Tagebuch. München, 9. März

Hermann Bahr: Tagebuch. München, 9. März. In: Neues Wiener Journal, Jg. 28, Nr. 9488, 4.4.1920, S. 5–6.

Verfasser:in Bahr, Hermann
Titel Tagebuch. München, 9. März
Periodikum Neues Wiener Journal
Erschienen
  • 4.4.1920
  • Jahrgang 28
  • Nummer 9488
  • Seite 5–6
Volltext Auf der Stadt lastet’s. Wie man im Hochsommer zuweilen bei noch klarem Himmel ein Gewitter drohen spürt und nun nur wünscht, es bräche schon endlich los und wäre wieder vorbei, voll Ungeduld, aber einer trägen, dumpfen, machtlosen Ungeduld, weil ja der Mensch Unwetter doch weder aufhalten noch beschleunigen kann. Ganz ebenso steht er jetzt hier vor seiner Zukunft, des Gedankens, daß er selbst sie mitentscheiden, mitbestimmen könnte, ganz entwöhnt. Jedermann hat das Gefühl, daß es so nicht weiter gehen kann, daß irgend etwas geschehen muß; niemand hat ein Gefühl, was er zu tun hat, oder auch nur, daß er selber überhaupt dabei mitzutun hat. Alle warten nur. Sie warten ins Ungewisse hinein. Sie haben die Herrschaft über ihr Schicksal verloren. Jedermann begnügt sich, Angst zu haben. Jedermann hat vor jedermann Angst. Und die Hauptangst besteht im Grunde darin, daß niemand weiß, vor wem man eigentlich Angst zu haben hat. Dem, der ihnen die Angst, vor jedermann Angst haben zu müssen, abnähme, würden sie sich mit Haut und Haaren verschreiben. Es ist recht die Stimmung für einen Diktator. Von rechts oder links, es wäre jeder willkommen, dem man es nur glaubte, daß er einer ist. Doch man glaubt es keinem und es glaubt’s sich selber keiner. Gerade das ist aber vielleicht die größte Gefahr, daß diese Bereitschaft zum Diktator, Ungeduld nach dem Diktator durch den Druck ihrer Spannung bei der nächsten Gelegenheit irgendeinen, der es sich sonst nie hätte träumen lassen, verlocken wird, in Gottes Namen zur Aushilfe den Diktator zu spielen. Es ist bisher vielleicht nur deswegen noch nicht geschehen, weil man im Grunde doch selbst an den Diktator, den jedermann herbeiwünscht, eigentlich auch nicht glaubt. Eigentlich möchte jede Partei, daß eine der Gegenparteien den Diktator stellen soll, aber einen nur provisorischen Diktator, der unerbittlich die Ruhe, Sicherheit und Ordnung schafft, in deren Schutz die anderen Parteien sich dann gelassen über seinen Sturz verständigen und nachdem durch seine Kraft erst Regieren überhaupt wieder möglich geworden, die Regierung wieder übernehmen könnten. Es ist ganz lustig, wie eine Partei die andere insgeheim zur Diktatur ermutigt, jede der anderen die Diktatur freundlich zuschiebt, zu der keine selber Lust hat, so notwendig sie allen scheint. Aber da jede genau so schlau wie die andere ist, sieht es vorderhand nicht danach aus, daß Regieren so bald überhaupt wieder möglich werden könnte. Dieser geheime Ruf aller nach Diktatur kommt gar nicht so sehr aus dem allgemeinen Bedürfnis nach Ordnung, das doch, wenn es wirklich von allen so stark empfunden würde, gar nicht erst den Diktator nötig hätte, als vielleicht eher aus dem allgemeinen Bedürfnis nach einem allen gemeinsamen Gegensatz, dessen Druck einen so starken Widerstand aller fände, daß in diesem gemeinsamen Widerstand endlich die bisher unüberwindlichen Gegensätze der Parteien verschwänden. Wie nämlich sonst Monarchen zuweilen bei wachsender Parteisucht im Innern sich nicht anders zu helfen wußten als durch äußeren Krieg, um durch die Furcht vor dem äußeren Feind den inneren Zwist niederzuschlagen, glaubt man jetzt, da jede Partei alle anderen Parteien so haßt, daß es keine der anderen gönnt, die Ordnung zu machen, die doch alle wollen und ohne die doch alle zugrunde gehen, nur noch von einer alle gleich bedrohenden, allen gleich abscheulichen und so den Haß aller auf sich ableitenden und gleichsam aufsaugenden Schreckensherrschaft, von rechts oder links, erhoffen zu können, daß in der Aufwallung gegen sie die Deutschen doch wieder eine Nation werden könnten. Denn das ist jetzt in Deutschland nicht bloß ein Klassenkampf, es ist kein Bürgerkrieg mehr, sondern sie haben aufgehört, eine Nation zu sein. Daher auch das namenlose Grauen, das aus den irren Augen aller Passanten blickt: denn das Leben des Menschen wird wesenlos, der hinter seiner zufälligen Existenz nicht mehr die beglückende