Tagebuch. 10. Dezember [1920]

Hermann Bahr: Tagebuch. 10. Dezember [1920]. In: Neues Wiener Journal, Jg. 29, Nr. 9754, 1.1.1921, S. 6.

Verfasser:in Bahr, Hermann
Titel Tagebuch. 10. Dezember [1920]
Periodikum Neues Wiener Journal
Erschienen
  • 1.1.1921
  • Jahrgang 29
  • Nummer 9754
  • Seite 6
Rezensiert
  • Gustav von Schmoller: Zwanzig Jahre deutscher Politik (1920)
Volltext Michael Hainisch Bundespräsident. Vierzig Jahre wird’s bald sein, daß wir uns begegneten, in Berlin, wohin er als junger Doktor zu Gustav Schmoller und Adolf Wagner ging, deren Schüler ich war. Er bezog die Bude Richard Fellners, seines Vetters, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, der damals als Burschenschafter, ganz wie ich, in Österreich für gemeingefährlich galt, später aber ein sehr braver Dramaturg des Wiener Deutschen Volkstheaters wurde. Die Bude war in der Schumannstraße, ein paar Schritte vom Deutschen Theater, und wurde von einer typischen Berliner Studentenwirtin regiert; ihre Tochter, das schlanke Fräulein Marie, hatte eine wogende Freundin, die, schlechtweg »die Göttin« genannt, meinem Herzen teuer wurde. Ich wohnte gar nicht weit davon, in der Kalkscheunenstraße, während Wolfgang Heine, jetzt preußischer Staatsminister a. D., um die Ecke in der Luisenstraße hauste. Hainisch, schon vollbärtig, von dominierender Nase, trat mit einem behäbigen Aplomb auf, der selbst auf mich, dem wenig Sinn für Feierlichkeit angeboren ist, einen gewissen Eindruck nicht verfehlte; seine Vorliebe für andauernde Sätze war mir unheimlich, auch sprach er immer gleichsam von einer unsichtbaren Lehrkanzel aus. Die Gediegenheit seines schwer erarbeiteten Wissens recht zu schätzen, war ich junger Windhund nicht reif genug, und Geduld gehört überhaupt nicht zu meinen Tugenden. Dazu kam, daß ich ein rabiater Wagnerianer war, nicht bloß für Richard, sondern auch für Adolf, während er auch den Verdiensten Schmollers gerecht zu werden sich befliß; Gerechtigkeit aber schien mir damals überhaupt keine Tugend. Wenn Macaulay wem ganz besonders seinen Respekt ausdrücken will, tut er es, indem er ihn steady nennt. Das Wort läßt sich nicht völlig übersetzen: »solid« sagt zu wenig, »standfest« wieder ist um ein Gran zu pathetisch, »steif« würde tadeln, was Macaulay lobend hervorheben will. Steadineß haben mit starken inneren Gewichten versehene stabile Naturen, ja, man kann bemerken, daß diese Gewichte mit der Zeit in ihnen immer stärker werden, zuletzt sogar stärker als die Natur. Steadineß war nun so sehr der Grundzug des jungen Hainisch, daß ich heute noch alle Menschen, an denen man mir diese Eigenschaft rühmt, unwillkürlich immer im Geiste gleich mit seiner Nase sehe (die jetzt ein Fressen für Karikaturisten sein wird!). Ich hatte damals stets ein schlechtes Gewissen gegen ihn: ich war mir bewußt, ihm nicht gerecht zu werden. Aber wir beiden, ich immer, und gar damals!, eilender, schon wieder forteilender Fant und dieser weilende, so lange weilende Mann, hatten’s schwer, gleichen Schritt zu halten. Seitdem hat sein stetes Wesen gute Frucht getragen, die Volksbildung verdankt ihm viel, der Sohn seiner Mutter ist in ihm immer sichtbarer, immer wirksamer geworden. Er wird auf seinen festen Schultern auch die neue Würde mit bürgerlicher Majestät zu tragen wissen. Andere Völker pflegen zu solchen Ehren Männer mit den Hauptzügen der Volksart zu wählen, Männer, denen man am Gesicht ablesen kann, wie dieses Volk sich selber sieht, wie dieses Volk gesehen sein will, ihr ganzes Volk in sich summierende Männer. Eine Fahne Polens ist Paderewski. Von einer Fahne hat Hainisch eigentlich nicht viel, wehen wird man mit ihm nicht können. Er ist eher der vielleicht weitaus am wenigsten österreichische Mensch, der zurzeit in Österreich aufzutreiben war. Wenn er sich treu geblieben ist, muß er dies als hohes Lob empfinden ... Daß ich damals, vor fünfunddreißig Jahren, ungerecht gegen Hainisch gewesen sein mag, ist mir erst bewußt geworden, seit ich