3. Februar [1920]

Hermann Bahr: 3. Februar [1920]. In: Kritik der Gegenwart. Augsburg: Haas & Grabherr 1922, S. 50–55.

Verfasser:in Bahr, Hermann
Titel 3. Februar [1920]
Gesamttitel Kritik der Gegenwart
Erschienen
  • Augsburg
  • Haas & Grabherr
  • 1922
  • Seite 50–55
Rezensiert
  • Ethel Smyth: Impressions that remained. Memoirs (1919)
Volltext Seit Jahren ist mir heut zum erstenmale wieder passiert, daß mich ein Buch einfach nicht mehr ausließ und ich nicht los konnte, bis ich durch die zwei dicken Bände durch und indessen der glitzernde Wintertag erloschen war: so jung hat mich unsere liebe Ethel Smyth mit ihren Erinnerungen gemacht, »Impressions that remained«. (In two Volumes. Logmans Green and Co., 29 Paternoster Row London.) Nur ist das freilich im Grunde gar kein Buch, es ist einfach diese himmlische unmögliche fabelhafte Ethel selbst, unmittelbar selbst, in der ganzen überwältigenden Evidenz ihrer bezaubernden Unglaublichkeit selbst, Gamin und Genie, Bohème und très femme du monde, junges Mädchen, alter Oberst und bon garçon in einer Person, und auch noch ein echter Künstler und der völligste Mensch dazu, ganz so wie sie damals in Wolken von Zigarettendampf mit gekreuzten Beinen arglos paradox auf dem Klavier in Keysers Hotel hoch oben saß oder sich in den Algenduft des Lidosands warf oder mit mir, gewaltig ausschreitend, durch die stille Golflandschaft von Sandwich, unweit von Canterbury, in kauderwelsch alle Fragen Himmels und der Erde platonisch durchstreifenden Gesprächen sich ruhelos erging. Welch ein Teufel von verrücktem Frauenzimmer! Welch ein Wunder reinsten Künstlersinns! Welch ein großer, ganz durchseelter Mensch! Und das Unenglischeste, das man sich vorstellen kann! Und doch nur möglich mit diesem festen, starken Hintergrund von Altengland! Und überhaupt erst verständlich aus der elisabethanischen Zeit! Erst verständlich durch die Formel: ein Revenant der elisabethanischen Zeit in der Viktorianischen! Und nun dies alles aber noch Musik geworden! Und Musik geworden in einer Frau! Die Leute staunen, daß überhaupt eine Frau Musik machen kann. Mir ist’s viel erstaunlicher, daß in ihr wieder einmal jemand Musik macht, der, nach Shakespeares Wort, »Musik hat in sich selbst«! Dieser erste weibliche Doktor der Musik (von Oxford, wenn ich mich recht erinnere; sie sieht im Doktormantel ganz der Porzia gleich) macht nicht bloß Musik und hat nicht bloß Musik, er ist Musik; und durch den wunderlichsten Zufall, ja man möchte fast sagen: Mißgriff der Natur ist grad einer, dessen Wesen ganz Aug und Hand, ganz nach Gestalt verlangende Bildkraft ist, unversehens Gehör, Widerklang der Urwelt und tönend statt, wozu er geboren schien, zeigend, geworden! Und nicht genug: jetzt setzt sich diese Frau, die mehr ein ganz kindlich gebliebener Mann ist, diese Komponistin, mit der die Natur gewiß eigentlich eher einen Bildhauer, wenn nicht einen Baumeister gemeint hat, eines Tages hin, erzählt ihr Leben (leider zunächst in diesen zwei Bänden nur bis 1891) und zeigt unversehens, daß sie nun auch noch schreiben kann, und mit Meisterschaft, nämlich so, daß ihr der Bericht von Begebenheiten, auf den es ihr offenbar ganz allein ankommt, unter der Hand ein Selbstbildnis von überwältigender Wahrheit wird! Nun versteht man erst, wie sie’s wagen konnte, diese bestrickend entsetzliche Ethel Smyth zu werden, und wodurch ihr das Wagnis gelingen konnte, Ethel Smyth zu sein! Nur von der wunderbaren Sicherheit, die sie ihrer stockenglischen Herkunft und Erziehung verdankt, aus hat sie sich ungestraft dem lateinischen Tropfen in ihrer Mutter Blut anvertrauen dürfen und wieder nur im Gefühl dieses angestammten Lateins hat sie sich so beschützt gewußt, daß sie sich von klein auf, by no means insular und stolz darauf, jahrelang deutschem Wesen