Tagebuch. 10. November

Hermann Bahr: Tagebuch. 10. November. In: Neues Wiener Journal, Jg. 28, Nr. 9721, 28.11.1920, S. 5–6.

Verfasser:in Bahr, Hermann
Titel Tagebuch. 10. November
Periodikum Neues Wiener Journal
Erschienen
  • 28.11.1920
  • Jahrgang 28
  • Nummer 9721
  • Seite 5–6
Rezensiert
  • Josef Redlich: Das österreichische Staats- und Reichsproblem. Geschichtliche Darstellung der habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Untergang des Reiches. I. Band: Der dynastische Reichsgedanke und die Entfaltung des Problems bis zur Verkündigung der Reichsverfassung von 1861 (1920) [Leipzig: Der neue Geist ]
Volltext »Das österreichische Staats- und Reichsproblem«. Geschichtliche Darstellung der habsburgischen Monarchie von 1848 bis zum Untergang des Reiches. Von Josef Redlich. I. Band: »Der dynastische Reichsgedanke und die Entfaltung des Problems bis zur Verkündigung der Reichsverfassung von 1861«. (»Der neue Geist«, Verlag Dr. Peter Reinhold, Leipzig 1920.) Aber Redlichs ersehntes Werk ist viel mehr als dieser Titel verheißt: indem es seinem Problem bis auf den Grund nachgeht, tritt Österreichs Idee hervor, Österreich selber tritt uns entgegen, Österreichs Unsterbliches, das es freilich leicht hat, nicht zu sterben, weil es ja zunächst noch nie gelebt hat. Österreich zu verhindern, das ist das bewegende Motiv aller österreichischen Politik von 1740 bis 1918 gewesen. Wodurch ist unser altes Vaterland zersprengt worden? Durch den Haß seiner Völker, den Haß ihrer Erbitterung über das eine vorherrschende Volk, das »Staatsvolk«, die Deutschen. Jeder österreichische Deutsche wird empört aufschreien: Wann hätten wir in Österreich je geherrscht, wir, die wahren Stiefkinder Österreichs! Der Deutsche, der dies sagt, hat ganz recht, er hat ganz ebenso recht wie wer die Deutschen des unerträglichen Mißbrauchs ihrer Herrschaft anklagt. Sie haben eine Herrschaft kläglich mißbraucht, von der sie doch selber gar nichts hatten, ja die sie dabei wirklich im Grunde gar nicht hatten. Es ist ihr tragischer Fluch, es ist ihre tragische Schuld gewesen, daß sie anderthalb Jahrhunderte lang schweigend eingewilligt haben in die Knechtung aller Völker, ja in ihre eigene Knechtung sogar, wenn nur dafür die anderen noch etwas mehr geknechtet wurden, daß sie sich selber mit Begeisterung unterdrücken ließen, wenn sie dafür nur selber ein bißchen mitunterdrücken durften: das war ja der eigentliche geistige Gehalt des österreichischen »Liberalismus« und darin sind alle Parteien der österreichischen Deutschen bis ans Ende »liberal« geblieben. Jedes Unrecht, an welcher Nation Österreichs immer verübt, hat an den Deutschen seine getreuesten Handlanger, Gehilfen und Lobredner gehabt. Immer wieder hat sich seit 48 das beschämende Schauspiel wiederholt, daß die große neue Idee, durch die allein fortan das Reich Habsburgs möglich war, die Idee der nationalen Gerechtigkeit, die Deutschen entschlossen gegen sich fand. Und wenn sie sich diesen Verrat an der Gerechtigkeit wenigstens hätten bezahlen lassen! Bezahlen durch einen Vorteil für ihr eigenes Volk! Wenn nun wenigstens wirklich das deutsche Volk über Österreich geherrscht hätte! Doch auch dieses deutsche Volk hat aller Macht entsagen müssen, die das Vorrecht einer einzigen deutschen Oberschicht blieb: der Bureaukratie. Die Bureaukratie, zunächst aus Deutschen erwachsend, bald auch aus allen anderen Völkern geschmeidige Begabungen an sich ziehend, in sich die Volksarten vermischend, verwischend, gleich