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Keynes, »The economic consequences of the peace«, im Augenblick
das berühmteste Buch Europas, ist jetzt auch deutsch erschienen (bei Duncker und
Humblot in München und Leipzig). John Maynard Keynes, Kings College Cambridge,
noch nicht vierzig, seit 1912 Editor des »Economic Journal«, zunächst durch ein
Werk über »Indian Currency and Finance« bekannt geworden, zu Beginn des Krieges
ins Schatzamt berufen, als Mitglied des Obersten Wirtschaftsrats an der Pariser
Konferenz teilnehmend, ist einer der richtigen Engländer, die der Größe, Macht und
Wohlfahrt ihres eigenen Volkes am besten durch Weltblick, Weltsinn und Weltsorge
zu dienen glauben, die nicht aus irgend welchen aufwallenden Gefühlen, für ein
imaginäres Kosmopolis schwärmen, aber wissen, daß man auch im Weltgeschäft durch
Redlichkeit, Zuverlässigkeit, Anständigkeit und durch eine gewisse Schonung nicht
bloß der Bedürfnisse, sondern auch der Eigenheiten, ja gelegentlich selbst der
Launen des Partners noch am weitesten kommt, und die zwar durchaus national
gesinnt und im Grunde nur auf den eigenen Vorteil bedacht, dennoch, ja gerade
darum auch den anderen Luft und Raum, Freiheit und Sicherheit, ja Lust und Laune
gönnen: es ist ihnen klar, daß am längsten, am sichersten, am bequemsten herrschen
wird, wer es sich am wenigsten merken läßt. Bei dem frommen Wunsch, es möge die
Selbstsucht der Völker doch endlich einmal überwunden werden, nicht erst viel Zeit
verlierend, bemühen sie sich lieber von Fall zu Fall, jede Selbstsucht nicht
weiter gewähren zu lassen, als es die der anderen gerade noch ertragen kann. Sie
belügen sich über die Wirklichkeiten nicht, sind aber erfreut, wenn darin
gelegentlich auch einmal etwas Ideales sich unterbringen läßt. Brands »Alles oder
nichts!« ist ihnen unverständlich und selbst die Ideologen unter ihnen vergessen
nie, daß eben, wie Schopenhauer sagt, daß eben die Unredlichkeit tief im
menschlichen Wesen liegt. Sie sind die einzigen, die vielleicht sogar heute noch
das Abendland retten könnten, aber sie haben dabei freilich alle Völker gegen
sich. Das schönste Beispiel eines solchen richtigen Engländers, der ja niemals aus
Affekten, sondern an Realitäten politisiert, ist Lloyd George, dessen
unbestechlichen Blick Keynes erreicht, dessen Gefühl für die Gemeinsamkeit aller
abendländischen Interessen er vielleicht noch übertrifft, vielleicht nur deshalb,
weil er so glücklich ist, kein Politiker zu sein; jedenfalls hat er im Krieg noch
schneller umgelernt als Lloyd George, er hat noch schneller sein Auge den
ungeheuren Weiten der neuen Situation angepaßt. Daher sieht er auch mit einer fast
zärtlichen Rührung auf die beiden Pole der alten Politik herab, auf den
vollkommenen, aber doch jetzt unbrauchbar gewordenen Realpolitiker Clémenceau, und
auf den ebenso vollkommenen, aber ebenso von der Zeit überholten Ideologen Wilson.