überlassen konnte: das ergab zuletzt, daß aus einer närrischen kleinen Engländerin ein vollkommenes Exemplar des sonst ja heute fast nur noch eine Buchexistenz, eine Wunschexistenz führenden guten Europäers wurde. Und was das Herrliche daran und eigentlich das Geheimnis davon ist: ganz unprogrammatisch! Ich bin, bei der größten Hochachtung der groß gesinnten und rein gewillten Leute der Clarté, doch unfähig, mir vorzustellen, daß man durch bloßen Beschluß und Entschluß von morgen an Europäer sein kann. Und schon gar nicht dadurch, daß man sein eigenes Volk verabschiedet. Gerade die Ethe ist mir wieder ein Beweis, daß es am besten noch gelingt, wenn man gar nicht daran denkt, ja, wenn man sich in der eigenen Volksart so wohl und ihrer ganz unbefangen so sicher fühlt, daß man sich ohne Gefahr neugierig mit allen anderen einlassen kann: indem man sie der eigenen einzugliedern meint, ist man ihr auf einmal entwachsen und weiß es selber noch gar nicht; die besten Europäer sind es unwissentlich, ja sie gestehen sichs selber gar nicht ein (ja es kommt vor, daß sie dann aus Trotz Nationalisten werden, in irgend einer Wahlnation, wie der Milanese Stendhal oder der Alldeutsche Chamberlain). Auch Ethel verkündet: there is no bridging the gulf between Latin ant Teutonic civilization, sie, die Engländerin, die doch selber in ihrer Celtic exuberance eine so lebendige Brücke zwischen Latein und Deutsch ist, ja sich, schon ihre Jugend in Deutschland verbringend und später immer wieder nach Deutschland oder gar zu Deutschen zurückkehrend, mit der Zeit so gründlich verdeutscht hat, daß sie, wie die ganz echten Deutschen immer, jetzt eigentlich nur noch in Italien innerlich ganz daheim ist... Sie hat freilich auch mit Deutschland Glück gehabt: sie kam, fast noch Kind, 1877 als Musikstudentin nach Leipzig, da war noch das alte Deutschland, das echte, das der Humanität unversehrt und der Biedermeier Hauch gab ihm gar noch einen mit leiser Komik rührenden Reiz. Vielleicht »entdeckt« nächstens jemand die siebziger Jahre: das Jahrzehnt, in dem Deutschland von sich selber zärtlich Abschied nahm, vor dem Kopfsprung in den »Betrieb«, wär’s wert. Der Schilderung Ethels hört man die sichere Kraft an, die diesen Enkeln das Gefühl einer großen Überlieferung noch immer gab. Es erscheinen mit fast unheimlicher Gegenwart Herzogenberg, der Leiter des Bach-Vereins, Elisabeth, seine wunderschöne Frau, der ganze Kreis so redlicher, nur selber der hohen geistigen Erbschaft doch nicht mehr ganz gewachsener und deshalb ins Theoretische flüchtender Menschen, gar aber Brahms, für dessen Musik jung Ethel schwärmt, wie nur Engländerinnen schwärmen können, was sie nicht hindert, die Barrieren seiner Menschlichkeit zu sehen. Prachtvoll ist nämlich ihr unerbittlicher Liebesblick: sie vermag Menschen gut zu sein und gut zu bleiben, ohne sie sich erst beschönigen zu müssen, sie läßt sich einen großen Mann durch keine seiner Kleinigkeiten verleiden, aber freilich auch diese Kleinlichkeiten, Ungezogenheiten, Albernheiten nicht für Tugenden einreden; und gar unsere deutsche Gewohnheit, uns jedermann, mit dem wir verkehren, erst zum Ideal zu stilisieren, es ihm dann aber niemals verzeihen zu können, daß er dieses Ideal nicht ist, bleibt ihr ganz fremd. Sie hat eine wunderbare Freiheit, Menschen im Ganzen zu nehmen, als Tatsachen sozusagen, die sich nicht schulmeistern lassen, von denen aber auch ebenso sie selbst sich nicht schulmeistern läßt, wozu nun freilich das große Gefühl der eigenen Sicherheit gehört, das doch seit dem civis romanus erst wieder der Engländer hat. Gerade weil sie zu Menschen ganz unsentimental steht, sieht sie sie viel reiner als Deutschen meistens gelingen kann: wir nennen’s Freundschaft, uns eines anderen zu bemächtigen, und da dies doch nie ganz glückt, sind wir immer wieder gekränkt und enttäuscht; wir können es niemals ertragen, daß der andere stets anders ist, wie wir eben überhaupt niemals die Wirklichkeit ertragen können, denn es fehlt ihr für uns an der Uniform. Das ist auch der Grund, weshalb wir uns mit Mitmenschen, mit Freunden so wenig Mühe geben: wenn ein Deutscher seinen Freund anders findet, als er ihn sich gedacht hat, gibt er ihn auf. »Ich hätte das nie von dir erwartet!