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In einer mittleren norddeutschen Stadt kam jemand neulich auf
den Einfall, an den Litfaßsäulen Plakate mit den zehn Geboten Gottes anzuschlagen.
Weder Aufschrift noch Unterschrift; nur die Worte Gottes allein. Es kamen Leute,
blieben verwundert stehen, lasen, was alles der Mensch da soll und nicht soll, und
die Menge der Neugierigen, Staunenden, Nachdenklichen wuchs. Viele fanden diese
Forderungen übertrieben; es war ja sicher gut gemeint, aber doch eine zu starke
Zumutung an den Menschen. Manche vermuteten in dem Verfasser einen jener
bewundernswert rein gesinnten, aber unpraktischen Idealisten, die mit der
menschlichen Natur ungenügend bekannt sind. Es wäre freilich schön, wenn der
Mensch so wäre, daß er solche Forderungen erfüllen könnte, doch vorderhand ist er
halt noch nicht so weit, und so weit wird er wahrscheinlich in
dreimalhunderttausend Jahren auch noch nicht sein. Mit sittlichen Ansprüchen aber,
denen nun doch einmal niemand gewachsen sei, werde wenig geholfen. Übrigens gab es
in der Menge einige alte Leute, die sich erinnern wollten, ähnliches früher schon
einmal gehört zu haben. Nur ein junger Mensch beteuerte, fortan nicht mehr ruhen
zu wollen, bis ihm der Versuch gelungen wäre, mit diesen Geboten ernst zu machen;
an dem Armen sollen schon vorher Zeichen eines verstörten Wesens bemerkt worden
sein und er steht jetzt unter Beobachtung. Übrigens erschien einige Tage später
neben diesem Plakat ein anderes, da pries Paul Steegemann, der geniale Verleger
Dadas, Kurt Schwitters Anna Blume an, gewissermaßen die Wacht am Rhein des
deutschen Dadaismus. Das interessierte doch das Volk noch mehr und da waren die
zehn Gebote dann wieder vergessen. | |