treulos nach oben wie nach unten, nach und nach aus sich selber eine Art Nation züchtend, war es, von der sich die Deutschen mißbrauchen ließen, jedem Unrecht an den Völkern, auch am eigenen, zuzustimmen, in ihrer Eitelkeit, sich dafür mit dem Staat »identifizieren«, wie das liberale Schlagwort war, zu dürfen, mit einem Staat, den es gar nicht gab. Denn auch Maria Theresia selbst ist es nicht gelungen, einen österreichischen Staat zu schaffen. Ihr Ehrgeiz mußte sich’s genügen lassen, ein Staatsorgan zu schaffen, eben die Bureaukratie. Das Organ eines niemals existierenden Staates zu sein, im Namen dieses nicht existierenden Staates hundert Jahre lang allen Völkern die furchtbarsten Opfer abzufordern, durch die Macht dieses nicht existierenden Staates hundert Jahre lang die Vereinigung der Völker zu verhindern, darin besteht das Wesen dieser in der Geschichte ganz einzigen, äußerlich sich gern skurril gebenden, im Tiefsten dämonischen Erscheinung: denn wirklich, eine dämonische Null ist unsere Bureaukratie gewesen, und wenn das ein schlechter Witz scheint, an diesem üblen Spaß ist unser altes Vaterland zugrunde gegangen. Das Reichsproblem war: gleichberechtigten Völkern bei geschützter innerer Freiheit die Gestalt einer gemeinsamen Erscheinung zu geben. Sehr schön, sagte die Bureaukratie, doch da müssen wir vor allem einen Staat haben! Und durch diesen Staat, den es nicht gab, den es in Österreich nie gab, den es nicht geben konnte, weil es ja gerade der geschichtliche Beruf Österreichs, seine Sendung war, eine neue, eine höhere Form der Vereinigung von Völkern, ein staatsfreies Reich zu bilden, ist Österreich immer wieder verhindert worden... Was Karl VI. der Erbin hinterließ, war das alte, durch Eroberung, Heirat, Waffenglück, Vertrag oder Zufall erbrachte, nur durch die Pragmatische Sanktion gesicherte Familiengut des Hauses Habsburg, ein Großgrundbesitz, sozusagen eine Reihe von Gehöften, darunter eins, Ungarn, ein ständischer Staat war, die anderen einfach »die Länder« genannt wurden, die Länder des Hauses Österreich. Es lag nicht in der Art dieses gewaltigen, in seinem stolzen Sinn die Welt hegenden Hauses, das wir, die wir davon nur noch durch Blut von Lothringen doch wesentlich entfärbte Exemplare kennen lernten, uns in der ganzen ungeheuren Spannung seines am liebsten Unmögliches begehrenden, nie zu stillenden Machtwillens kaum mehr vorzustellen vermögen, es lag nicht im Bereich seines überfliegenden Ehrgeizes, sich um das Gut zu kümmern; Habsburg war nicht vom Schlage des braven kleinen Landedelmannes. Es hatte dafür gesorgt, auf den einzelnen Höfen des Familienguts zuverlässige Meier zu haben: dazu waren die »Ritter und Landmänner« von einst allmählich geworden, zuweilen durch Schwert und Hochgericht (was nach dem Weißen Berg geschah, war weder Germanisierung noch Katholisierung Böhmens, es war die Erziehung des Adels aus ständischem Trotz zu Vasallengehorsam, eben zu Hausmeiern Habsburgs), gelegentlich auch durch Mischung mit gelenken welschen, irischen oder spanischen Abenteurern. Die hielten das Gut schon in Ordnung und lieferten getreu. Was sie sonst trieben, wenn sie nur lieferten, fragte das Haus Habsburg nicht: daheim war der ständische Adel Herr, über Justiz und Polizei wie Steuern und Landesdefension; selbst Ferdinand II. hat die ständische Verwaltung in Böhmen geschont. Das Haus hatte Sorgen anderen Ranges. Ihm war eigen, nur in der Idee zu leben; Wirkliches kam ihm dabei nur als