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Auf der Stadt lastet’s. Wie man im Hochsommer zuweilen bei noch
klarem Himmel ein Gewitter drohen spürt und nun nur wünscht, es bräche schon
endlich los und wäre wieder vorbei, voll Ungeduld, aber einer trägen, dumpfen,
machtlosen Ungeduld, weil ja der Mensch Unwetter doch weder aufhalten noch
beschleunigen kann. Ganz ebenso steht er jetzt hier vor seiner Zukunft, des
Gedankens, daß er selbst sie mitentscheiden, mitbestimmen könnte, ganz entwöhnt.
Jedermann hat das Gefühl, daß es so nicht weiter gehen kann, daß irgend etwas
geschehen muß; niemand hat ein Gefühl, was er zu tun hat, oder auch nur, daß er
selber überhaupt dabei mitzutun hat. Alle warten nur. Sie warten ins Ungewisse
hinein. Sie haben die Herrschaft über ihr Schicksal verloren. Jedermann begnügt
sich, Angst zu haben. Jedermann hat vor jedermann Angst. Und die Hauptangst
besteht im Grunde darin, daß niemand weiß, vor wem man eigentlich Angst zu haben
hat. Dem, der ihnen die Angst, vor jedermann Angst haben zu müssen, abnähme,
würden sie sich mit Haut und Haaren verschreiben. Es ist recht die Stimmung für
einen Diktator. Von rechts oder links, es wäre jeder willkommen, dem man es nur
glaubte, daß er einer ist. Doch man glaubt es keinem und es glaubt’s sich selber
keiner. Gerade das ist aber vielleicht die größte Gefahr, daß diese Bereitschaft
zum Diktator, Ungeduld nach dem Diktator durch den Druck ihrer Spannung bei der
nächsten Gelegenheit irgendeinen, der es sich sonst nie hätte träumen lassen,
verlocken wird, in Gottes Namen zur Aushilfe den Diktator zu spielen. Es ist
bisher vielleicht nur deswegen noch nicht geschehen, weil man im Grunde doch
selbst an den Diktator, den jedermann herbeiwünscht, eigentlich auch nicht glaubt.
Eigentlich möchte jede Partei, daß eine der Gegenparteien den Diktator stellen
soll, aber einen nur provisorischen Diktator, der unerbittlich die Ruhe,
Sicherheit und Ordnung schafft, in deren Schutz die anderen Parteien sich dann
gelassen über seinen Sturz verständigen und nachdem durch seine Kraft erst
Regieren überhaupt wieder möglich geworden, die Regierung wieder übernehmen
könnten. Es ist ganz lustig, wie eine Partei die andere insgeheim zur Diktatur
ermutigt, jede der anderen die Diktatur freundlich zuschiebt, zu der keine selber
Lust hat, so notwendig sie allen scheint. Aber da jede genau so schlau wie die
andere ist, sieht es vorderhand nicht danach aus, daß Regieren so bald überhaupt
wieder möglich werden könnte. Dieser geheime Ruf aller nach Diktatur kommt gar
nicht so sehr aus dem allgemeinen Bedürfnis nach Ordnung, das doch, wenn es
wirklich von allen so stark empfunden würde, gar nicht erst den Diktator nötig
hätte, als vielleicht eher aus dem allgemeinen Bedürfnis nach einem allen
gemeinsamen Gegensatz, dessen Druck einen so starken Widerstand aller fände, daß
in diesem gemeinsamen Widerstand endlich die bisher unüberwindlichen Gegensätze
der Parteien verschwänden. Wie nämlich sonst Monarchen zuweilen bei wachsender
Parteisucht im Innern sich nicht anders zu helfen wußten als durch äußeren Krieg,
um durch die Furcht vor dem äußeren Feind den inneren Zwist niederzuschlagen,
glaubt man jetzt, da jede Partei alle anderen Parteien so haßt, daß es keine der
anderen gönnt, die Ordnung zu machen, die doch alle wollen und ohne die doch alle
zugrunde gehen, nur noch von einer alle gleich bedrohenden, allen gleich
abscheulichen und so den Haß aller auf sich ableitenden und gleichsam aufsaugenden
Schreckensherrschaft, von rechts oder links, erhoffen zu können, daß in der
Aufwallung gegen sie die Deutschen doch wieder eine Nation werden könnten. Denn
das ist jetzt in Deutschland nicht bloß ein Klassenkampf, es ist kein Bürgerkrieg
mehr, sondern sie haben aufgehört, eine Nation zu sein. Daher auch das namenlose
Grauen, das aus den irren Augen aller Passanten blickt: denn das Leben des
Menschen wird wesenlos, der hinter seiner zufälligen Existenz nicht mehr die
beglückende Versicherung einer Nation fühlt. Der Sinn dieser zufälligen Existenz
kann es zuweilen sein, der Nation entraten zu können oder gar ihr entwachsen zu
müssen, ja sich nicht bloß ohne sie, sondern gegen sie zu behelfen, zu behaupten,
aber auch dann braucht er sie, die Nation muß da sein, damit er an ihr, und sei’s
zuweilen auch gegen sie, zu sich selber komme: der Mensch ohne Nation ist sinnlos.