« heißt’s dann immer. Daß jeder etwas enthält, was kein anderer je von ihm »erwarten« kann, und daß gerade dies der Trieb alles Lebendigen, der Nerv unseres Schicksals ist, wollen wir nimmer begreifen lernen. Es hat auch Ethel ihrer Freundin Herzogenberg entfremdet, eigentlich nur durch ein Mißverständnis, aber ein tragisches, aus Ungeduld, aus unserer deutschen Unlust am Anderssein des a deren. Ganz einfach und gelassen erzählt, mit einer erschütternden Bemühung, gerecht zu sein, und der ganzen Unerbittlichkeit des Lebens, hat das fast die grimmige Ruhe der »Wahlverwandtschaften«: jeder ist eben, wie er sein muß, und wenn er daran zugrunde geht, ist schließlich auch das nur in der Ordnung... Ethels merkwürdiges Verhältnis zur Menschheit, das einer ganz respektlosen Ehrfurcht sozusagen, befähigt sie zu Bildnissen von erstaunlicher Lebendigkeit, die, schon oft hart an der Karikatur, immer im letzten Augenblick noch durch ein Lächeln gütigen Verstehens wieder leise beschwichtigt wird. Aber das schönste, das reinste davon ist das Henry Brewsters, der damit, zehn Jahre nach seinem Tod, zum erstenmal aus dem geheimnisvollen Dunkel tritt, das bisher auch seine Werke nicht lichten konnten oder nicht lichten wollten. My greatest friend nennt sie ihn, und the wisest man I ever knew. Halb Engländer, halb Amerikaner, durch Erziehung in Frankreich ein leidenschaftlicher Lateiner geworden, hat er den Sinn des Lebens in seine Beherrschung gesetzt, was sonst meistens nur versucht, wer in sich nicht sehr viel zu beherrschen hat. Hier aber hat es einmal ein Mann gewagt, der voll Chaos war, kein geborner Impassible, sondern eher ein vom Andrang der Lebensfülle hart bedrohter Titan, der selbst in der errungenen apollinischen Ruhe noch ein Nachzittern dionysischer Leideslust nicht immer ganz verbergen kann. Durchaus nicht eine jener Gestalten aus Marmor, die noch dazu meistens aus Gips sind, sondern von der wirklichen Haltung feuriger Menschen, die nur nicht zündeln wollen, aber flammen können. In der tour d’ivoire der Artisten lebend, gleichgültig gegen Schicksal (die Nachricht, daß sein Schloß in Frankreich abgebrannt ist, regt ihn nicht mehr auf, als wenn er sein Zigarrenetui verlegt hätte), nur in sein Inneres blickend, den Abenteuern seiner Seele lauschend, nach außen hin nur in intellectual relations, innerlich von fern fast ein bißchen an jenen Grafen Robert Montesquiou erinnernd, der durch das Bild Whistlers unsterblich geworden ist, ja fast auch zwar durchaus nicht an Oskar Wilde, aber an eine Wilde-Figur, ist dieser stolze Bauherr seiner kristallinischen Lebensform dann auf einmal wieder fähig, dostojewskisch auszurufen: » First think of persons and then of ideas if you have leisure; ideas can wait.« Das ist ein Satz, so zum Heulen gewaltig schön, daß ich nun seine Ame païenne (Paris 1902, Mercure de France) wieder hernahm, die mir vor zehn Jahren allzu sehr nach einem Artisten klang. Und siehe: jetzt ist sie mir auf einmal voll Anklang an unsere neueste Urväterweisheit von Polarität, Indifferenz und Docta Ignorantia, an Laotse, Walt Whitman und Friedländer! Hab ich jetzt erst lesen gelernt? Oder ist’s, weil jetzt Ethel Smyth dem Gedruckten die Stimme des Lebens souffliert? |
Zusammenfassung Bahr über die von ihm sehr bewunderte Ethel Smyth.
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