Mittel der Idee in Betracht. Der Hausbesitz interessierte nur als Kraftquelle. Schon der brave alte Springer, der ahnungslos deutschtümelnde Geschichtsschreiber Österreichs, klagt, »daß man aus den Erbländern eben nur die Mittel ziehen wollte, um die mit einer beschränkten Familienpolitik seltsam verflochtenen hochgehenden Pläne eines Universalreichs zu verwirklichen«. Übrigens: »beschränkt«, wie sie der gute Mann nennt, war diese Familienpolitik eigentlich nur durch die Welt: in seinen großen Zeiten fühlte sich Habsburg so groß, daß dafür kaum der Weltraum knapp auszureichen schien. Es ist ein nur von sich erfülltes Geschlecht, jeder einzelne scheint da nur aus Selbstsucht zu bestehen, einer Selbstsucht freilich von besonderer Art, nicht seiner eigenen Selbstsucht nämlich, sondern einer ihm von den Ahnen her als Pflicht, ja Schicksal auferlegten, der er sich selber mit seinem Eigensinn und seinem Eigenglück aufzuopfern hat: Habsburgs ungemessene Selbstsucht zu tragen, auf sich zu nehmen fast wie einen Fluch, ist des einzelnen Habsburgers Art, selbstlos zu sein. »Den einen innersten Sinn, welcher Habsburg belebt«, hat Erich v. Kahler (in seiner im Münchener Verlag des »Neuen Merkur« erschienenen Schrift »Das Geschlecht Habsburg«, der einzigen mir bekannten, die versucht, dem singulärsten Fürstenhause des Abendlandes sein tragisches Geheimnis abzuspähen) »die Selbstbehauptung des Geschlechts« genannt: »Durchsetzung des Geschlechts« sei sein »einziger Grundsinn«. Aber diese »Selbstbehauptung« hätte noch allein nicht genügt ohne ihre fast unheimliche Steigerung zur Selbsterweiterung bis an die Sterne, bis ins Kosmische. Nur deswegen scheint in manchen Habsburgern vielleicht der Mensch so ganz verdünnt, weil in ihnen wirklich nur noch der geringste Teil dem Menschlichen zugewendet blieb. Ihre Seele wäre jedenfalls dem Gedanken, den Mars abzusetzen oder den Saturn zu belagern, eher zugänglich gewesen als dem Plan, einen österreichischen Staat zu verfertigen. Der Wunsch zu »regieren« war ihnen ganz fremd; ihnen genügte zu herrschen. Noch als Karl VI. starb, gab es keinen österreichischen Staat. Es gab auch noch keinen Österreicher. Und er hatte noch kein Vaterland und keine Ursach, es zu lieben. Es gab nur das Haus Österreich. Alle diese andern schönen Dinge sind Erfindungen der Maria Theresia, mit der eine Hausfrau den Thron besteigt, sorgenvoll, geschäftig und was man in Wien eine »Häferlguckerin« nennt: aus dem Wunsche, die »Häferln« alle stets in schönster Ordnung zum »Gucken« bereit zu haben, entstand, was unsere Patrioten noch bis vor fünfundzwanzig Monaten klopfenden Herzens den »österreichischen Staatsgedanken« nannten (ich habe da mein Leben lang kein einziges Mal mitgeklopft, aber mein Herz schlägt, so lange es überhaupt noch schlagen wird, für Österreichs unzerstörbare Wirklichkeit). Nun weiß ich schon, daß es ja nicht bloß Häferlguckerei war, sondern auch Not, der Zug der merkantilistischen Zeit zur Kommerzpolitik, das Beispiel des neidisch gehässig bewunderten Preußen. Und es hätte, selbst in der unseligen Fortsetzung des weit vom Hause Habsburg fallenden Josef, vielleicht auch nichts geschadet, die gesunde Natur der Erbländer hätte sich schon von selber wieder hergestellt, wäre nicht längst, nur auf eine Gelegenheit lauernd, ein anderes Unheil bereit gestanden, das nun, auf das Zeichen der durchaus auf Völkerbeglückung erpichten Kaiserin, losbrach. Das war jene merkwürdige Menschenart, die, geringer Herkunft, in