Und wenn wir Deutschen jetzt nicht doch im letzten Augenblick noch die Kraft
finden, um jeden Preis, wieder eine Nation zu werden, dann wird Europa genötigt
sein, Wall und Graben um unsere Grenzen zu ziehen, um uns auszusperren,
abzusperren, denn eine solche Nomadenexistenz ohne Nation wäre das Chaos ...
Solche Gedanken, von einer Traurigkeit bis zu physischen Schmerzen, begleiten mich
nach Bogenhausen zu Thomas Mann. Der war mir immer schon wert, seit den
Buddenbrooks schon, doch erst der Krieg hat mich ganz fühlen lassen, was wir an
ihm haben: denn da war er ja fast der Einzige, der sich keinen Augenblick
verwirren oder auch nur leise verrücken ließ. Noch auf der Schule, als um 1890 ein
neues Deutschland begann, und schon längst berühmt, als um 1910 das neueste
Deutschland seine ersten Zeichen gab, steht er zwischen diesen beiden Generationen
und daß er sich so niemals als Ausdruck einer Generation gefühlt hat, und schon
gar nicht als ihr Anwalt, ja daß er, Lübecker, aus einer Stadt also mit Bürgertum,
das davor bewahrt geblieben, Bourgeoisie zu werden, der größten Seltenheit im
neuen Reich, doch durch einen exotischen Tropfen in seinem Blut aufgeschreckt,
sich von Anfang an als einen ganz besonderen Fall und durchaus in sich selbst
zurückgewiesen, auf sich selber angewiesen fühlen mußte, das hat ihn genötigt,
abseits zu leben, abseits, wo noch das alte Deutschland ist, das
Goethe-Deutschland. Die Goethe-Deutschen, denen alles zum Bilde wird, und dies im
doppelten Sinn, indem sie nämlich nicht bloß in jeder Erscheinung ein Abbild der
Ewigkeit ergreifen, sondern auch, was immer sie denken oder fühlen, sogleich zu
schauen und nachzubilden durch einen unwiderstehlichen Drang genötigt werden, sind
selten unter uns, noch seltener aber gar die, deren Augenschein nun noch nach
Musik verlangt, ja selbst schon unwillkürlich immer von seiner eigenen inneren
Musik begleitet ist. Die beiden höchsten Fälle des Goethe-Deutschen sind Wagner
und Nietzsche. Zu diesen tritt, wenn auch mit weit geringerer Kraft, ohne das
Exzessive der beiden im Guten wie im Bösen, Thomas Mann. Vom Erbschaden deutscher
Künstler: vom Schillerzug zum Redner sind in unserer Generation nur zwei ganz
verschont geblieben, George und Thomas Mann. George hat den gewaltigen Flug; ihm
fehlt nur die Demut der ganz Großen. Diese hat Thomas Mann, wenn er gleich die
Stufe Georges nicht erreicht, aber dafür mehr Fülle der Menschlichkeit bewahrt.
Demut ist im Grunde nichts als Gefühl für das Geheimnis um uns. Und dieses Gefühl
für das Geheimnis um uns, für das Anonyme des ganzen Lebens, dem wir uns nur stumm
verehrend hingeben können, ist es recht eigentlich, wodurch und woran Thomas Mann
immer wieder produktiv wird: alle seine Werke bilden immer etwas ab, was sich
nicht aussprechen läßt. Sie sagen darum auch eigentlich nichts, aber sie zeigen
das Unsägliche, sie bringen es. Daher aber auch sein Entsetzen vor der jüngsten
Generation, deren dämonische, ja geradezu teuflische Schönheit eben in dem
verruchten Ehrgeiz besteht, nichts mehr geheim zu lassen und auch die Tiefen der
Welt dem Worte preiszugeben. Mit ihr hat das redende Zeitalter, das überall mit
dem Bürgertum begann, den Gipfel erreicht und vielleicht wird gerade sie darum
sein Ende sein. Der »Zivilisationsliterat«, mit dem Thomas Manns »Betrachtungen
eines Unpolitischen« abrechnen, ist nun freilich, wie Thomas Mann selbst weiß,
nicht die jüngste Generation, der »Zivilisationsliterat« ist nur ihre Karikatur.
