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Michael Hainisch Bundespräsident. Vierzig Jahre wird’s bald
sein, daß wir uns begegneten, in Berlin, wohin er als junger Doktor zu Gustav
Schmoller und Adolf Wagner ging, deren Schüler ich war. Er bezog die Bude Richard
Fellners, seines Vetters, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, der damals als
Burschenschafter, ganz wie ich, in Österreich für gemeingefährlich galt, später
aber ein sehr braver Dramaturg des Wiener Deutschen Volkstheaters wurde. Die Bude
war in der Schumannstraße, ein paar Schritte vom Deutschen Theater, und wurde von
einer typischen Berliner Studentenwirtin regiert; ihre Tochter, das schlanke
Fräulein Marie, hatte eine wogende Freundin, die, schlechtweg »die Göttin«
genannt, meinem Herzen teuer wurde. Ich wohnte gar nicht weit davon, in der
Kalkscheunenstraße, während Wolfgang Heine, jetzt preußischer Staatsminister a.
D., um die Ecke in der Luisenstraße hauste. Hainisch, schon vollbärtig, von
dominierender Nase, trat mit einem behäbigen Aplomb auf, der selbst auf mich, dem
wenig Sinn für Feierlichkeit angeboren ist, einen gewissen Eindruck nicht
verfehlte; seine Vorliebe für andauernde Sätze war mir unheimlich, auch sprach er
immer gleichsam von einer unsichtbaren Lehrkanzel aus. Die Gediegenheit seines
schwer erarbeiteten Wissens recht zu schätzen, war ich junger Windhund nicht reif
genug, und Geduld gehört überhaupt nicht zu meinen Tugenden. Dazu kam, daß ich ein
rabiater Wagnerianer war, nicht bloß für Richard, sondern auch für Adolf, während
er auch den Verdiensten Schmollers gerecht zu werden sich befliß; Gerechtigkeit
aber schien mir damals überhaupt keine Tugend. Wenn Macaulay wem ganz besonders
seinen Respekt ausdrücken will, tut er es, indem er ihn steady nennt. Das Wort
läßt sich nicht völlig übersetzen: »solid« sagt zu wenig, »standfest« wieder ist
um ein Gran zu pathetisch, »steif« würde tadeln, was Macaulay lobend hervorheben
will. Steadineß haben mit starken inneren Gewichten versehene stabile Naturen, ja,
man kann bemerken, daß diese Gewichte mit der Zeit in ihnen immer stärker werden,
zuletzt sogar stärker als die Natur. Steadineß war nun so sehr der Grundzug des
jungen Hainisch, daß ich heute noch alle Menschen, an denen man mir diese
Eigenschaft rühmt, unwillkürlich immer im Geiste gleich mit seiner Nase sehe (die
jetzt ein Fressen für Karikaturisten sein wird!). Ich hatte damals stets ein
schlechtes Gewissen gegen ihn: ich war mir bewußt, ihm nicht gerecht zu werden.
Aber wir beiden, ich immer, und gar damals!, eilender, schon wieder forteilender
Fant und dieser weilende, so lange weilende Mann, hatten’s schwer, gleichen
Schritt zu halten. Seitdem hat sein stetes Wesen gute Frucht getragen, die
Volksbildung verdankt ihm viel, der Sohn seiner Mutter ist in ihm immer
sichtbarer, immer wirksamer geworden. Er wird auf seinen festen Schultern auch die
neue Würde mit bürgerlicher Majestät zu tragen wissen. Andere Völker pflegen zu
solchen Ehren Männer mit den Hauptzügen der Volksart zu wählen, Männer, denen man
am Gesicht ablesen kann, wie dieses Volk sich selber sieht, wie dieses Volk
gesehen sein will, ihr ganzes Volk in sich summierende Männer. Eine Fahne Polens
ist Paderewski. Von einer Fahne hat Hainisch eigentlich nicht viel, wehen wird man
mit ihm nicht können. Er ist eher der vielleicht weitaus am wenigsten
österreichische Mensch, der zurzeit in Österreich aufzutreiben war. Wenn er sich
treu geblieben ist, muß er dies als hohes Lob empfinden ... Daß ich damals, vor
