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Zwei Tage blies schon Märzwind ins tauende Land, ja
Sonnenuntergang trug die kitschigsten Sommerfarben auf, in einem welk
verblassenden, zerschmachtet irisierenden Rosenblattrot von einer unerlaubt
zuckersüßen Unwahrscheinlichkeit schwelgend, doch über Nacht ist alles wieder in
Eis erstarrt. Winter hängt mit finsterem Wolkengrau die Fernen zu, das sich immer
enger, immer schwärzer, immer schwülstiger zusammenzieht, in einen einzigen
ungeheuren, von oben und von unten und von beiden Seiten her unaufhaltsam gegen
uns einschrumpfenden Turm, der uns gefangen hält, und nichts regt sich, nur ganz
insgeheim schneit’s, nicht in Flocken, sondern ganz dünn perlend, in den
zartesten, fast unsichtbaren Glasblüten, ein gefrorenes Rieseln ist’s, das man
eher zu hören meint als erblicken kann, und so schneit’s nun und schneit und
schneit verstohlen fort, als hätte der Weltgeist gar keinen anderen Gedanken mehr
als Schnee, man gibt die Hoffnung auf, jemals den Watz wiederzusehen, ja man kann
sich eigentlich gar nicht mehr recht entsinnen, daß da drüben wirklich einst so
was wie der alte Watzmann seinen schlecht plombierten Zahn zum Himmel aufgereckt
haben soll, denn der Himmel selber ist auch schon höchst unglaublich geworden. Ich
aber, vom Ski, welchen Sport ich in jedem Sinne »fallweise« treibe, heimgekehrt,
den zerknirschten Leib dehnend (»Singen müssen S‹ die Knie hören!« sagt mein
wackerer Professor, der Bergführer Joseph Huber, wenn er mir das Bogenfahren
demonstriert; aber meine sind offenbar unmusikalisch) und so gut von der
Winterkälte durchglüht, träumle dann in das eisgraue Schweigen hinaus: in solchen
Stunden liebkosender Müdigkeit gerät der Geist, von den entschlafenden Sinnen
nicht mehr behelligt, gern in ein holdes Schwärmen, das äußere Leben ist auf ein
Minimum abgestellt, so darf das innere nach Laune gaukeln. Schad, daß dem
Erwachenden davon meistens nichts übrig bleibt als der leise Klang eines
wunderlich lieben Nachgefühls, sich allerhand Märchen vorgetanzt zu haben. Meine
schönsten Bücher hab ich nicht geschrieben! klagt schon der Ulrik Brendel, und so
geht’s doch allen: was sich davon niederschreiben läßt, von den gesegneten
Stunden, enthält des Segens ach! so wenig und dieses Wenige so verblaßt, daß es zu
wundern ist, wenn man ihn uns überhaupt glaubt. Und abends las ich dann gern noch
eine Stunde Walter Scott. Hier muß man nämlich sehr vorsichtig mit Büchern sein:
dieser großen Landschaft halten die wenigsten stand. Doch Scott kann’s: er erzählt
so naturnotwendig aus sich los, als der Wald wächst und der Fluß fließt. Ist es
Kunst? Ich weiß nicht. Zuweilen kommt mir vor, als wär’s viel mehr als Kunst. Und
es macht einen für eine Weile wieder ganz jung. Und wenn es mich wieder ganz jung
gemacht hat, dann bin ich in der rechten Stimmung und lese, bevor ich das Licht
auslösche, noch zwei, drei von unseren wunderschönen alten kirchlichen Hymnen, in
der handlichen Ausgabe von Professor Hellinghaus (Volksvereinsverlag in
München-Gladbach [Fußnote], 1919), die neben dem lateinischen Urtext auch immer
eine deutsche Nachdichtung setzt. Welche herzstärkende Geisteskraft strahlt aus
der Liebesglut dieser gottestrunkenen Lieder! Wie sie mit Adlerflug still im
Erhabenen kreisen, um sich dann zuweilen wieder mit einem zutraulichen Amselruf
auf Lust und Leid unseres irdischen Lebens gelinde herabzusenken! Wie die strenge
Gesetzlichkeit edler Latinität sich am Tageslaut volkstümlicher Empfindung erregt,
erwärmt, erneut! Mit welcher Freiheit entwächst das überquellende Gefühl da jeder
Norm, um sogleich, indem es die Form sprengt, schon selber wieder Form zu werden!
Denn melius est, reprehendant nos grammatici, quam non intellegant populi, hat
schon der heilige Augustin gesagt, recht nach dem Herzen aller Stürmer und
Dränger. Woran sich übrigens unsere Jüngsten ein Beispiel nehmen sollten: ihr
Expressionismus droht aus echtestem Erleben doch auch wieder nur bloße »Literatur«
und ganz alexandrinisch zu werden, wenn er nicht den Weg ins Volk zu finden weiß!
Wie sich in diesen Hymnen was Gundolf das »Urerlebnis« nennt, mit der
überlieferten Form ins Gleichgewicht setzt, wie das ausbalanciert ist, wie der
Aufschrei ganz individuellen Verlangens sich mit dem Typischen auszugleichen und
dabei doch im Typischen sich selber noch immer zu behaupten vermag, das dennoch
unversehrt bleibt, wie das Gedicht ganz zum unmittelbaren Augenblick wird, auf dem
aber doch der Nachglanz von Jahrhunderten ruht, wie der Dichter ganz nur der
eigenen Seligkeit von Lust und Leid hingegeben scheint, aber in ihr doch Lust und
Leid der ganzen Menschheit vernimmt, dies ist von einer überwältigenden Schönheit!
