses Standes, der, längst insgeheim erstarkt, nur auf eine
Gelegenheit lauert, sich der Herrschaft zu bemächtigen, glaubt nun Maria Theresia,
zu schwach, um zu herrschen, und eben darum von einer wahren Wut, möglichst viel
zu regieren, erfüllt, sich zur Ordnung ihrer Länder, in dene sie wie in einer
blank gescheuerten Küche gern alles an seinem Nagel hätte, bedienen zu können, und
damit ist sein großer Augenblick gekommen. Indem sie sich einreden läßt, es komme
darauf an, einen österreichischen Staat, den es niemals gab, weder vor ihr noch
nach ihr, zu schaffen, gelingt es dem Beamtenstand, ein »Staatsorgan« zu schaffen
und damit sich zum Herrn einzusetzen, zum geheimen Herrn über Kaiser und Reich.
Dies weder den Kaiser noch die Völker je merken zu lassen und beide, Kaiser wie
Völker, immer mit dieser von vornherein für alle Zeit unmöglichen Gründung eines
österreichischen Staates in Atem und so beschäftigt zu halten, daß sie selber
indessen ungestört herrschen kann, das ist das verhängnisvolle, doch in seiner Art
geradezu grandiose Werk der Bureaukratie: seit Maria Theresia ist unsere ganze
Geschichte nur noch Geschichte der Bureaukratie. Dabei hat diese Bureaukratie
natürlich fortwährend ein schlechtes Gewissen und sie hat Angst: in dem
Augenblick, wo Kaiser und Völker merkten, daß es ihr gar nicht um diesen ewig
angekündigten, niemals erscheinenden, schlechtweg unmöglichen Staat zu tun ist,
sondern nur um ihre Gehelmherrschaft allein, in dem Augenblick, wo, etwa 1846 oder
1859 oder 1867 oder noch durch Taaffe oder nach dem allgemeinen Wahlrecht, die
staatslose Natur Österreichs wiedererkannt, der Zustand unter Karl Vl.
wiederhergestellt und nur die Länder nun aus dem Ständischen ins Demokratische
umgeformt würden, wäre der lebendige Völkerbund, der Österreich immer war, bis ihn
die Bureaukratie vergewaltigt hat, wieder da, nur jetzt als ein Imperium der
Demokratie, und die Herrschaft der Bureaukratie wäre damit gebrochen. In ihrer
ewigen geheimen Angst davor hat sie nun einen genialen Einfall: sie besinnt sich
ihrer deutschen Herkunft und redet ihre Herrschaft den Deutschen Österreichs als
Herrschaft der Deutschen über Österreich ein. Von der Bureaukratie wird der
deutsche Charakter Österreichs erfunden und da die Deutschen kindisch genug sind,
darauf hereinzufallen, wird der Haß aller unterdrückten Völker damit von den
Unterdrückern, von der Bureaukratie weg auf das deutsche Volk in Österreich
abgelenkt. Dadurch ist Österreich immer wieder verhindert, dadurch ist, was 1526
entstand, 1918 zerbrochen worden, nichts von uns ist übrig geblieben als die
wohlbehaltene Bureaukratie ... Indem ich dies, so für mich hin, niederschreibe,
siehe, da steigt auf einmal aus dem Nebel, der mir den Garten verklebt, vor meinen
inneren Augen Redlich selber auf, leise kopfschüttelnd, sein boshaftestes Lächeln
um den schnell beredten Mund, das zu seufzen scheint: Gott schütze mich vor meinen
Freunden! Denn er mag vor seinen eigenen Gedanken in meinen Übertreibungen da
zuweilen wohl selber erschrecken. Aber übertreib ich wirklich? Oder bin ich im
Selbstgespräch meiner unbekümmerten Einsamkeit nicht einfach bloß gröber, als dem
abwägenden Geschichtsschreiber geziemt oder als wir seit Ranke meinen, daß ihm
gezieme? Denn Thukydides hat sich ja wahrhaftig nicht geniert, gelegentlich
kotzengrob zu sein. Mein Verfahren, Geschichtliches immer möglichst auf einen
gemeinsamen Nenner und alles, was Geschichte mit ihren Erscheinungen meint, auf
den letzten einfachsten knappsten Ausdruck zu bringen, der von ihrem Blütenstaub
dann freilich nichts übrig läßt, mag in der Gewaltsamkeit seiner Kürzungen schon
bisweilen etwas geradezu Nihilistisches haben, dem verehrten und bewunderten
Freunde kaum erträglich, der ein angeborenes Gefühl für die Breite, für die Fülle
