Tagebuch. 7. Mai

Hermann Bahr: Tagebuch. 7. Mai. In: Neues Wiener Journal, Jg. 28, Nr. 9548, 6.6.1920, S. 5–6.

Verfasser:in Bahr, Hermann
Titel Tagebuch. 7. Mai
Periodikum Neues Wiener Journal
Erschienen
  • 6.6.1920
  • Jahrgang 28
  • Nummer 9548
  • Seite 5–6
Rezensiert
  • Bernhard Wilhelm von Bülow: Revision durch oder ohne VölkerbundDeutsche Nation
Volltext Das Aprilheft der »Deutschen Nation«, einer von Mark Neven du Mont geführten (bei der Deutschen Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, Charlottenburg, erscheinenden) Zeitschrift, die tapfer noch immer an ein zwischen Bolschewismus und Reaktion schließlich doch durchdringendes Deutschland eigener, nicht die westlichen nachäffender Demokratie glaubt und diesem neuen Vaterland durch Gründe besser zu dienen meint als mit Aufregung, Grimassen und Lärm, bringt einen Aufsatz B. W. v. Bülows: »Revision durch oder ohne Völkerbund«. Ohne Deutschland sei der Wiederaufbau Europas unmöglich. Es braucht uns. Wir können also jetzt unsere Bedingungen stellen. Sollen wir uns da den Zutritt zum Völkerbund ausbedingen? Bülow warnt davor. Er rät lieber einen Gegenbund an, eine »Liga der unterdrückten Nationen«. Und er führt seine Sache mit solchen Gewichten, daß man ihm willig folgt, bis es dann auf einmal heißt: »Eine weitere nicht zu unterschätzende Gefahr für Deutschland als Mitglied des Völkerbundes würden die geheimen Sitzungen des Rates bedeuten. Selbst als Mitglied dieses Rates wäre Deutschland in einer heiklen Lage. Unsere Feinde entsenden in diese Versammlung durchaus skrupellose Vertreter, gewandte und erfahrene Politiker. Es bedarf nicht der Ausführung, daß der deutschen Regierung keine Persönlichkeiten zur Verfügung stehen, die diesen Gegnern gewachsen wären.« Ich erschrak, als ich das las. Ich dachte mir: Um Gottes willen, wenn das zufällig einem Engländer oder einem Franzosen unterkommt, was soll der von uns denken? Und was kann eigentlich ein Volk noch für sich erwarten, für sich verlangen, das öffentlich ruhig eingesteht, daß ihm Eigenschaften fehlen, die zur Politik unentbehrlich sind, ja das darauf noch pocht, ja das fast damit noch prahlt? Ich weiß schon, was der Verfasser meint. Auch mir gilt es für ausgemacht, daß Politik etwas ist, worauf sich kein anständiger Mensch einlassen kann, ohne innerlich beschädigt zu werden; ich zog auch daraus selbst den Schluß, mich im Politischen immer nur aufs Zusehen zu beschränken, niemals aber mitzutun. Und auch mir schien es stets einer unserer schönsten Züge, daß der richtige Deutsche politisch unfähig und unbrauchbar ist. Nur muß dann aber das deutsche Volk doch auch denselben Schluß daraus ziehen, den ich für mich daraus zog. Es könnte sagen: ich war niemals größer als in Zeiten politischen Elends, es wäre doch auch für ein Volk, das mit der deutschen Musik und mit der deutschen Philosophie gesegnet ist, zuviel des Guten, auch noch politisch begabt zu sein; der Preis ist mir auch zu hoch und meine Seele zu lieb; verschieden sind die Gaben ausgeteilt, mag ein jedes mit der seinen wuchern, mir genügt’s das Gewissen des Abendlandes zu sein! Und das deutsche Volk könnte sich, wenn es so spräche, auf seine besten Söhne, von Goethe über Nietzsche bis auf Thomas Mann, berufen. Und auch darauf, daß unser Verhältnis zu den Griechen ja nichts Zufälliges ist, die doch auch, bei so himmlischen Gaben, politisch unvermögend waren, aber gerade, nachdem ihre äußere Form zerbrochen, als Hellenisten erst das Salz der Erde wurden. Vielleicht ist auch uns eine Griechenexistenz unter den Völkern beschieden. Wenn Goethe schreibt: »Wir sind niemals politisch bedeutend gewesen, unsere ganze Bedeutung bestand in einer gegen unsere Kräfte disproportionierten Beförderung der Künste und Wissenschaften; von anderen Seiten sind wir jetzt so wenig und weniger als sonst«, so spricht er allerdings an dieser Stelle (in einem Brief an Cotta vom 7. Oktober 1807) zunächst nur von Weimar und für Weimar. Aber daß er auch für Deutschland überhaupt dasselbe meinte, hat er durch sein Verhältnis zu Napoleon dargetan. Nahm uns dieser die politischen Sorgen ab, so konnten wir hinfort unsere ganze Kraft daran wenden, Kunst und Wissenschaft zu bestellen: für Goethes Gefühl kamen wir dabei nicht zu kurz, er fand darin nur das Gesetz alles Lebendigen wieder bestätigt, das er in der Metamorphose der Tiere verkündet: »Siehst du also dem einen Geschöpf besonderen Vorzug Irgend gegönnt, so frage nur gleich: Wo leidet es etwa Mangel anderswo? und suche mit forschendem Geiste; Finden wirst du sogleich zu aller Bildung den Schlüssel.