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Goethe schreibt einmal an Karl Friedrich v. Reinhard: »In Ihrem
Urteil über Corinna hat mich Ihr treffender Geradsinn abermals sehr erfreut. Sie
lassen ihr vollkommen Gerechtigkeit widerfahren, und das, was Sie tadeln, möchte
ich nicht in Schutz nehmen. Nur gestehe ich gern, daß ich gegen dieses Werk wie
gegen alles Hervorgebrachte nachsichtiger und schonender verfahre, indem schon
Talent erfordert wird, auch das, was nicht recht ist, hervorzubringen.« Vielleicht
wird man unserer Zeit und ihren Werken überhaupt erst dann gerecht, wenn man so
weit ist, zu bemerken, daß ihr das Gefühl für das, was recht ist, ja noch mehr:
das Gefühl, daß es überhaupt Rechtes und Unrechtes gibt, daß auch in der Kunst ein
Unterschied zwischen Rechtem und Unrechtem ist, fehlt und fehlen muß, weil man ja
nicht, was allgemein abgeschafft worden ist, an einer einzelnen Stelle bewahren
kann. Steht es jedermann frei, Gott abzusetzen oder einen Gott nach eigener Wahl
für sich einzusetzen, und gilt als Gesetz alles, was dazu durch den Beschluß einer
zufälligen Mehrheit ernannt worden ist, so sieht man in der Tat nicht ein, warum
gerade nur das Schöne noch der Willkür, der man das Wahre längst preisgegeben hat,
entrückt bleiben sollte. Alle Bindungen sind zerstört und eigentlich ist es ja
schon höchst inkonsequent, daß wir uns noch vorschreiben lassen, ob eine
Präposition den Dativ oder den Akkusativ verlangt. Gar seit wir uns jetzt auch von
der Sonne noch befreit haben und selber ohne sie nach Gutdünken festsetzen, wie
viel Uhr es zu sein hat! In einer Zeit, die nicht mehr glaubt, daß es irgend etwas
gibt, was an sich recht wäre, was auf jeden Fall recht wäre, was, auch unerkannt,
recht wäre, in solcher Zeit überhaupt noch irgend etwas hervorzubringen, das
erfordert wahrscheinlich ein viel gewaltigeres Talent, als Zeiten, die noch Recht
und Unrecht anerkennen, zu vollkommenen Werken brauchen. Und haben wir nur
nächstens erst, was nicht ausbleiben kann, auch noch den letzten Zwang der Syntax
abgetan, so wird ein ungeheurer Aufwand von Talent dazu gehören, um auch nur einen
einzigen Satz zu schreiben, der sich aus eigener Macht das Vertrauen der Leser
erzwingt. Auch der Satzbau beruht ja nämlich auf Sittlichkeit. Aber woher nehmen?
Denn, wie schon der gute alte Fontane wußte, »die Kunst der Lebensführung besteht
bekanntlich darin, mit gerade soviel Dampf zu fahren, wie gerade da ist«. Und es
ist halt jetzt gar keiner da! | |