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Vor Jahren ging ich einst nescio quid meditans nugarum durch die
Stadt Graz dahin, als ich mich, unweit vom Joanneum, auf einmal von einem
erstaunlichen Geschöpf angesprungen sah, das mit Gebärden, die den Taubstummen
verrieten, ungestüm, zugleich aber so bezaubernd herzlich in mich drang,
mitzukommen, daß ich nicht widerstehen konnte: die Stille der leeren Gasse, die
Jugendglut in den Augen des unverhofften Gefährten, das Märchenhafte der ganzen
Begegnung sind mir unvergeßlich. Es war Gustinus Ambrosi, der ja seitdem in Wien
zu einer nicht ganz ungemischten Berühmtheit gelangt ist; in Wien bricht Ruhm oft
über jemand herein, einen Unschuldigen oder einen Schuldigen, um ihn dann zuweilen
ebenso plötzlich wieder zu verlassen, als er ihn unverhofft heimgesucht hat. Nun
ist eine Ambrosi-Mappe (Verlag Eduard Strache, Wien und Leipzig) erschienen, mit
einem Geleitwort Felix Brauns. Es sind teils Bildnisse, teils Visionen. Da denkt
man oft auf den ersten Blick, an Michelangelo, noch öfter an Rodin. Mir wäre doch
eigentlich lieber, man dächte dabei gleich an Ambrosi. Den aber fühlt man nur. Daß
man ihn immer wieder fühlt, daß er in den fremden Sprachen doch Eigenes zu sagen
hat, daß aus dem Aufwand erborgter Gebärden hervor zuletzt doch immer wieder das
Antlitz ganz persönlichen Leids, ganz persönlicher Lust mit unvergeßlich reinen
Zügen emportaucht, das macht mir diesen Ungewissen Künstler menschlich so wert.
Selbst im Kitsch noch, zu dem er eine fatale, modern italienisch anmutende Neigung
hat, bleibt er edel; und es hat etwas Rührendes, von welcher Unschuld auch seine
Posen noch sind. Ein wunderschöner Mensch, knabenhaft nach Größe verlangend, in
der Empfindung sicherlich ganz echt, läßt sich vielleicht von jugendlicher
Ungeduld, vielleicht auch nur von seiner allzu geschickten Hand, gewiß ganz
unbewußt, zum Bluffen verlocken; es ist gar nicht so selten, daß gerade sehr
vornehme Menschen künstlerisch unehrlich werden (und menschliche Gaukler hinwieder
oft die lautersten Künstler). Es könnte freilich aber auch sein, daß er, was
gerade vielfältig Begabten in der Ratlosigkeit ihres Reichtums leicht geschieht,
daß er einfach an die falsche Kunst geraten ist, daß Bildhauerei nicht seine
Muttersprache wäre. Ich erinnere mich, daß ich schon in Graz damals irgendwie
zunächst auf einen Musiker riet, und seine der Mappe beigefügte Photographie
bestätigt mir diesen Verdacht durch die Musikern eigentümliche Neigung des
gleichsam von inneren Gewalten niedergezogenen Kopfs (den der trotzige Beethoven
freilich gerade darum selbstüberwindend zurückwarf) und durch den Musikermund, der
zu lauschen scheint. Und Ambrosi bildet nicht bloß, er dichtet auch; und selbst
wenn er zu bilden meint, wirds zuweilen fast eher zum Gedicht. Hat er nur die für
ihn bestimmte, gerade seiner Eigenart gemäße Kunst noch nicht gefunden oder genügt
ihm keine, braucht er alle? Braucht er alle, weil er für jede einzelne zu reich
oder weil er für jede einzelne zu schwach ist? Stürzt sein Pathos aus innerem
Überschwang hervor oder aus einer Ohnmacht? Und wenn er sich immer wieder ins
Theatralische verliert, ist er innerlich so viel, daß er, was er ist, auch noch
spielen muß, um sich ganz auszudrücken, oder spielt er, weil ihm, was er ist, zu
wenig ist? Da wären wir wieder vor der Grundfrage seiner, der neuen Generation:
Hat sie recht, wenn sie vom Künstler verlangt, jede Möglichkeit, die sich jemals,
seis auch nur als Wunsch, in ihm ankündigt, um jeden Preis, seis auch um den der
Selbstvergewaltigung, zu verwirklichen, oder hatte doch vielleicht eher meine
recht, die sich beschied, niemals bis an ihr Ende zu gehen, es sich lieber leicht
zu machen, aber in ihren bequem gezogenen Grenzen das Vollkommene von sich zu
verlangen? Es hat fast etwas Heroisches, wie jetzt jeder junge Bildhauer nach der
Stirne Michelangelos, jeder junge Dichter nach der Stirne Pindars um den Lorbeer
greift, aber ich weiß nicht, ob ich nicht lieber als ein halber Pindar doch ein
vollkommener Kotzebue bin. Übrigens, Pindar: der Inselalmanach auf das Jahr 1921
enthält einen sehr merkwürdigen Aufsatz Franz Dornseiffs (aus einer Einleitung zu
einer neuen Übertragung) wonach Pindar selber das, was wir unter »pindarisch« zu
verstehen seit Klopstock gelehrt worden sind, gar nicht wäre, sondern in seinen
»reif archaischen Festliedern für vornehme Sportsieger des V. Jahrhunderts«
erklängen die »frühen einfachen Töne des unberührten griechischen Mittelalters«,
dieses spricht aus Pindars »Textbüchern zu Kantatenaufführungen« noch ein letztes
Mal »mit ernster spröder Stimme«, seine Welt ist der griechische Land- und
Geldadel, eine Oberschicht, deren Anfänge wir in der Odyssee sehen, »er pflegt
noch die alte, feine, etwas gezierte Kunst, die eine ganz bestimmte gute
Gesellschaft« voraussetzt und unterhalb ihres Standes nichts kennt«. Danach müßten
wir von Dornseiff zum erstenmal einen leserlichen deutschen Pindar erwarten
dürfen. Herrlich! Denn mir ist’s, wenn ich mich an der Urschrift zerquält hatte,
dann aber nach der berühmten Übersetzung des wackeren alten Friedrich Tiersch um
Hilfe griff, bisher immer wieder passiert, daß ich da wirklich noch eher das
Original verstand. | |