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Seit Jahren ist mir heut zum erstenmale wieder passiert, daß
mich ein Buch einfach nicht mehr ausließ und ich nicht los konnte, bis ich durch
die zwei dicken Bände durch und indessen der glitzernde Wintertag erloschen war:
so jung hat mich unsere liebe Ethel Smyth mit ihren Erinnerungen gemacht,
»Impressions that remained«. (In two Volumes. Logmans Green and Co., 29
Paternoster Row London.) Nur ist das freilich im Grunde gar kein Buch, es ist
einfach diese himmlische unmögliche fabelhafte Ethel selbst, unmittelbar selbst,
in der ganzen überwältigenden Evidenz ihrer bezaubernden Unglaublichkeit selbst,
Gamin und Genie, Bohème und très femme du monde, junges Mädchen, alter Oberst und
bon garçon in einer Person, und auch noch ein echter Künstler und der völligste
Mensch dazu, ganz so wie sie damals in Wolken von Zigarettendampf mit gekreuzten
Beinen arglos paradox auf dem Klavier in Keysers Hotel hoch oben saß oder sich in
den Algenduft des Lidosands warf oder mit mir, gewaltig ausschreitend, durch die
stille Golflandschaft von Sandwich, unweit von Canterbury, in kauderwelsch alle
Fragen Himmels und der Erde platonisch durchstreifenden Gesprächen sich ruhelos
erging. Welch ein Teufel von verrücktem Frauenzimmer! Welch ein Wunder reinsten
Künstlersinns! Welch ein großer, ganz durchseelter Mensch! Und das Unenglischeste,
das man sich vorstellen kann! Und doch nur möglich mit diesem festen, starken
Hintergrund von Altengland! Und überhaupt erst verständlich aus der
elisabethanischen Zeit! Erst verständlich durch die Formel: ein Revenant der
elisabethanischen Zeit in der Viktorianischen! Und nun dies alles aber noch Musik
geworden! Und Musik geworden in einer Frau! Die Leute staunen, daß überhaupt eine
Frau Musik machen kann. Mir ist’s viel erstaunlicher, daß in ihr wieder einmal
jemand Musik macht, der, nach Shakespeares Wort, »Musik hat in sich selbst«!
Dieser erste weibliche Doktor der Musik (von Oxford, wenn ich mich recht erinnere;
sie sieht im Doktormantel ganz der Porzia gleich) macht nicht bloß Musik und hat
nicht bloß Musik, er ist Musik; und durch den wunderlichsten Zufall, ja man möchte
fast sagen: Mißgriff der Natur ist grad einer, dessen Wesen ganz Aug und Hand,
ganz nach Gestalt verlangende Bildkraft ist, unversehens Gehör, Widerklang der
Urwelt und tönend statt, wozu er geboren schien, zeigend, geworden! Und nicht
genug: jetzt setzt sich diese Frau, die mehr ein ganz kindlich gebliebener Mann
ist, diese Komponistin, mit der die Natur gewiß eigentlich eher einen Bildhauer,
wenn nicht einen Baumeister gemeint hat, eines Tages hin, erzählt ihr Leben
(leider zunächst in diesen zwei Bänden nur bis 1891) und zeigt unversehens, daß
sie nun auch noch schreiben kann, und mit Meisterschaft, nämlich so, daß ihr der
Bericht von Begebenheiten, auf den es ihr offenbar ganz allein ankommt, unter der
Hand ein Selbstbildnis von überwältigender Wahrheit wird! Nun versteht man erst,
wie sie’s wagen konnte, diese bestrickend entsetzliche Ethel Smyth zu werden, und
wodurch ihr das Wagnis gelingen konnte, Ethel Smyth zu sein! Nur von der
wunderbaren Sicherheit, die sie ihrer stockenglischen Herkunft und Erziehung
verdankt, aus hat sie sich ungestraft dem lateinischen Tropfen in ihrer Mutter
Blut anvertrauen dürfen und wieder nur im Gefühl dieses angestammten Lateins hat
sie sich so beschützt gewußt, daß sie sich von klein auf, by no means insular und
stolz darauf, jahrelang deutschem Wesen überlassen konnte: das ergab zuletzt, daß
aus einer närrischen kleinen Engländerin ein vollkommenes Exemplar des sonst ja
heute fast nur noch eine Buchexistenz, eine Wunschexistenz führenden guten
Europäers wurde. Und was das Herrliche daran und eigentlich das Geheimnis davon
ist: ganz unprogrammatisch! Ich bin, bei der größten Hochachtung der groß