Versicherung einer Nation fühlt. Der Sinn dieser zufälligen Existenz kann es zuweilen sein, der Nation entraten zu können oder gar ihr entwachsen zu müssen, ja sich nicht bloß ohne sie, sondern gegen sie zu behelfen, zu behaupten, aber auch dann braucht er sie, die Nation muß da sein, damit er an ihr, und sei’s zuweilen auch gegen sie, zu sich selber komme: der Mensch ohne Nation ist sinnlos. Und wenn wir Deutschen jetzt nicht doch im letzten Augenblick noch die Kraft finden, um jeden Preis, wieder eine Nation zu werden, dann wird Europa genötigt sein, Wall und Graben um unsere Grenzen zu ziehen, um uns auszusperren, abzusperren, denn eine solche Nomadenexistenz ohne Nation wäre das Chaos ... Solche Gedanken, von einer Traurigkeit bis zu physischen Schmerzen, begleiten mich nach Bogenhausen zu Thomas Mann. Der war mir immer schon wert, seit den Buddenbrooks schon, doch erst der Krieg hat mich ganz fühlen lassen, was wir an ihm haben: denn da war er ja fast der Einzige, der sich keinen Augenblick verwirren oder auch nur leise verrücken ließ. Noch auf der Schule, als um 1890 ein neues Deutschland begann, und schon längst berühmt, als um 1910 das neueste Deutschland seine ersten Zeichen gab, steht er zwischen diesen beiden Generationen und daß er sich so niemals als Ausdruck einer Generation gefühlt hat, und schon gar nicht als ihr Anwalt, ja daß er, Lübecker, aus einer Stadt also mit Bürgertum, das davor bewahrt geblieben, Bourgeoisie zu werden, der größten Seltenheit im neuen Reich, doch durch einen exotischen Tropfen in seinem Blut aufgeschreckt, sich von Anfang an als einen ganz besonderen Fall und durchaus in sich selbst zurückgewiesen, auf sich selber angewiesen fühlen mußte, das hat ihn genötigt, abseits zu leben, abseits, wo noch das alte Deutschland ist, das Goethe-Deutschland. Die Goethe-Deutschen, denen alles zum Bilde wird, und dies im doppelten Sinn, indem sie nämlich nicht bloß in jeder Erscheinung ein Abbild der Ewigkeit ergreifen, sondern auch, was immer sie denken oder fühlen, sogleich zu schauen und nachzubilden durch einen unwiderstehlichen Drang genötigt werden, sind selten unter uns, noch seltener aber gar die, deren Augenschein nun noch nach Musik verlangt, ja selbst schon unwillkürlich immer von seiner eigenen inneren Musik begleitet ist. Die beiden höchsten Fälle des Goethe-Deutschen sind Wagner und Nietzsche. Zu diesen tritt, wenn auch mit weit geringerer Kraft, ohne das Exzessive der beiden im Guten wie im Bösen, Thomas Mann. Vom Erbschaden deutscher Künstler: vom Schillerzug zum Redner sind in unserer Generation nur zwei ganz verschont geblieben, George und Thomas Mann. George hat den gewaltigen Flug; ihm fehlt nur die Demut der ganz Großen. Diese hat Thomas Mann, wenn er gleich die Stufe Georges nicht erreicht, aber dafür mehr Fülle der Menschlichkeit bewahrt. Demut ist im Grunde nichts als Gefühl für das Geheimnis um uns. Und dieses Gefühl für das Geheimnis um uns, für das Anonyme des ganzen Lebens, dem wir uns nur stumm verehrend hingeben können, ist es recht eigentlich, wodurch und woran Thomas Mann immer wieder produktiv wird: alle seine Werke bilden immer etwas ab, was sich nicht aussprechen läßt. Sie sagen darum auch eigentlich nichts, aber sie zeigen das Unsägliche, sie bringen es. Daher aber auch sein Entsetzen vor der jüngsten Generation, deren dämonische, ja geradezu teuflische Schönheit eben in dem verruchten Ehrgeiz besteht, nichts mehr geheim zu lassen und auch die Tiefen der Welt dem Worte preiszugeben. Mit ihr hat das redende Zeitalter, das überall mit dem Bürgertum begann, den Gipfel erreicht und vielleicht wird gerade sie darum sein Ende sein. Der »Zivilisationsliterat«, mit dem Thomas Manns »Betrachtungen eines Unpolitischen« abrechnen, ist nun freilich, wie Thomas Mann selbst weiß, nicht die jüngste Generation, der »Zivilisationsliterat« ist nur ihre Karikatur. Er war schon lange vor ihr da, schon in unserer, ja gestehen wir es nur: in jedem von uns selbst. Er ist vielleicht die Karikatur des deutschen Geistes überhaupt, und seiner großen Kraft gerade, der von Thomas Mann selbst so sehr bewunderten deutschen Leidenschaft, nämlich immerfort »protestieren« zu müssen, die dem Deutschen keine Ruhe gibt, bis er