der Nähe der Großen, sich zunächst durch die Kunst des Lesens und Schreibens, bald auch durch die mit der Ausübung dieser Kunst verbundene geistige Behendigkeit und Geschicklichkeit empfehlend, rasch unentbehrlich zu werden verstanden und in ihrer anfangs recht zweideutigen Stellung, halb Bedienter, halb Vertrauter, vor Schlägen nicht sicher, als Mitwisser von Geheimnissen sich aufnötigend, immer mehr Einfluß gewonnen hatte. Aus Schreibern waren sie durch ihre Kenntnis des in den Welthändeln immer mehr Bedeutung und Wichtigkeit erlangenden römischen Rechts allmählich zu Räten geworden, es entwickelte sich an den hohen Schulen, in den städtischen Kanzleien, an den Höfen der Fürsten ein gelehrtes Beamtentum, zunächst nur sozusagen als Bote zwischen Herren und Knechten, durch den der Wille des Herrn nun in einzelne Gebote für den Knecht umgeschaltet, zur allgemeinen Kenntnis und zur Anwendung auf den besonderen Fall gebracht wird. Dieser neue Stand enthält von Anfang an eine Gefahr für den Fürsten wie für das Volk, eben schon in dieser Zwischenstellung zwischen beiden, weil er den Fürsten mit den Augen des Volkes, das Volk wieder von oben herab ansieht, sich beiden fremd, beiden zugleich verdächtig, aber auch unentbehrlich und also von vornherein geneigt fühlt, beiden zu mißtrauen, beide zu verachten und beide zu betrügen. Die Lässigkeit des Adels, der nicht die Geduld hat, Geist dann auch noch sozusagen in Kleingeld umzuwechseln, und darum immer ratlos ist, wenn es gilt, Ideen zu verwirklichen, erleichtert es diesen Rechtsgelehrten und Kameralisten aus ihrem Geschäft sozusagen eine Geheimwissenschaft zu machen, es entsteht eine Art Freimaurerei der gelehrten Bildung. Daß diese Geheimwissenschaft im Grunde gar kein Wissen, sondern nur ein Vorrat von Kenntnissen und Behelfen, daß es keine Gelehrsamkeit, sondern nur praktische Geschicklichkeit im Geistigen, daß ihre »Bildung« wirklich nur solches Kleingeld und noch dazu Papiergeld des Geistes ist, gelingt ihnen zu verheimlichen. Dieses Standes, der, längst insgeheim erstarkt, nur auf eine Gelegenheit lauert, sich der Herrschaft zu bemächtigen, glaubt nun Maria Theresia, zu schwach, um zu herrschen, und eben darum von einer wahren Wut, möglichst viel zu regieren, erfüllt, sich zur Ordnung ihrer Länder, in denen sie wie in einer blank gescheuerten Küche gern alles an seinem Nagel hätte, bedienen zu können, und damit ist sein großer Augenblick gekommen. Indem sie sich einreden läßt, es komme darauf an, einen österreichischen Staat, den es niemals gab, weder vor ihr noch nach ihr, zu schaffen, gelingt es dem Beamtenstand, ein »Staatsorgan« zu schaffen und damit sich zum Herrn einzusetzen, zum geheimen Herrn über Kaiser und Reich. Dies weder den Kaiser noch die Völker je merken zu lassen und beide, Kaiser wie Völker, immer mit dieser von vornherein für alle Zeit unmöglichen Gründung eines österreichischen Staates in Atem und so beschäftigt zu halten, daß sie selber indessen ungestört herrschen kann, das ist das verhängnisvolle, doch in seiner Art geradezu grandiose Werk der Bureaukratie: seit Maria Theresia ist unsere ganze Geschichte nur noch Geschichte der Bureaukratie. Dabei hat diese Bureaukratie natürlich fortwährend ein schlechtes Gewissen und sie hat Angst: in dem Augenblick, wo Kaiser und Völker merkten, daß es ihr gar nicht um diesen ewig angekündigten, niemals erscheinenden, schlechtweg unmöglichen Staat zu tun ist, sondern nur um ihre Gehelmherrschaft allein, in