gesinnten und rein gewillten Leute der Clarté, doch unfähig, mir vorzustellen, daß
man durch bloßen Beschluß und Entschluß von morgen an Europäer sein kann. Und
schon gar nicht dadurch, daß man sein eigenes Volk verabschiedet. Gerade die Ethel
ist mir wieder ein Beweis, daß es am besten noch gelingt, wenn man gar nicht daran
denkt, ja, wenn man sich in der eigenen Volksart so wohl und ihrer ganz unbefangen
so sicher fühlt, daß man sich ohne Gefahr neugierig mit allen anderen einlassen
kann: indem man sie der eigenen einzugliedern meint, ist man ihr auf einmal
entwachsen und weiß es selber noch gar nicht; die besten Europäer sind es
unwissentlich, ja sie gestehen sichs selber gar nicht ein (ja es kommt vor, daß
sie dann aus Trotz Nationalisten werden, in irgend einer Wahlnation, wie der
Milanese Stendhal oder der Alldeutsche Chamberlain). Auch Ethel verkündet: there
is no bridging the gulf between Latin ant Teutonic civilization, sie, die
Engländerin, die doch selber in ihrer Celtic exuberance eine so lebendige Brücke
zwischen Latein und Deutsch ist, ja sich, schon ihre Jugend in Deutschland
verbringend und später immer wieder nach Deutschland oder gar zu Deutschen
zurückkehrend, mit der Zeit so gründlich verdeutscht hat, daß sie, wie die ganz
echten Deutschen immer, jetzt eigentlich nur noch in Italien innerlich ganz daheim
ist... Sie hat freilich auch mit Deutschland Glück gehabt: sie kam, fast noch
Kind, 1877 als Musikstudentin nach Leipzig, da war noch das alte Deutschland, das
echte, das der Humanität unversehrt und der Biedermeier Hauch gab ihm gar noch
einen mit leiser Komik rührenden Reiz. Vielleicht »entdeckt« nächstens jemand die
siebziger Jahre: das Jahrzehnt, in dem Deutschland von sich selber zärtlich
Abschied nahm, vor dem Kopfsprung in den »Betrieb«, wär’s wert. Der Schilderung
Ethels hört man die sichere Kraft an, die diesen Enkeln das Gefühl einer großen
Überlieferung noch immer gab. Es erscheinen mit fast unheimlicher Gegenwart
Herzogenberg, der Leiter des Bach-Vereins, Elisabeth, seine wunderschöne Frau, der
ganze Kreis so redlicher, nur selber der hohen geistigen Erbschaft doch nicht mehr
ganz gewachsener und deshalb ins Theoretische flüchtender Menschen, gar aber
Brahms, für dessen Musik jung Ethel schwärmt, wie nur Engländerinnen schwärmen
können, was sie nicht hindert, die Barrieren seiner Menschlichkeit zu sehen.
Prachtvoll ist nämlich ihr unerbittlicher Liebesblick: sie vermag Menschen gut zu
sein und gut zu bleiben, ohne sie sich erst beschönigen zu müssen, sie läßt sich
einen großen Mann durch keine seiner Kleinigkeiten verleiden, aber freilich auch
diese Kleinlichkeiten, Ungezogenheiten, Albernheiten nicht für Tugenden einreden;
und gar unsere deutsche Gewohnheit, uns jedermann, mit dem wir verkehren, erst zum
Ideal zu stilisieren, es ihm dann aber niemals verzeihen zu können, daß er dieses
Ideal nicht ist, bleibt ihr ganz fremd. Sie hat eine wunderbare Freiheit, Menschen
im Ganzen zu nehmen, als Tatsachen sozusagen, die sich nicht schulmeistern lassen,
von denen aber auch ebenso sie selbst sich nicht schulmeistern läßt, wozu nun
freilich das große Gefühl der eigenen Sicherheit gehört, das doch seit dem civis
romanus erst wieder der Engländer hat. Gerade weil sie zu Menschen ganz
unsentimental steht, sieht sie sie viel reiner als Deutschen meistens gelingen
kann: wir nennen’s Freundschaft, uns eines anderen zu bemächtigen, und da dies
doch nie ganz glückt, sind wir immer wieder gekränkt und enttäuscht; wir können es
niemals ertragen, daß der andere stets anders ist, wie wir eben überhaupt niemals
die Wirklichkeit ertragen können, denn es fehlt ihr für uns an der Uniform. Das
ist auch der Grund, weshalb wir uns mit Mitmenschen, mit Freunden so wenig Mühe
geben: wenn ein Deutscher seinen Freund anders findet, als er ihn sich gedacht
hat, gibt er ihn auf. »Ich hätte das nie von dir erwartet!« heißt’s dann immer.
