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Im »Hochland« ein vortrefflicher Aufsatz Josef Schnippenkötters
über die Bedeutung von Einsteins Relativitätstheorie. Klar, übersichtlich, auch
Laien zugänglich, ein Muster ruhig in leichten Serpentinen ansteigender
Darstellung, das Beste, was ich noch über den wutumheulten Einstein las. Das ganz
Genialische seiner Leistung kommt da gut heraus. Ob sie sich behaupten oder wieder
verschwinden oder doch Einschränkungen erleiden und was von ihr bleiben, wieviel
von ihr vielleicht schon morgen jedem geläufig, ja selbstverständlich sein wird,
kann ich nicht mutmaßen, weil es mir im Mathematischen an den einfachsten
Kenntnissen und jeder Vorübung fehlt; bei siebenmal acht stock ich schon. Den Haß,
dem »der Jud«, noch sehr gelegen kommt, kann ich mir erklären, weil seine Theorie
ja den Augenschein verletzt. »Was uns so sehr irre macht,« sagt Goethe, »was uns
so sehr irre macht, wenn wir die Idee in der Erscheinung anerkennen sollen, ist,
daß sie oft und gewöhnlich den Sinnen widerspricht. Das Kopernikanische System
beruht auf einer Idee, die schwer zu fassen war und noch täglich unseren Sinnen
widerspricht. Wir sagen nur nach, was wir nicht erkennen noch begreifen.« Gerade
Goethe hätte doch an Einstein übrigens seine helle Freude haben müssen als einem
Prachtbeispiel dessen, was Goethe den »kategorischen Imperativ in der
Naturforschung« nennt. »In der Naturforschung,« sagt er, bedarf es eines
kategorischen Imperativs so gut als im Sittlichen«; und an einer anderen Stelle
sagt er resolut: »Eine falsche Hypothese ist besser als gar keine.« Ganz so sagte
sich offenbar Einstein auch, als er 1905, fünfundzwanzig Jahre alt, einfach zwei
Prinzipien zusammennahm, ohne sich darum zu kümmern, daß die beiden einander
widersprachen. Vielleicht nur einem Mathematiker ist ein solches unverschämtes
Vertrauen zu jeder seiner Denknotwendigkeiten möglich, zugleich mit einer so
grandiosen Verachtung aller Erfahrung. Und vielleicht nur ein Mathematiker
imponiert dann der Erfahrung so, daß ihr schließlich nichts übrig bleibt, als ihm
nachzugeben, ihm recht zu geben. Der Augenblick, als Einstein dies erlebte, der
Augenblick, in dem er den gebeugten Stolz der Erfahrung gleichsam zu seinen Füßen
sah, muß schon sehr merkwürdig gewesen sein. Warum aber erschreckt der Gedanke,
nun auch die Zeit zu relativieren, wie der Raum es seit Kopernikus ist, eigentlich
die braven Leute so, die doch ihren Kant zu kennen meinen? Und sie hätten ihn gar
nicht erst nötig, jeder weiß es ja selbst, wie lang einem die Zeit oft wird, um
dann auf einmal wieder nur ganz kurz zu weilen, und schon Horaz hat alternd
geklagt, daß einem die Jahre dann plötzlich davonzulaufen beginnen. Nikolaus von
Cusa war dem Problem schon ganz nah: er wußte, daß die Zeit, das Maß der Bewegung,
kein Maß des tätigen Geistes ist, ganz wie er wußte, daß nirgends Gegenwart ist,
weil Gegenwart, immer noch Vergangenheit, aber auch immer schon Zukunft, niemals
dazukommt, zwischen den beiden zu sein, niemals dazukommt, Gegenwart zu sein, ganz
ebenso wie Bewegung immer nur entweder das Ende einer Ruhe oder aber schon wieder
der Anfang einer neuen Ruhe, niemals also sie selbst ist, ganz so wie deine Hand
in den Fluß getaucht, niemals sagen kann, ob sie das Wasser berührt, das zufließt,
oder das Wasser, das abfließt. Auch Leonardo, des Cusaners eifrigster Schüler
neben Bruno, war, gerade von seiner starken inneren Gewißheit eines letzten
Absoluten aus, immer alles, was uns vielleicht absolut bloß scheint, zu
relativieren bemüht. Er ahnte sicherlich auch die Relativität der Zeit, wenn ich
das gleich im Augenblick nicht belegen kann. Aber Dostojewski hat sie gewaltig
verkündet, in den »Dämonen«, dort, wo Stawrogin mit Kirilow über den Selbstmord
spricht (Seite 340 des I. Bandes der Ausgabe Pipers). Da fragt Stawrogin: »So
glauben Sie jetzt an ein zukünftiges ewiges Leben?« Kirilow antwortet: »Nein,
nicht an ein zukünftiges ewiges Leben, sondern an ein diesseitiges ewiges Leben.
Es gibt Minuten, sie kommen zu den Minuten, und die Zeit bleibt plötzlich stehen
und wird ewig sein.« Darauf Stawrogin, nachdenklich: »In der Apokalypse schwört
der Engel, daß es keine Zeit mehr geben wird.« Und Kirilow wieder: »Ich weiß. Das
ist sehr richtig und deutlich. Wenn der ganze Mensch das Glück erreicht, so wird
es keine Zeit mehr geben, einfach, weil sie nicht mehr nötig ist. Sehr richtig und
deutlich.« Stawrogin: »Wo wird man denn die Zeit lassen?« Kirilow: »Nirgendwo wird
man sie lassen. Zeit ist kein Gegenstand, sondern ein Gedanke und wird auslöschen
im Verstande.« Damit ist Einstein prophezeit, durch den Zeit für uns ja jetzt ein
»Gedanke« geworden ist; »und wird auslöschen im Verstande«. Was aber Fromme davon
für ihren Glauben befürchten, kann ich eigentlich nicht recht verstehen. Das
scheint nur eine Verwechslung: manche meinen stets, wenn Aristoteles in Gefahr
gerät, gleich auch unseren Glauben bedroht. Der Geist unseres Glaubens, zunächst
in den Evangelien, so, wie die Mitlebenden ihn von den Lippen des Erlösers
vernommen hatten, aufbewahrt, nimmt, als er dann unter die Völker der Welt geht,
um sich mit ihnen in ihrer Sprache zu verständigen, die Zeichen, sozusagen das
Alphabet ihres Denkens: den Aristoteles und den Plotin. Erst die Scholastik wagt
es, unseren Glauben immer mehr unmittelbar auszusprechen und ihm allmählich seine
eigene Sprache zu schaffen; Oxford und Paris überwinden vielmehr den Aristoteles.
Des heiligen Thomas von Aquin ungeheure Tat ist die Christianisierung der Antike.
Wir hätten ihm bloß zu folgen und, wie er alles, was vor ihm erdacht worden war,
christianisiert hat, mit derselben Kraft nun alles, was seit ihm erdacht worden
ist oder noch erdacht werden wird, ebenso zu christianisieren. Es gibt ja
vielleicht gar keinen Irrtum, auf dessen Grund nicht die christliche Wahrheit
verborgen liegt. | |