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Auf meinen Glückwunsch zum Sechziger schrieb mir Karl Kautsky
neulich, unserer Jugendzeit nachsinnend: »Jeder von uns gedachte damals den Himmel
zu stürmen ... Wir haben ihn nicht erstürmt, aber aus den Wolken sind wir doch
auch nicht gefallen.« Dieser Satz, in seiner guten Mischung von Resignation und
Selbstgefühl, wäre die richtige Grabschrift unserer Generation. Sie hat nicht, wie
wir uns damals vermaßen, Epoche gemacht; wir waren kein großes Geschlecht. Aber
wenn man unser Werk mit dem der Väter vergleicht: was wir von 1880 bis 1920
erwirkt haben, mit dem Ertrag der Arbeit von 1840 bis 1880, so wollen wir der
Jugend von heute nur wünschen, daß auch sie dereinst, um 1960, so guten Gewissens
auf sich zurückblicken darf, wie wir jetzt auf uns. Es war freilich nicht Wirkung
in Höhen und Tiefen; es war mehr Wirkung ins Breite. Von unserer Zeit wird man
einst sagen, aber ohne Ironie: die Masse hat es ausgemacht! Meln Jugendtraum war,
wir würden eine neue Menschenart bringen. Nein, das ist uns nicht beschieden
gewesen. Aber heute nimmt doch eine viel größere Zahl von Menschen bewußt an der
Menschheit teil als vor uns. Und wir haben die Vorherrschaft des »theoretischen«
Menschen gebrochen, wir sind dem ganzen Menschen in all seiner Fragwürdigkeit
jetzt doch wieder näher. Das volle Leben, das im XVII. Jahrhundert von
auserwählten Einzelnen versucht wurde, könnte jetzt einmal gemeinsam entworfen
werden: ein zweites Barock auf breiterem Grund, ein Barock auf Volksgrund ist
möglich geworden. Breite, werden Zweifler sagen, auf Kosten der Höhe! Das ist es
ja, was man schon unserer Generation vorwirft und für die nächste, nach den ersten
Zeichen, die sie gibt, noch mehr befürchten zu müssen glaubt: denn in dieser
scheint es unbegabte Menschen überhaupt nicht mehr zu geben, es ist ihre Signatur,
daß in ihr jetzt jeder Talent hat. Aber ist denn das, was jedermann hat, ist das
dann eigentlich noch Talent? In Wissenschaft und Kunst ist hohes Können so
gebräuchlich, ja man könnte sagen: das Ungewöhnliche ist jetzt schon so gemein
geworden, daß nun noch darüber empor bis zur Auszeichnung zu dringen fast gar
nicht mehr möglich scheint. Es gibt keine Meister mehr, oder es gibt so viele, daß
der Name nicht mehr ehrt. Aber wenn heute so viele wie niemals zuvor die Würde der
Meisterschaft ansprechen dürfen, wer unter ihnen hätte jene letzte Höhe der
Vollendung erreicht, auf der dann die Vortrefflichsten aller Zeiten einander über
die Zeiten hinweg die Hände zum Bunde reichen? Hat irgendein Volk jetzt in
Wissenschaft oder Kunst einen wie Goethe, wie Balzac, wie noch Dostojewski, noch
Whitman, noch Nietzsche die ganze Zeit oder doch ein ganzes Volk summierenden
Mann? Oder auch nur ein einziges Werk, das in jene zeitlose Höhe zu gelangen
erwarten könnte? Hauptmann, in der Zeit des Hannele, schien daran, die ersten
Verse des jungen Hofmannsthal verhießen es, beide hatten mit George, d’Annunzio
und Maeterlinck das Wissen um diese Höhe, die Sehnsucht nach ihr, den Anlauf
gemein; doch es blieb unergiebig. Und so hätte diese ganze Zeit kein unsterbliches
Werk vermocht? Keine » Vita nuova«, keinen »Don Quichotte«, keinen »Werther«? Ja
hat sie denn auch nur einen »Nachsommer« vermocht? Wir fühlen, daß da noch ein
Unterschied ist, der sich freilich kaum aussprechen läßt: irgendwie gehörte schon
der Nachsommer auch in die reinste Region der Kunst, er traut sich nur sozusagen
selbst nicht ganz hinein. Barrès schrieb in seiner Jugend einen Roman, » Le Jardin
de Berenice«, da hat man dasselbe Gefül ganz wie schon bei Hölderlin oder Novalis:
sie bleiben vor Ehrfurcht an der Schwelle der höchsten Kunst. So Claudel auch.