zuletzt auch gegen sich selbst protestiert, weshalb denn wahrhaft deutsch zu sein und bis ans Ende deutsch zu sein nur höchst selten ein Deutscher unbeschädigt aushalten kann; nur die Deutschen mit ganz großer innerer Gebundenheit, wie Kant, wie Goethe, wie Bismarck, nur die selbstgebundenen Deutschen halten es aus, Nietzsche hielt es schon nicht mehr aus. Und der schönsten Stelle seiner »Betrachtungen« eingedenk, der Stelle, die mich in diesem wunderbaren Buch, dem deutschesten unserer Zeit, am tiefsten ergriffen hat, möcht ich sagen: ganz und bis ans Ende deutsch zu sein ist einem Deutschen nur dann erlaubt, wenn er noch »einen knienden Menschen« in sich hat. Überwältigend ist jene Stelle bei Mann, mit ihrer Schilderung des Zaubers von Kirchen: »Zwei Schritte seitwärts von der amüsanten Heerstraße des Fortschritts, und ein Asyl umfängt dich, wo der Ernst, die Stille, der Todesgedanke im Rechte wohnen und das Kreuz zur Anbetung erhöht ist. Welche Wohltat! Welche Genugtuung! Hier ist weder von Politik noch von Geschäften die Rede, der Mensch ist Mensch hier, er hat ein Herz und macht kein Hehl daraus, es herrscht reine, befreite, unbürgerlich feierliche Menschlichkeit ... Der kniende Mensch, nein, meine Humanität nimmt kein Ärgernis an diesem Bilde, im Gegenteil, es sagt ihr zu wie kein anderes, und zwar vermöge seines antizivilen, anachronistischen, kühn-menschlichen Gepräges ... Wie außerordentlich ist das Menschliche, welches doch das Wahre und Wesentliche ist!« ... Da hab ich mich endlich zu seinem Haus durchgefragt, das ich lange nicht finden konnte. So groß und frei es dasteht, nur ein wenig abseits, es drückt sich gleichsam aus der Gasse, recht ein Sinnbild seines Herrn, der, wie nicht viele von uns, immer auf der Hut war, sich vom Ruhm nicht öffentlich verspeisen zu lassen. Er kommt mir entgegen, auch er mit dem stillen Leidenszug, den jetzt jedes deutsche Gesicht hat. Er gehört zu den wenigen unter uns, die noch die alte Kunst des Gesprächs üben, des guten Gesprächs, worin einer am anderen produktiv wird und zur eigenen Überraschung auf einmal reicher ist, als er sich sonst weiß, eine der schönsten Formen des Eros, leider auch aussterbend, denn die meisten Deutschen halten jetzt, auch zu zweit oder dritt, ja nur noch fortwährend Monologe. So sitzen wir traulich und er beginnt, fast mit einem leisen Erschrecken, mir zu widerstreben erst, als ich sage, die tiefe Wirkung seines Buches, eben jener »Betrachtungen«, verpflichte ihn, das Amt, das er damit übernommen, das Amt eines Hüters oder Schatzbewahrers unserer großen deutschen Tradition nun auch durchzuführen, gerade jetzt, wo dies Goethe-Deutschland unmittelbar an seinem Leben selbst bedroht sei. Daß ihn, den gebornen Bildner, ein solches aufs Reden angewiesenes Amt nicht lockt, daß er es eher als eine Gefahr für sich, vielleicht als Untreue gegen sich empfinden mag, kann ich sehr gut verstehen. Aber wenn es ein ungeheures Opfer ist, auch der Augenblick, der es fordert, ist ungeheuer: denn dieser Aufstand der Barbaren aus unserer eigenen Mitte, den Rodbertus schon vor fünfzig Jahren vorausgesagt hat, droht uns in die Zeit unmittelbar nach dem Dreißigjährigen Krieg, in ein Deutschland vor der deutschen Musik zurückzuwerfen und die paar Menschen unter uns, die noch ermessen können, was es für die große Symphonie der abendländischen Kultur zu bedeuten hat, wenn in ihr die deutsche Stimme verstummt, dürfen jetzt an nichts denken als zu retten, was nur irgend noch insgeheim zu retten ist, damit doch wenigstens eine sagenhafte Kunde von dem, was Goethe-Deutschland war und was es der Menschheit hätte sein können, wenn es nicht an den »Betrieb« verraten worden wäre, damit doch wenigstens eine sagenhafte Kunde von den menschlichen Elementen der deutschen Musik erhalten bleibt. |
Zusammenfassung Das gesellschaftlich wahrgenommene Bedürfnis nach einem Diktator und wenn es nur ein Aushilfsdiktor ist, deprimiert Bahr. Er spricht mit Thomas Mann über dessen »Betrachtungen eines Unpolitischen«.
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Alternative Drucke Hermann Bahr: 9. März [1920]. In: Kritik der Gegenwart. Augsburg: Haas & Grabherr 1922, S. 80–85.
Schlagwörter Artikel in einem Periodikum, Tagebuch