der Erscheinung, fürs Detail und für den besonderen Reiz gerade des Details, für
den inneren Widerspruch, der allem Geschichtlichen, auch in seinen reinsten
Ausdrücken noch, fragwürdig beigemischt und mit dem es gleichsam seine Gattung
wieder aufzuheben, gleichsam insgeheim treulos auch seinem Gegenpol zuzuwinken
scheint, nun auch noch in der strengen Zucht englischer Vorbilder geschult und
allmählich auf die Höhe einer heute von keinem anderen erreichten Meisterschaft
gebracht hat, die nur die Dinge elber reden läßt, sich aber aufs Bilden
beschränkt. Doch darf ich mir ja nicht verhehlen, daß wir nicht bloß im Ausdruck,
sondern auch, zwar niemals in der Sache, doch in den Personen zuweilen uneins
sind. Er hat eine stille Liebe für Maria Theresia, er hat eine stille Liebe für
Kaiser Josef und er hat eine stille Liebe für Heinrich Friedjung. Ich verkenne den
Reiz dieser Gestalten nicht. Sie gehören auch zusammen: alle drei bei bestem
Willen und redlichstem Bemühen gleich ahnungslos. Auch alle drei sehr
österreichisch: darin vor allem, daß sie sich immer nur erst im Unwirklichen wohl
fühlen, in dem leeren Raum zwischen der Erfahrung und der Idee, ja dies so sehr,
daß es sich gleichsam auch der Wirklichkeit selber mitteilt, daß, wenn sie doch
einmal unversehens nach ihr greifen, die Wirklichkeit selber gleichsam beschämt
vor ihnen davonläuft. Und noch etwas anderes trennt mich von Redlich: er ist in
Mähren daheim, dem klassischen Lande des österreichischen Liberalismus, und er hat
jahrelang als Abgeordneter dem Deutschen Nationalverband angehört, daher der leise
Hauch zentralistischer Illusion auf seinem politischen Denken, während ich,
Oberösterreicher, im ersten Stolz der jungen Gemeindefreiheit aufgewachsen, von
klein auf aus der Luft um mich herum schon eine Neigung einsog, mir das Europa der
Zukunft instinktiv immer schon als einen möglichst losen Verband möglichst
unabhängiger, ja möglichst isolierter Gemeinderepubliken vorzustellen; in jedem
richtigen Oberösterreicher steckt ein freilich höchst patriarchalischer
Kommunalanarchist. Der große Finanzkünstler, der Redlich ist, kann da freilich
nicht mit, ihm würde vor solcher Auflösung des Abendlandes ins Atom der freien
Gemeinden gewaltig bange; wir Oberösterreicher aber sind ein unfinanzielles
Geschlecht, wir bleiben schon Bauern ... Bewundernswert ist, wie Redlich, indem er
der unablässigen Bemühungen, unsere Verfassung und unsere Verwaltung zu
verwandeln, Verlauf erzählt, immer genau der Reihe nach aufzählend: zunächst was
geplant, was damit eigentlich gemeint, wieviel davon ehrlich gemeint und wieviel
davon gleich anfangs täuschend oder doch bloß beschwichtigend, oder allenfalls
abfindend gemeint und wieviel davon, wenn es schließlich erschien, auf einmal
schon wieder ganz anders gemeint war, als man es anfangs, ja noch während der
Arbeit zu meinen meinte, wie er uns, indem er dies erzählt, gleich auch die
dahinterstehenden Ideen und die dahinterstehenden Menschen und bald Ideen durch
ihnen nicht gewachsene Menschen entkräftet oder auch wieder durch kühne, doch
statt ihnen zu dienen, sich ihrer als bloßer Mittel bedienende Menschen entwürdigt
und dadurch, daß über dem Gewühl großer Ideen und kleiner Listen, ehrlicher
Schwärmer, kalter Rechner, gewissenloser Streber, leichtsinniger Spieler und
gehorsamer Kanzlisten niemals, alle bändigend und sich unterjochend, der reine
Wille leidenschaftlicher Hingebung, sei es ans Vaterland, sei es ans Volk, sei es
an eine Idee, ja einen Wahn, eine Schrulle, selbst den eigenen Vorteil bloß,
übermächtig erscheint, dadurch zuletzt diesen ganzen Aufwand von Kraft, Erregung,
Weisheit, Klugheit, Ehrgeiz, Selbstsucht und doch auch wieder gutem Willen,
redlicher Arbeit und treuer Pflichterfüllung unnütz vertan zeigt. Erschütternd
aber wird dies bald weinerliche, bald spaßige Schauspiel dadurch, daß die ganze