»Wohltäter der armen Menschheit« hat Herder diese heiligen Hymnen genannt: »Sie
gingen mit dem Einsamen in sein Grab. Da er sie sang, vergaß er seine Mühe: der
ermattete traurige Geist bekam Schwingen in eine andere Welt zur Himmelsfreude. Er
kehrte stärker zurück auf die Erde, fuhr fort, litt, duldete, wirkte im stillen
und überwand: was reicht an den Lohn, an die Wirkung dieser Lieder?« Dieser Satz:
»er kehrte stärker zurück auf die Erde« spricht aus, was sie mich gewaltig erleben
lassen: sie geben so viel Kraft, sie machen so froh, sie lassen uns erst unser
irdisches Leben recht empfinden, das, von drüben her gesehen, doch erst seine
ganze Schönheit zeigt. Sie sind ein Brunnen edelster Lebenslust, stählender
Lebensmacht! Sie sind Anweisungen zur ewigen Seligkeit, und nicht etwa bloß drüben
erst, sondern hier auf Erden schon; denn wer glaubend, hoffend, liebend erst des
andern Reichs einmal gewiß worden ist, der hat auch in diesem hier schon den
Vorgeschmack davon. Wieviel Freude, Kraft und Tapferkeit der Sonnenstrahl
demütiger Andacht ausströmt, lassen mich diese frommen Lieder beglückt empfinden!
Aber wer kennt sie denn? Sie sind vergessen, wie die alten Legenden in ihrer
schlichten ermutigenden Weisheit vergessen sind. Auch sie hat der
Volksvereinsverlag zu München-Gladbach in einer Auswahl aus der Legenda aurea
jetzt ediert (übersetzt von R. Breuer, mit einer Einführung von Dr. Heinrich
Saedler). Bibliophilen legen die von Richard Benz für Eugen Diedrichs in Jena
besorgte Ausgabe der Legenda aurea (1916 erschienen) gern auf einen Prunktisch und
durch das von blauem Grunde leuchtende Gold und die Wohlgestalt des Drugulindrucks
angelockt, blättert dann im Gespräch der Gast gelegentlich darin, erstaunt,
wieviel Gegenwart der Erzählerton des Bruders Jacobus de Voragine vom Orden der
Predigermönche, des achten Erzbischofs von Genua, der diese Chronik der Heiligen
in den Jahren 1263 bis 1273 niederschrieb, heute noch hat. Aber es scheint schon
einmal das Schicksal von »Prachtwerken« zu sein, daß man vor lauter Augenlust gar
nicht daran denkt, sie zu lesen. Vielleicht wird also dieser Auszug in dem
schlanken Bande des Volksvereins, von den vielen hundert Geschichten nur ein paar
Dutzend, aber der schönsten, wählend, jetzt manchen zu Benz hinführen, der uns die
Tat des Genuesers erst in ihrer ganzen Herrlichkeit zeigt: denn hier ist ja das
Wunder geschehen, daß der Stoff von tausend Jahren in die gestaltende Hand eines
Dichters von dantesker Bildkraft kam. Ja, Benz hat recht, wenn er diesem Epos in
Prosa einen Reiz zuspricht, den weder Virgil noch Dante, den auch der Hexameter
Klopstocks, Vossens und Goethes nicht hat: denn derselben höchsten Kunstgesinnung,
die durchaus fugierend alles in Einem zusammenhält, ist hier noch ein Märchenton
beigesellt, jeder glaubt hier seine Mundart zu hören, hier spricht einmal ganz
große Kunst zu jedermann aus dem Volke! Wirklich als hätte der Heilige Geist
dieses Buch diktiert: es redet in allen Zungen! Benz erklärt dies daraus, daß das
Latein des Mittelalters überhaupt gar kein Latein mehr war, daß es international
und in Wahrheit ein verkappter germanischer Dialekt war, daß es »ein latentes
Deutsch« war, ganz wie der Italiener selber, der diese goldene Legende schuf, gar
nicht mehr national, sondern übernational christlich-germanisch empfand: »er
konnte volkstümlich schreiben und volkstümlich mit seinem Werk wirken, ohne daß er
sich an ein spezielles Volkstum wandte, die bürgerliche Stadtkultur, aus der die
Gotik erwuchs, war ein Volkstum über den Nationen, und zwar ein germanisch
fühlendes und denkendes Volkstum.« Nur so hat ein in Genua lateinisch
geschriebenes Werk ein wahres Volksbuch allen Nationen des Abendlandes werden
können, für Deutsche, Böhmen und Spanier, bei Schweden, Engländern und
Provencalen, in jedem katholischen Land. Aber indem sie’s sich dann übersetzten,
ist es wieder nationalisiert worden und sein hoher Bau zerfiel. Die Renaissance,
den Nationalismus erschaffend, zerstört die Welt. Erst das XVII. Jahrhundert hat
dann, wenigstens für einen Teil des Abendlands, noch einmal eine gemeinsame
Lebensform hergestellt: im Barock. Wir suchen sie vergebens. Die heutigen
»Weltbürger« meinen sie zu finden durch Austritt aus der eigenen Nation. Aber wer
aus seiner Nation austritt, tritt damit nur in sich selbst zurück; so gibt er nur
auch noch den letzten Rest von Gemeinsamkeit auf. Denn wohin soll er dafür
eintreten? In die Welt! sagen sie. Wo ist denn aber eine? Das Mittelalter und noch
wieder das Barock konnten der Gemeinsamkeit des Bluts entraten, denn sie hatten
die höhere des Geistes. Indem wir die Nationen verneinen, entsteht nichts. Wer
aber hat den Mut zum Gemeinsamkeit schaffenden Ja? Das kann uns kein Aufruf, keine
Volksabstimmung erbringen, das kann nur der Glaube. Das Abendland wird erst wieder
möglich, wenn wir die Kraft zum Glauben finden. Unsere Zukunft ist eine
Glaubensfrage. | |