Meisterhaft zeichnet er sie: den Tiger in feinem, dicken, schwarzen Tuchrock mit
viereckigen Schößen, die Hände stets in grauen, schwedischen Handschuhen, mit
ländlichen Stiefeln von dickem schwarzem Leder, auf dem schweren Brokatsessel vor
dem Kamin, einsilbig, meistens mit geschlossenen Augen, nur zuweilen einmal
auffahrend, in einem plötzlichen Ausbruch von Eigensinn, dem sein pikantes
Englisch noch eine besondere Farbe gibt; »er fühlte für Frankreich wie Perikles
für Athen, aber seine politische Theorie war die Bismarcks«, und wenn ihm seine
Klugheit zuweilen einen gewissen »Lippendienst vor dem Ideal närrischer Amerikaner
und heuchlerischer Engländer« riet, so ließ er sich doch dadurch keinen Augenblick
in der Ansicht stören, daß Krieg auch künftig der normale Zustand Europas sein
wird; und ihm gegenüber nun der feine, doch geistig langsame, hilflose Wilson,
weder ein Held noch ein Prophet, nicht einmal ein Philosoph, mit nichts als seinen
edlen Absichten, ohne jeden Sinn für die Atmosphäre um ihn, wehrlos gegen Lloyd
Georges »unfehlbare, fast mediumartige Empfindlichkeit für jedermann und seinen
telepathischen Instinkt«, also von vorneherein verloren, ein »blinder, tauber Don
Quichotte«. Mit ebenbürtiger Kraft wird nun auch die Wandlung Lloyd Georges zur
Zeit der englischen Wahlen von 1918, die capitis deminutio seiner Politik
dargetan, ein »dramatisches Beispiel der fundamentalen Schwäche eines Menschen,
der seine hauptsächlichen Eingebungen nicht aus seinen eigenen wahren Antrieben,
sondern aus den gröberen Niederschlägen der Atmosphäre nimmt, die ihn jeweils
umgibt«; eigentlich ging Deutschland an diesen englischen Wahlen zugrunde
(freilich auch daran, daß es bei den Verhandlungen nicht einen einzigen Mann
einzusetzen hatte, der geistig und sittlich oder auch nur taktisch oder wenigstens
an Temperament oder der Geste davon den Gegnern wenn schon nicht überlegen, so
doch halbwegs gewachsen und nicht noch dazu schon in seiner ganzen Erscheinung
ihren Gewohnheiten unerträglich gewesen wäre). Das Ergebnis des Friedensvertrages
aber faßt er dann so zusammen: Europa so dicht bevölkert wie niemals zuvor, an
eine hohe Lebenshaltung gewöhnt, unfähig sich selbst zu ernähren, vom Hungertod
bedroht, ohne Kaufkraft zur Beschaffung der gewohnten Waren von Übersee, das
Verkehrswesen zerstört; im Juli 1919 fünfzehn Millionen Familien auf
Arbeitslosenunterstützung angewiesen, überall also Zwang zur Ausgabe neuer Noten,
zur Inflation, zur Vernichtung der Währung, ganz nach dem Rezept Lenins, folglich
aus Not oder Unfähigkeit der Regierungen ein allgemeiner Bolschewismus; »in
Deutschland werden die Gesamtausgaben des Reiches, der Länder und der Gemeinden
1919 bis 1920 auf 25 Milliarden Mark veranschlagt«, von denen nicht mehr als zehn
durch bereits bestehende Steuern aufgebracht werden, und dabei sind die
Kriegsentschädigungszahlungen noch nicht einmal eingerechnet: in Rußland, Polen,
Ungarn und Österreich gibt es im Ernst überhaupt nicht so etwas wie einen
Staatshaushaltsplan.« Was also soll geschehen? Können wir überhaupt noch hoffen,
»die grundlegenden wirtschaftlichen Kräfte wieder in Gang zu setzen«? Dazu wäre
zunächst eine Revision des Friedensvertrags notwendig, die man sich freilich von
der Völkerbundsversammlung kaum erhoffen könne, von diesem »unhandlichen
vielsprachigen Debattierklub, in dem selbst die größte Entschlossenheit und die
beste Taktik nicht ausreichen dürfte, irgendeine Frage gegen den Willen der
Anhänger des bestehenden Zustandes durchzusetzen.« Zur »Wiedergutmachung« legt er
Deutschland, in dreißig Jahresraten, dreißig Milliarden Gold auf; Österreich
nichts. Oberschlesiens Kohlengebiete teilt er, wofern nicht die Volksabstimmung
geradezu widerspricht, Deutschland zu. Einem »Freihandelsverband« unter der
Aufsicht des Völkerbundes sollen Deutschland, Polen, die aus Österreich-Ungarn und
dem türkischen Reich neugeschaffenen Staaten und die einem Mandat unterstellten
Staaten zehn Jahre angehören müssen, später angehören dürfen. Ein
»Freihandelsverband, der ganz Mittel-, Ost- und Südeuropa, Sibirien und die Türkei
und hoffentlich die Vereinigten Staaten, Ägypten und Indien umfassen könnte, würde
für den Frieden und Wohlstand der Welt soviel leisten wie der Völkerbund selbst.
Belgien, Holland, Skandinavien und die Schweiz würden sich, so ist zu erwarten,
ihm in kurzer Zeit anschließen und die Freunde Frankreichs und Italiens hätten den
großen Wunsch, daß auch diese Staaten sich zum Beitritt entschließen möchten.« Das
Schwerste bleibt aber dann freilich immer noch die Verrechnung der Schulden unter
den Verbündeten. Es heißt einem Sieger viel zumuten, daß er durch seinen Sieg
schließlich noch verarmen soll. Keynes schlägt im Grunde vor, daß Amerika die
Kosten auf sich nimmt, um Europa zu retten. Dies setzt eine Großmut, soviel
Weltgewissen, einen so hohen Sinn für die Schicksalsgemeinschaft aller Völker
voraus, daß man sich eigentlich eine größere Huldigung an Amerika gar nicht denken
kann. Es hätte dann von selbst die sittliche Weltherrschaft auf Jahrhunderte
hinaus. | |