Er war schon lange vor ihr da, schon in unserer, ja gestehen wir es nur: in jedem
von uns selbst. Er ist vielleicht die Karikatur des deutschen Geistes überhaupt,
und seiner großen Kraft gerade, der von Thomas Mann selbst so sehr bewunderten
deutschen Leidenschaft, nämlich immerfort »protestieren« zu müssen, die dem
Deutschen keine Ruhe gibt, bis er zuletzt auch gegen sich selbst protestiert,
weshalb denn wahrhaft deutsch zu sein und bis ans Ende deutsch zu sein nur höchst
selten ein Deutscher unbeschädigt aushalten kann; nur die Deutschen mit ganz
großer innerer Gebundenheit, wie Kant, wie Goethe, wie Bismarck, nur die
selbstgebundenen Deutschen halten es aus, Nietzsche hielt es schon nicht mehr aus.
Und der schönsten Stelle seiner »Betrachtungen« eingedenk, der Stelle, die mich in
diesem wunderbaren Buch, dem deutschesten unserer Zeit, am tiefsten ergriffen hat,
möcht ich sagen: ganz und bis ans Ende deutsch zu sein ist einem Deutschen nur
dann erlaubt, wenn er noch »einen knienden Menschen« in sich hat. Überwältigend
ist jene Stelle bei Mann, mit ihrer Schilderung des Zaubers von Kirchen: »Zwei
Schritte seitwärts von der amüsanten Heerstraße des Fortschritts, und ein Asyl
umfängt dich, wo der Ernst, die Stille, der Todesgedanke im Rechte wohnen und das
Kreuz zur Anbetung erhöht ist. Welche Wohltat! Welche Genugtuung! Hier ist weder
von Politik noch von Geschäften die Rede, der Mensch ist Mensch hier, er hat ein
Herz und macht kein Hehl daraus, es herrscht reine, befreite, unbürgerlich
feierliche Menschlichkeit ... Der kniende Mensch, nein, meine Humanität nimmt kein
Ärgernis an diesem Bilde, im Gegenteil, es sagt ihr zu wie kein anderes, und zwar
vermöge seines antizivilen, anachronistischen, kühn-menschlichen Gepräges ... Wie
außerordentlich ist das Menschliche, welches doch das Wahre und Wesentliche ist!«
... Da hab ich mich endlich zu seinem Haus durchgefragt, das ich lange nicht
finden konnte. So groß und frei es dasteht, nur ein wenig abseits, es drückt sich
gleichsam aus der Gasse, recht ein Sinnbild seines Herrn, der, wie nicht viele von
uns, immer auf der Hut war, sich vom Ruhm nicht öffentlich verspeisen zu lassen.
Er kommt mir entgegen, auch er mit dem stillen Leidenszug, den jetzt jedes
deutsche Gesicht hat. Er gehört zu den wenigen unter uns, die noch die alte Kunst
des Gesprächs üben, des guten Gesprächs, worin einer am anderen produktiv wird und
zur eigenen Überraschung auf einmal reicher ist, als er sich sonst weiß, eine der
schönsten Formen des Eros, leider auch aussterbend, denn die meisten Deutschen
halten jetzt, auch zu zweit oder dritt, ja nur noch fortwährend Monologe. So
sitzen wir traulich und er beginnt, fast mit einem leisen Erschrecken, mir zu
widerstreben erst, als ich sage, die tiefe Wirkung seines Buches, eben jener
»Betrachtungen«, verpflichte ihn, das Amt, das er damit übernommen, das Amt eines
Hüters oder Schatzbewahrers unserer großen deutschen Tradition nun auch
durchzuführen, gerade jetzt, wo dies Goethe-Deutschland unmittelbar an seinem
Leben selbst bedroht sei. Daß ihn, den gebornen Bildner, ein solches aufs Reden
angewiesenes Amt nicht lockt, daß er es eher als eine Gefahr für sich, vielleicht
als Untreue gegen sich empfinden mag, kann ich sehr gut verstehen. Aber wenn es
ein ungeheures Opfer ist, auch der Augenblick, der es fordert, ist ungeheuer: denn
dieser Aufstand der Barbaren aus unserer eigenen Mitte, den Rodbertus schon vor
fünfzig Jahren vorausgesagt hat, droht uns in die Zeit unmittelbar nach dem
Dreißigjährigen Krieg, in ein Deutschland vor der deutschen Musik zurückzuwerfen
und die paar Menschen unter uns, die noch ermessen können, was es für die große
Symphonie der abendländischen Kultur zu bedeuten hat, wenn in ihr die deutsche
Stimme verstummt, dürfen jetzt an nichts denken als zu retten, was nur irgend noch
insgeheim zu retten ist, damit doch wenigstens eine sagenhafte Kunde von dem, was
Goethe-Deutschland war und was es der Menschheit hätte sein können, wenn es nicht
an den »Betrieb« verraten worden wäre, damit doch wenigstens eine sagenhafte Kunde
von den menschlichen Elementen der deutschen Musik erhalten bleibt. | |