Zeit über es eigentlich keinen Augenblick lang an der Einsicht fehlt, worauf es
ankäme, wodurch wir zu retten wären. Alle wissen das, alle geben vor, es zu
wollen, und im Grunde wollen sie’s doch auch meistens wirklich. Jedes Volk will
diesen geschichtlichen Zusammenhang mit den anderen Völkern, der Österreich ist,
bewahren, wenn es darin seine Volksart ungestört erhalten, ungehemmt entfalten,
wenn es sich selber bestimmen, seine Kräfte selber verwalten darf. Daß dieser
Zusammenhang von Völkern, den das Haus Habsburg geschaffen hat, wie der ungarische
Graf Szecsen es einmal formuliert hat, der »Ausdruck einer tiefliegenden
politischen und inneren Notwendigkeit i t«, daran ist die Masse der
österreichischen Völker in ihrer Empfindung niemals irre geworden. Alle blieben
bereit, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist; freilich irgendeinem der anderen
Völker irgend etwas von sich abzugeben war keines jemals bereit. Sie hatten alle
den Wunsch, den der alte Palacky in Kremsier einmal so rührend einfältig
aussprach: »Wir müssen Österreich so konstruieren, daß die Völker gern in
Österreich existieren, das sei uns die leitende Idee!« Das haben die Böhmen
Palacky, Rieger und Havlicek ebenso wollen wie die Kroaten Gaj und Jellacic, wie
die Ungarn Szecsen, Eötvös und Deak, wie Stadion, Leo Thun und Heinrich Clam: nach
außen eins, daheim aber frei, jeder im Landl sein eigener Herr. In Kremsier war’s
fast schon so weit. In Stadions Gemeindegesetz auch wieder. Und wieder im
Oktoberdiplom, ja selbst, wenn gleich nur sozusagen unterirdisch, auch im
Februarpatent noch und so bis zu Taaffes Sturz. Die ganze Zelt über steht immer
gleichsam Österreich, ein lebendiges Österreich, Karls VI. Österreich aus dem
Ständischen ins Demokratische übersetzt, immer schon an der Tür. Nur wird ihm dann
im entscheidenden Augenblick niemals Herein gesagt. Warum eigentlich nicht?
Vielleicht bloß deshalb nicht, weil bei uns auch die besten Männer, sobald sie zu
regieren berufen werden, an alles Mögliche dachten, nur nie daran, zu regieren. Zu
den verhärteten österreichischen Eigentümlichkelten gehört nämlich, wie Redlich
sagt, die seltsame »Vorstellung, daß nicht die Regierung, nicht die Minister,
nicht der ›leltende‹ Staatsmann sich persönlich mit eigenen Kräften und Schmerzen
um die Lösung der politischen Probleme des Staates zu bemühen hätten, sondern daß
dies durchaus die Aufgabe der in Österrelch miteinander streitenden Völker und
Parteien sei. So wie Schmerling darauf wartete, daß die Ungarn das Reichsproblem
lösen würden, und für diesen Fall bereit war, solche Lösung befriedigt anzunehmen,
so warteten seit Jahren die österreichischen Ministerpräsidenten darauf, daß die
Völker sich ausgleichen, auch ihrerseits gewillt, ein derartiges Geschenk des
Himmels nicht unwillig aufzunehmen. Bis dies aber geschehen würde, pflegten seit
Dezennien unsere Staatsmänner beharrlich die Zumutung naiver Kritiker, daß
Ausgleiche zu schaffen eigentlich deren eigenste Aufgabe, die Pflicht der
Regierung wäre, selbst wieder mit würdiger Gelassenheit, aber energisch
abzulehnen.« Warum aber eigentlich? Woher diese »Vorstellung«? Warum hat, seit wir
konstitutionelle Minister hatten, keiner je zu regieren gewagt? Weil’s ihm nicht
erlaubt war. Weil er ja nur unter der Bedingung, nicht zu regieren, Minister
geworden war. Der geheime Regent Österreichs, der wahre Regent hat es ihm nicht
erlaubt, die Bureaukratie. Von Marien Theresien eingesetzt, dann in der Person des
Kaisers Franz, des vollendeten Bureaukraten, zur höchsten Macht gelangt, hat die
Bureaukratie, um sich in dieser Macht zu behaupten, dadurch, daß es ihr gelang,
den Deutschen einzureden, sie seien’s, die den »deutschen Charakter« Österreichs
bewachen, immer wieder ein lebendiges Österreich zu verhindern gewußt. | |