« Immer haben wir, unsere ganze Geschichte bezeugt es auf jedem Blatt, immer haben wir unseren in die Tiefe blickenden Sinn, das Gefühl fürs Unendliche, die metaphysische Begabung, wodurch wir uns vor allen anderen Völkern auszeichnen und ihre Führer wurden, mit politischer Unfähigkeit bezahlen müssen; im Irdischen kamen wir immer zu spät. Ich empfinde gerade dies als unseren höchsten Ruhm und würde mir gerade darum, wenn mich das Schicksal unter den Nationen wählen ließe, doch immer wieder ausbitten, ein Deutscher zu sein: wir leben der Ewigkeit näher als irgend ein anderes abendländisches Volk. Aber ich kann mir schon auch Deutsche denken, die diese Zumutung, auf irdische Gewalt zu verzichten, empört. Allem Lebendigen ist auch wieder eine Sehnsucht über sich hinaus, ein verwegener Drang, seiner Grenzen zu spotten, eine Lust nach dem Verbotenen beigemischt. Und gerade die Gier nach Selbstüberwindung, diese höchste Leidenschaft der Deutschen ist es vielleicht, die uns zum tragischen Volke macht, wieder wie die Griechen einst. Wie jedem einzelnen von uns in seiner eigenen Persönlichkeit nicht Raum genug ist, wie jeder einzelne nicht bloß sich selbst, sondern dann auch noch seinen eigenen Widerspruch dazu will, wie dem einzelnen sein eigenes Maß niemals genügt, so scheint es auch über unser ganzes Volk verhängt, durchaus der Totalität nicht entsagen zu können, die doch nun einmal keinem Volke bestimmt ist, sondern nur von allen zusammen erst erreicht wird. So werden immer wieder Männer unter uns aufstehen, das deutsche Volk aufscheuchend, auftreibend und über die Grenzen seiner Kraft, seiner Bestimmung emporreißend. Sie werden uns immer wieder ins Unglück bringen, aber immer wieder in solches Unglück zu kommen macht vielleicht recht eigentlich das deutsche Glück aus. »Den lieb ich, der Unmögliches begehrt,« sagt die Manto. Daß wir dieser Liebe zum Unmöglichen, zu dem von vorneherein als unmöglich Erkannten und nur eben, weil es uns unmöglich ist, nur aus der Lust an von vorneherein verlorenem Wagnis Gewagten nicht widerstehen können, gerade dies hängt doch auch wieder geheimnisvoll irgendwie mit unserem metaphysischen Sinne zusammen, den irdisches Mißlingen, auch wenn er es voraus sieht, nicht abschreckt, für den es eher ein Reiz ist. Wer das noch nicht bemerkt hat, mag’s im Nibelungenlied nachlesen. Und wer jung genug ist, kann die Zeit erleben, die diesen Krieg, gerade diesen von vornherein verlorenen Krieg, als eine wahrhaft deutsche Tat, ja geradezu wie den deutschen Mythos selber empfinden wird. Und so bin ich der Letzte, den großen Sinn gerade jener tragischen Deutschen zu verkennen, die selbst heute noch das deutsche Volk über seine Grenzen drängen: zur Politik, die nun einmal seinem Wesen immer ein fremdes Abenteuer bleibt. Ich meine nur, daß wir uns aber entscheiden müssen. Wir können uns dafür entscheiden, jetzt wieder einmal eine Zeitlang in unseren Grenzen zu bleiben, unserer Sendung zu dienen, wieder das metaphysische Volk zu sein, ganz unpolitisch. Und wir können uns auch entscheiden, das Abenteuer großer Politik nun erst recht zu wagen. Aber beides zusammen wird nicht gehen. Anerkennen, daß wir zur Ausübung politischer Kunst nicht taugen, ja dies für uns als einen Vorzug, als ein Zeichen unserer Überlegenhelt über andere Völker ansprechen, dann aber dennoch gerade das, wozu wir uns selber untauglich erkennen und erklären, versuchen, nicht etwa mit dem grandiosen Trotz des tragisch sein Schicksal bewußt Überschreitenden versuchen, sondern mit der albernen Anmaßung des Dilettanten, den immer gerade das am meisten reizt, was er am wenigsten kann, und es dann noch den anderen übelnehmen, wenn es uns dabei kläglich ergeht, ist doch gar zu töricht. Entscheiden wir uns, Weltpolitik zu machen, so werden wir schon auch den dazu nötigen Vorrat an Gemeinheit aufbringen müssen. Aber sich niemals entscheiden zu können, ist der Fluch der heutigen Deutschen. So haben wir doch auch Pazifisten, die der Gedanke den künftigen Krieg vorzubereiten, empört, aber die nun deshalb durchaus nicht auf Wohlstand zu verzichten, durchaus nicht sich mit einem dürftigen Winkeldasein unserer Nation zu begnügen, durchaus nicht einzuwilligen bereit sind, daß wir dann eben fortan ein nichtssagendes Volk sein werden, wie die Portugiesen, wie die heutigen Griechen, wie früher die Serben. Nein, unsere Pazifisten möchten, daß wir waffenlos so groß wirtschaften, wie das immer nur einer schreckenerregenden Waffenmacht zugestanden wird. Sich einen Zweck zu setzen, dann aber die Mittel zu diesem Zweck zu versagen, ist die Art der heutigen Deutschen. Und sie meinen immer, daß sich ihnen zuliebe der Mensch auf einmal ändern wird. |
Zusammenfassung Man sollte sich die Frage erlauben, ob Deutschland politisch unbegabt sei und deswegen völlig auf Politik verzichten und sich einer Innerlichkeit zuwenden solle. Aber die Pazifisten begriffen das nicht.
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Alternative Drucke Hermann Bahr: 7. Mai [1920]. In: Kritik der Gegenwart. Augsburg: Haas & Grabherr 1922, S. 135–139.
Schlagwörter Artikel in einem Periodikum, Tagebuch