dem Augenblick, wo, etwa 1846 oder 1859 oder 1867 oder noch durch Taaffe oder nach dem allgemeinen Wahlrecht, die staatslose Natur Österreichs wiedererkannt, der Zustand unter Karl Vl. wiederhergestellt und nur die Länder nun aus dem Ständischen ins Demokratische umgeformt würden, wäre der lebendige Völkerbund, der Österreich immer war, bis ihn die Bureaukratie vergewaltigt hat, wieder da, nur jetzt als ein Imperium der Demokratie, und die Herrschaft der Bureaukratie wäre damit gebrochen. In ihrer ewigen geheimen Angst davor hat sie nun einen genialen Einfall: sie besinnt sich ihrer deutschen Herkunft und redet ihre Herrschaft den Deutschen Österreichs als Herrschaft der Deutschen über Österreich ein. Von der Bureaukratie wird der deutsche Charakter Österreichs erfunden und da die Deutschen kindisch genug sind, darauf hereinzufallen, wird der Haß aller unterdrückten Völker damit von den Unterdrückern, von der Bureaukratie weg auf das deutsche Volk in Österreich abgelenkt. Dadurch ist Österreich immer wieder verhindert, dadurch ist, was 1526 entstand, 1918 zerbrochen worden, nichts von uns ist übrig geblieben als die wohlbehaltene Bureaukratie ... Indem ich dies, so für mich hin, niederschreibe, siehe, da steigt auf einmal aus dem Nebel, der mir den Garten verklebt, vor meinen inneren Augen Redlich selber auf, leise kopfschüttelnd, sein boshaftestes Lächeln um den schnell beredten Mund, das zu seufzen scheint: Gott schütze mich vor meinen Freunden! Denn er mag vor seinen eigenen Gedanken in meinen Übertreibungen da zuweilen wohl selber erschrecken. Aber übertreib ich wirklich? Oder bin ich im Selbstgespräch meiner unbekümmerten Einsamkeit nicht einfach bloß gröber, als dem abwägenden Geschichtsschreiber geziemt oder als wir seit Ranke meinen, daß ihm gezieme? Denn Thukydides hat sich ja wahrhaftig nicht geniert, gelegentlich kotzengrob zu sein. Mein Verfahren, Geschichtliches immer möglichst auf einen gemeinsamen Nenner und alles, was Geschichte mit ihren Erscheinungen meint, auf den letzten einfachsten knappsten Ausdruck zu bringen, der von ihrem Blütenstaub dann freilich nichts übrig läßt, mag in der Gewaltsamkeit seiner Kürzungen schon bisweilen etwas geradezu Nihilistisches haben, dem verehrten und bewunderten Freunde kaum erträglich, der ein angeborenes Gefühl für die Breite, für die Fülle der Erscheinung, fürs Detail und für den besonderen Reiz gerade des Details, für den inneren Widerspruch, der allem Geschichtlichen, auch in seinen reinsten Ausdrücken noch, fragwürdig beigemischt und mit dem es gleichsam seine Gattung wieder aufzuheben, gleichsam insgeheim treulos auch seinem Gegenpol zuzuwinken scheint, nun auch noch in der strengen Zucht englischer Vorbilder geschult und allmählich auf die Höhe einer heute von keinem anderen erreichten Meisterschaft gebracht hat, die nur die Dinge selber reden läßt, sich aber aufs Bilden beschränkt. Doch darf ich mir ja nicht verhehlen, daß wir nicht bloß im Ausdruck, sondern auch, zwar niemals in der Sache, doch in den Personen zuweilen uneins sind. Er hat eine stille Liebe für Maria Theresia, er hat eine stille Liebe für Kaiser Josef und er hat eine stille Liebe für Heinrich Friedjung. Ich verkenne den Reiz dieser Gestalten nicht. Sie gehören auch zusammen: alle drei bei bestem Willen und redlichstem Bemühen gleich ahnungslos. Auch alle drei sehr österreichisch: darin vor allem, daß sie sich immer nur erst im Unwirklichen wohl fühlen, in dem leeren Raum zwischen der Erfahrung