Daß jeder etwas enthält, was kein anderer je von ihm »erwarten« kann, und daß
gerade dies der Trieb alles Lebendigen, der Nerv unseres Schicksals ist, wollen
wir nimmer begreifen lernen. Es hat auch Ethel ihrer Freundin Herzogenberg
entfremdet, eigentlich nur durch ein Mißverständnis, aber ein tragisches, aus
Ungeduld, aus unserer deutschen Unlust am Anderssein des anderen. Ganz einfach und
gelassen erzählt, mit einer erschütternden Bemühung, gerecht zu sein, und der
ganzen Unerbittlichkeit des Lebens, hat das fast die grimmige Ruhe der
»Wahlverwandtschaften«: jeder ist eben, wie er sein muß, und wenn er daran
zugrunde geht, ist schließlich auch das nur in der Ordnung... Ethels merkwürdiges
Verhältnis zur Menschheit, das einer ganz respektlosen Ehrfurcht sozusagen,
befähigt sie zu Bildnissen von erstaunlicher Lebendigkeit, die, schon oft hart an
der Karikatur, immer im letzten Augenblick noch durch ein Lächeln gütigen
Verstehens wieder leise beschwichtigt wird. Aber das schönste, das reinste davon
ist das Henry Brewsters, der damit, zehn Jahre nach seinem Tod, zum erstenmal aus
dem geheimnisvollen Dunkel tritt, das bisher auch seine Werke nicht lichten
konnten oder nicht lichten wollten. My greatest friend nennt sie ihn, und the
wisest man I ever knew. Halb Engländer, halb Amerikaner, durch Erziehung in
Frankreich ein leidenschaftlicher Lateiner geworden, hat er den Sinn des Lebens in
seine Beherrschung gesetzt, was sonst meistens nur versucht, wer in sich nicht
sehr viel zu beherrschen hat. Hier aber hat es einmal ein Mann gewagt, der voll
Chaos war, kein geborner Impassible, sondern eher ein vom Andrang der Lebensfülle
hart bedrohter Titan, der selbst in der errungenen apollinischen Ruhe noch ein
Nachzittern dionysischer Leideslust nicht immer ganz verbergen kann. Durchaus
nicht eine jener Gestalten aus Marmor, die noch dazu meistens aus Gips sind,
sondern von der wirklichen Haltung feuriger Menschen, die nur nicht zündeln
wollen, aber flammen können. In der tour d’ivoire der Artisten lebend,
gleichgültig gegen Schicksal (die Nachricht, daß sein Schloß in Frankreich
abgebrannt ist, regt ihn nicht mehr auf, als wenn er sein Zigarrenetui verlegt
hätte), nur in sein Inneres blickend, den Abenteuern seiner Seele lauschend, nach
außen hin nur in intellectual relations, innerlich von fern fast ein bißchen an
jenen Grafen Robert Montesquiou erinnernd, der durch das Bild Whistlers
unsterblich geworden ist, ja fast auch zwar durchaus nicht an Oskar Wilde, aber an
eine Wilde-Figur, ist dieser stolze Bauherr seiner kristallinischen Lebensform
dann auf einmal wieder fähig, dostojewskisch auszurufen: » First think of persons
and then of ideas if you have leisure; ideas can wait.« Das ist ein Satz, so zum
Heulen gewaltig schön, daß ich nun seine Ame païenne (Paris 1902, Mercure de
France) wieder hernahm, die mir vor zehn Jahren allzu sehr nach einem Artisten
klang. Und siehe: jetzt ist sie mir auf einmal voll Anklang an unsere neueste
Urväterweisheit von Polarität, Indifferenz und Docta Ignorantia, an Laotse, Walt
Whitman und Friedländer! Hab ich jetzt erst lesen gelernt? Oder ist’s, weil jetzt
Ethel Smyth dem Gedruckten die Stimme des Lebens souffliert? | |