mich jüngst genötigt fand, dem alten Schmoller innerlich abzubitten. Sein zögerndes, nichts je ganz bejahendes, noch geradezu verneinendes, immer abwägendes Wesen, in dem die Vorsicht überwog, war mir, gar neben dem glänzenden, unaufhörlich blitzenden Wagner, dem im Angriff am wohlsten war, unleidlich. Wieviel Reife des Urteils, welche Weite nicht nur, sondern doch auch Größe des Blicks, ja wieviel Kraft doch im Grunde seiner Behutsamkeit verborgen lag, ließen mich jetzt seine »Zwanzig Jahre deutscher Politik« erst erkennen (herausgegeben von Lucie Schmoller, München 1920, im Verlag von Duncker und Humblot, der eben auch Schmollers »Grundriß« in neuer Auflage bringt). Alles Listige, fast Arglistige, wodurch er sich verdeckt hielt, das schwäbisch Faustdicke hinter den Ohren, wie wir’s als Studenten damals hießen, ist hier überwunden und ein bei seiner festen Verankerung doch ganz freier, in all seiner Mäßigung doch furchtloser Geist erscheint. Daß er den Feudalen wie den Radikalen als »verdächtiger Kompromißmensch« gilt, »quittiert« er in aller Ruhe hier selbst einmal, und man meint förmlich sein lauerndes Schmunzeln dabei zu sehen, aber diese Neigung zu Kompromissen kam aus einer Erkenntnis, zu der seine Zeit noch nicht reif war, der Erkenntnis der politischen Grundfrage seit 1789: »Wie kann die Menschheit zu Staatsgewalten kommen, die über Parteien und Klassen stehen?« Und man staunt doch immer wieder darüber, wieviel er vorausgesehen hat! So wenn er schon 1899 schreibt: »Es ist höchste Zeit, daß in allen Ländern die gemäßigten und vernünftigen Leute versuchen, die gewalttätigen, die chauvinistischen, die Seeräubernaturen in Schach und in Zaun zu halten,« wenn er immer wieder vor dem »überspannten Raubmerkantilismus« warnt, wenn er zwar »die Pläne eines ewigen Weltfriedens utopisch« nennt, für »erreichbar« aber ein Völkerrecht hält, »ein System von Bündnissen und Schiedsverträgen, das hindert, was stets bisher in der alten und neueren Geschichte den Fortschritt bedrohte, das Aufsteigen eines einzelnen großen Reiches zu einer für alle anderen bedrohlichen Welt-, Handels- und Seeherrschaft«. Auch seine Kritik des Marxismus ist in der Hauptsache von den jüngeren Marxisten selbst bekräftigt worden. Und wie persönlich, wenn er sich doch auch alle Mühe gibt, es nicht merken zu lassen, schreibt er doch! Auch sein Stil, ganz wie er selbst, tritt leise, doch darum nur desto fester auf. Dieser Stil hat weder das Pathos Treitschkes noch das Temperament Adolf Wagners noch Rankes inkognito reisende Hoheit, aber dafür, was seitdem bei deutschen Professoren fast ausgestorben ist (ich weiß es eigentlich nur noch bei Heinrich Dietzel in Bonn zu finden): das Gefühl für Nuance. Wenn er etwa sagt, bei Friedrich Naumann sei mit der Zeit aus dem Staat »ein Nebengeschäft für Imponderabilien« geworden und eigentlich laufe dies auf eine »Art Pensionierung der Staatsgewalt« hinaus, wenn er, 1911, den Zustand im Elsaß lapidar »eine unwürdige Notabelnwirtschaft, gemischt mit zynischem Radikalismus«, wenn er den Verein für Sozialpolitik »ein Häufchen Gelehrter und und humaner Praktiker« nennt, so zeigt dies alles so viel Anmut und Bescheidenheit mit soviel Schlagkraft der Rede vereint, daß Speidel, auch ein alter Schwabe, seine Freude daran hätte haben müssen. Und so bin ich unversehens am Ende wieder bei dem neuen Landesherrn Dr. Hainisch, der auch ein Getreuer des Vereins für Sozialpolitik ist und wirklich von sich sagen kann, daß er immer ein »humaner Praktiker« war. |
Zusammenfassung Bahr über seine gemeinsame Studienzeit mit dem neuen Bundespräsidenten Michael Hainisch im Seminar von Adolf Wagner und von Gustav von Schmoller. Er bleibt dann bei Schmoller hängen, den er erst jetzt richtig zu würdigen weiß.
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Alternative Drucke Hermann Bahr: 10. Dezember [1920]. In: Kritik der Gegenwart. Augsburg: Haas & Grabherr 1922, S. 293–296.
Schlagwörter Artikel in einem Periodikum, Tagebuch