und der Idee, ja dies so sehr, daß es sich gleichsam auch der Wirklichkeit selber mitteilt, daß, wenn sie doch einmal unversehens nach ihr greifen, die Wirklichkeit selber gleichsam beschämt vor ihnen davonläuft. Und noch etwas anderes trennt mich von Redlich: er ist in Mähren daheim, dem klassischen Lande des österreichischen Liberalismus, und er hat jahrelang als Abgeordneter dem Deutschen Nationalverband angehört, daher der leise Hauch zentralistischer Illusion auf seinem politischen Denken, während ich, Oberösterreicher, im ersten Stolz der jungen Gemeindefreiheit aufgewachsen, von klein auf aus der Luft um mich herum schon eine Neigung einsog, mir das Europa der Zukunft instinktiv immer schon als einen möglichst losen Verband möglichst unabhängiger, ja möglichst isolierter Gemeinderepubliken vorzustellen; in jedem richtigen Oberösterreicher steckt ein freilich höchst patriarchalischer Kommunalanarchist. Der große Finanzkünstler, der Redlich ist, kann da freilich nicht mit, ihm würde vor solcher Auflösung des Abendlandes ins Atom der freien Gemeinden gewaltig bange; wir Oberösterreicher aber sind ein unfinanzielles Geschlecht, wir bleiben schon Bauern ... Bewundernswert ist, wie Redlich, indem er der unablässigen Bemühungen, unsere Verfassung und unsere Verwaltung zu verwandeln, Verlauf erzählt, immer genau der Reihe nach aufzählend: zunächst was geplant, was damit eigentlich gemeint, wieviel davon ehrlich gemeint und wieviel davon gleich anfangs täuschend oder doch bloß beschwichtigend, oder allenfalls abfindend gemeint und wieviel davon, wenn es schließlich erschien, auf einmal schon wieder ganz anders gemeint war, als man es anfangs, ja noch während der Arbeit zu meinen meinte, wie er uns, indem er dies erzählt, gleich auch die dahinterstehenden Ideen und die dahinterstehenden Menschen und bald Ideen durch ihnen nicht gewachsene Menschen entkräftet oder auch wieder durch kühne, doch statt ihnen zu dienen, sich ihrer als bloßer Mittel bedienende Menschen entwürdigt und dadurch, daß über dem Gewühl großer Ideen und kleiner Listen, ehrlicher Schwärmer, kalter Rechner, gewissenloser Streber, leichtsinniger Spieler und gehorsamer Kanzlisten niemals, alle bändigend und sich unterjochend, der reine Wille leidenschaftlicher Hingebung, sei es ans Vaterland, sei es ans Volk, sei es an eine Idee, ja einen Wahn, eine Schrulle, selbst den eigenen Vorteil bloß, übermächtig erscheint, dadurch zuletzt diesen ganzen Aufwand von Kraft, Erregung, Weisheit, Klugheit, Ehrgeiz, Selbstsucht und doch auch wieder gutem Willen, redlicher Arbeit und treuer Pflichterfüllung unnütz vertan zeigt. Erschütternd aber wird dies bald weinerliche, bald spaßige Schauspiel dadurch, daß die ganze Zeit über es eigentlich keinen Augenblick lang an der Einsicht fehlt, worauf es ankäme, wodurch wir zu retten wären. Alle wissen das, alle geben vor, es zu wollen, und im Grunde wollen sie’s doch auch meistens wirklich. Jedes Volk will diesen geschichtlichen Zusammenhang mit den anderen Völkern, der Österreich ist, bewahren, wenn es darin seine Volksart ungestört erhalten, ungehemmt entfalten, wenn es sich selber bestimmen, seine Kräfte selber verwalten darf. Daß dieser Zusammenhang von Völkern, den das Haus Habsburg geschaffen hat, wie der ungarische Graf Szecsen es einmal formuliert hat, der »Ausdruck einer tiefliegenden politischen und inneren Notwendigkeit ist«, daran ist die Masse der österreichischen Völker in ihrer Empfindung niemals irre geworden. Alle blieben bereit, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist; freilich irgendeinem der anderen Völker irgend etwas von sich abzugeben war keines jemals bereit. Sie hatten alle den Wunsch, den der alte Palacky in Kremsier einmal so rührend einfältig aussprach: »Wir müssen Österreich so konstruieren, daß die Völker gern in Österreich existieren, das sei uns die leitende Idee!