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Es ist ein Merkwürdiges um die jeweilig herrschende Denkund
Anschauungsweise einer Zeit. Dem einzelnen von ihr Beherrschten scheint sie
jedesmal etwas Selbstverständliches, für alle Zeiten unwandelbar Gleichbleibendes,
weil durchaus nicht anders Denkbares, etwas Absolutes, das einem jeden der
»gesunde Menschenverstand« eingeben müsse. Aber dieser scheinbar so stetige, so
unabänderliche »gesunde Menschenverstand«, auf den sich nach Kant’s Wort ein jeder
immer »als auf ein Orakel« beruft, ist in Wahrheit ein gar windiger Geselle,
durchaus wetterwendisch, jeden Augenblick einer andern Laune nachhängend. Was er
hier als häßliche Schamlosigkeit ächtet, gebietet er dort als verbreitete Sitte.
Was er jetzt für widerwärtig und abgeschmackt verpönt, hat er vormals Muster und
Ausbund aller Schönheit genannt. Was er heute als welterlösendes Ideal auf alle
Fahnen schreibt, wird er morgen als thörichte Ammenfabel verhöhnen. Es ist
durchaus kein Verlaß auf ihn, weil er immer nur der Ausdruck der jeweiligen
Weltanschauung und diese unablässigem Wandel unterworfen ist. |