Tagebuch. 30. Juli

Hermann Bahr: Tagebuch. 30. Juli. In: Neues Wiener Journal, Jg. 28, Nr. 9625, 22.8.1920, S. 6.

Verfasser:in Bahr, Hermann
Titel Tagebuch. 30. Juli
Periodikum Neues Wiener Journal
Erschienen
  • 22.8.1920
  • Jahrgang 28
  • Nummer 9625
  • Seite 6
Volltext Der Theaterdirektor einer Stadt im mittleren Deutschland klagt mir seine Situation, die typisch ist. Er hat ein gut bürgerliches Publikum: brave Leute, die tagsüber redlich schanzen, aber abends dafür sich unterhalten und womöglich lachen wollen; gelegentlich läßt man sich, da man weiß, daß dies zur Bildung gehört, schon auch einmal einen Klassiker gefallen, bei dem man sich mit Anstand langweilt, ja selbst, wenn es sein muß, einen lebenden Dichter, wofern der von Berlin aus bereits »zweifelsohne« festgestellt ist. Übrigens aber hat man weiter keine literarischen Schmerzen und hält sich an das erprobte Theaterstück in Ernst und Scherz, wie es seit Diderot, Iffland und Kotzebue in leichter Verkleidung durch alle Zeiten geht. Schon Hauptmann ist diesem Publikum etwas zu anstrengend und gar vor allem was nach Expressionismus schmeckt, schrickt es schaudernd zurück. Das wäre ja nun für den Direktor wunderschön, wenn nicht bei Premieren mitten unter diesen erfreulichen Leuten vier abgefeimte Sonderlinge säßen, deren Geschmack namenlos vorgeschritten, für die Hauptmann längst überwunden, selbst Unruh schon wieder verdächtig und eigentlich ein Dichter überhaupt nur so lange diskutabel ist, als er es noch zu keiner Aufführung gebracht hat. Die Hyänen nennt die vier mein Direktor, der gegen ihren vorwärts schnaubenden Geschmack ja durchaus nichts einzuwenden hätte, wenn es nur nicht leider gerade die Kritiker der vier Zeitungen jener Stadt wären. Diese Zeitungen sind alle vier ganz ebenso bedächtig gesinnt und gestimmt als ihre Leser, wenn sich diese bürgerliche Biederkeit auch in einer jeden des Vokabulars einer anderen Partei bedient; der Bürgersinn bleibt darum derselbe: beharrend, seinen Gewohnheiten treu, mißtrauisch gegen alles Neue, was aber nun keineswegs ausschließt, daß der Abonnent, sofern es nur nicht ihn betrifft, von seiner Zeitung doch auch wünscht, avanciert zu sein. Irgendwo will man ja zeigen, daß man kein Kleinstädter mehr ist. Und dazu haben die vier Zeitungen nun die Hyänen angestellt: die toben in der Kunst, wo das ja weiter nichts schaden kann, die radikalen Bedürfnisse des Abonnenten aus. Das Ergebnis davon aber ist: gefällt ein Stück dem Publikum, so wird’s am andern Tag in den vier Zeitungen von den Hyänen so verrissen, daß in die zweite Vorstellung kein Mensch mehr geht; gelobt aber werden in den vier Zeitungen nur Stücke, die dem Publikum so sehr mißfallen haben, daß ihnen dann auch die Begeisterung der Hyänen am nächsten Tag schon nichts mehr hilft! Jetzt sagen Sie mir nur, klagte mein Direktor, was man da anfangen soll? Ich schlug ihm vor: selber Hyäne zu werden. |
Zusammenfassung Über das Leid des Theaterdirektors, dass Stücke, die dem Publikum gefallen, in der Zeitung verrissen werden und so kein Publikum bekommen, umgekehrt aber Kritikerbeifall bedeutet, dass dem Publikum das Stück missfällt.
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Alternative Drucke Hermann Bahr: 30. Juli [1920]. In: Kritik der Gegenwart. Augsburg: Haas & Grabherr 1922, S. 193–194.
Schlagwörter Artikel in einem Periodikum, Tagebuch