« Das haben die Böhmen Palacky, Rieger und Havlicek ebenso wollen wie die Kroaten Gaj und Jellacic, wie die Ungarn Szecsen, Eötvös und Deak, wie Stadion, Leo Thun und Heinrich Clam: nach außen eins, daheim aber frei, jeder im Landl sein eigener Herr. In Kremsier war’s fast schon so weit. In Stadions Gemeindegesetz auch wieder. Und wieder im Oktoberdiplom, ja selbst, wenn gleich nur sozusagen unterirdisch, auch im Februarpatent noch und so bis zu Taaffes Sturz. Die ganze Zelt über steht immer gleichsam Österreich, ein lebendiges Österreich, Karls VI. Österreich aus dem Ständischen ins Demokratische übersetzt, immer schon an der Tür. Nur wird ihm dann im entscheidenden Augenblick niemals Herein gesagt. Warum eigentlich nicht? Vielleicht bloß deshalb nicht, weil bei uns auch die besten Männer, sobald sie zu regieren berufen werden, an alles Mögliche dachten, nur nie daran, zu regieren. Zu den verhärteten österreichischen Eigentümlichkelten gehört nämlich, wie Redlich sagt, die seltsame »Vorstellung, daß nicht die Regierung, nicht die Minister, nicht der ›leltende‹ Staatsmann sich persönlich mit eigenen Kräften und Schmerzen um die Lösung der politischen Probleme des Staates zu bemühen hätten, sondern daß dies durchaus die Aufgabe der in Österrelch miteinander streitenden Völker und Parteien sei. So wie Schmerling darauf wartete, daß die Ungarn das Reichsproblem lösen würden, und für diesen Fall bereit war, solche Lösung befriedigt anzunehmen, so warteten seit Jahren die österreichischen Ministerpräsidenten darauf, daß die Völker sich ausgleichen, auch ihrerseits gewillt, ein derartiges Geschenk des Himmels nicht unwillig aufzunehmen. Bis dies aber geschehen würde, pflegten seit Dezennien unsere Staatsmänner beharrlich die Zumutung naiver Kritiker, daß Ausgleiche zu schaffen eigentlich deren eigenste Aufgabe, die Pflicht der Regierung wäre, selbst wieder mit würdiger Gelassenheit, aber energisch abzulehnen.« Warum aber eigentlich? Woher diese »Vorstellung«? Warum hat, seit wir konstitutionelle Minister hatten, keiner je zu regieren gewagt? Weil’s ihm nicht erlaubt war. Weil er ja nur unter der Bedingung, nicht zu regieren, Minister geworden war. Der geheime Regent Österreichs, der wahre Regent hat es ihm nicht erlaubt, die Bureaukratie. Von Marien Theresien eingesetzt, dann in der Person des Kaisers Franz, des vollendeten Bureaukraten, zur höchsten Macht gelangt, hat die Bureaukratie, um sich in dieser Macht zu behaupten, dadurch, daß es ihr gelang, den Deutschen einzureden, sie seien’s, die den »deutschen Charakter« Österreichs bewachen, immer wieder ein lebendiges Österreich zu verhindern gewußt. |
Zusammenfassung Das Buch von seinem Freund Josef Redlich ist für Bahr ein Geschichtsbuch zu der von ihm propagierten Idee von Österreich. Es zeigt auch in der Bürokratie den Fehler auf, an dem Österreich scheiterte.
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Alternative Drucke Hermann Bahr: 10. November [1920]. In: Kritik der Gegenwart. Augsburg: Haas & Grabherr 1922, S. 260–271.
Schlagwörter Artikel in einem Periodikum, Tagebuch