fünfunddreißig Jahren, ungerecht gegen Hainisch gewesen sein mag, ist mir erst
bewußt geworden, seit ich mich jüngst genötigt fand, dem alten Schmoller innerlich
abzubitten. Sein zögerndes, nichts je ganz bejahendes, noch geradezu verneinendes,
immer abwägendes Wesen, in dem die Vorsicht überwog, war mir, gar neben dem
glänzenden, unaufhörlich blitzenden Wagner, dem im Angriff am wohlsten war,
unleidlich. Wieviel Reife des Urteils, welche Weite nicht nur, sondern doch auch
Größe des Blicks, ja wieviel Kraft doch im Grunde seiner Behutsamkeit verborgen
lag, ließen mich jetzt seine »Zwanzig Jahre deutscher Politik« erst erkennen
(herausgegeben von Lucie Schmoller, München 1920, im Verlag von Duncker und
Humblot, der eben auch Schmollers »Grundriß« in neuer Auflage bringt). Alles
Listige, fast Arglistige, wodurch er sich verdeckt hielt, das schwäbisch
Faustdicke hinter den Ohren, wie wir’s als Studenten damals hießen, ist hier
überwunden und ein bei seiner festen Verankerung doch ganz freier, in all seiner
Mäßigung doch furchtloser Geist erscheint. Daß er den Feudalen wie den Radikalen
als »verdächtiger Kompromißmensch« gilt, »quittiert« er in aller Ruhe hier selbst
einmal, und man meint förmlich sein lauerndes Schmunzeln dabei zu sehen, aber
diese Neigung zu Kompromissen kam aus einer Erkenntnis, zu der seine Zeit noch
nicht reif war, der Erkenntnis der politischen Grundfrage seit 1789: »Wie kann die
Menschheit zu Staatsgewalten kommen, die über Parteien und Klassen stehen?« Und
man staunt doch immer wieder darüber, wieviel er vorausgesehen hat! So wenn er
schon 1899 schreibt: »Es ist höchste Zeit, daß in allen Ländern die gemäßigten und
vernünftigen Leute versuchen, die gewalttätigen, die chauvinistischen, die
Seeräubernaturen in Schach und in Zaun zu halten,« wenn er immer wieder vor dem
»überspannten Raubmerkantilismus« warnt, wenn er zwar »die Pläne eines ewigen
Weltfriedens utopisch« nennt, für »erreichbar« aber ein Völkerrecht hält, »ein
System von Bündnissen und Schiedsverträgen, das hindert, was stets bisher in der
alten und neueren Geschichte den Fortschritt bedrohte, das Aufsteigen eines
einzelnen großen Reiches zu einer für alle anderen bedrohlichen Welt-, Handels-
und Seeherrschaft«. Auch seine Kritik des Marxismus ist in der Hauptsache von den
jüngeren Marxisten selbst bekräftigt worden. Und wie persönlich, wenn er sich doch
auch alle Mühe gibt, es nicht merken zu lassen, schreibt er doch! Auch sein Stil,
ganz wie er selbst, tritt leise, doch darum nur desto fester auf. Dieser Stil hat
weder das Pathos Treitschkes noch das Temperament Adolf Wagners noch Rankes
inkognito reisende Hoheit, aber dafür, was seitdem bei deutschen Professoren fast
ausgestorben ist (ich weiß es eigentlich nur noch bei Heinrich Dietzel in Bonn zu
finden): das Gefühl für Nuance. Wenn er etwa sagt, bei Friedrich Naumann sei mit
der Zeit aus dem Staat »ein Nebengeschäft für Imponderabilien« geworden und
eigentlich laufe dies auf eine »Art Pensionierung der Staatsgewalt« hinaus, wenn
er, 1911, den Zustand im Elsaß lapidar »eine unwürdige Notabelnwirtschaft,
gemischt mit zynischem Radikalismus«, wenn er den Verein für Sozialpolitik »ein
Häufchen Gelehrter und und humaner Praktiker« nennt, so zeigt dies alles so viel
Anmut und Bescheidenheit mit soviel Schlagkraft der Rede vereint, daß Speidel,
auch ein alter Schwabe, seine Freude daran hätte haben müssen. Und so bin ich
unversehens am Ende wieder bei dem neuen Landesherrn Dr. Hainisch, der auch ein
Getreuer des Vereins für Sozialpolitik ist und wirklich von sich sagen kann, daß
er immer ein »humaner Praktiker« war. | |