Aber welcher deutsche Dichter unserer Zeit kam auch nur bis an diese Schwelle?
Trakt starb vorher. Blieb diese ganze Generation bei so hohem Willen dennoch
unvermögend? Wie froh bin ich, nun doch noch einen von uns auf der Schwelle zu
sehen! Und als ein hohes persönliches Glück empfinde ich das, fast als eine
Rechtfertigung für uns alle! Denn so ist doch unser Tun kein eitles gewes n, wenn
es zuletzt einen von uns vor das Angesicht der großen Kunst gebracht, wenn es ein
Werk ergeben hat, das über den Zeiten fortleben wird: Thomas Manns »Gesang vom
Kindchen« wird unser Denkmal sein! Fünfzig Seiten Hexameter. Zur ersten sagt man
leichthin: Aha, Hermann und Dorothea! Und aufatmend wiederholt man auf der letzten
beglückt: Hermann und Dorothea! Goethe schrieb: »Ich habe das rein Menschliche der
Existenz einer kleinen deutschen Stadt in dem epischen Tiegel von seinen Schlacken
abzuscheiden gesucht.« Hier ist es das rein Menschliche der Kultur des deutschen
Bürgertums, das in dem epischen Tiegel gereinigt wird. Und wenn Humboldt an
Goethes Werk »das große Bild von der Lage der Zeit nach der neuen Umgestaltung der
Dinge« rühmt, »worauf das ganze Gedicht wie auf einer ungeheuren Basis ruht«, so
fehlt es auch hier an einer solchen ungeheuren Basis nicht: ins Idyll liebevoller
Häuslichkeit blickt des Weltkriegs rasendes Auge, blickt das zerstörte Vaterland
herein. Und wenn Goethe bekennt, er habe »da hinein, so wie immer, den ganzen
lausenden Ertrag seines Daseins verwendet«, so wird auch hier aus der Erzählung
vom Kindchen, wie der Vater es uns bald im Bade, bald beim putze, dann wieder
hinter dem Gittergeländer des tiefen Bettchens oder im Körbchen schlummert«,
zuletzt aber gar in großer, zur Feier der Taufe vereinter Gesellschaft zeigt,
sachte ganz unwillkürlich das reinste Selbstbildnis des Dichters: was er uns sonst
in seinen Werken nur in Umgestaltung maskenhaft ahnen ließ, hier schlägt er es bis
ins Herz hinein vor uns auf! Und auf die allereinfachste Art: er läßt nur alles
Unwesentliche weg, so bleibt ihm das Leben selber in der Hand! Er betrachtet die
Züge der kleinen Schläferin: »Heimat und phantastische Ferne treffen sich in dir,
Kindchen, Nord im West und östlich tieferer Süden, Nieder- und Morgenland. Von
gelber Wüste erzählet Mir das zierlich vorgebaute Untergesichtchen Und das
arabische Naschen. Lächelt mir freundlich dein Auge? Blau zwar strahlt es wie
nordisch Eis, doch zuweilen kaum faßbar Meinem prüfenden Sinn, aus seiner Tiefe
erdunkelt’s Irgendwie süß und exotisch, in fremder Schwermut – indes doch Blond
die Braue dir steht, ganz wie den hansischen Vätern. Doppelt ist deine Heimat,
niederdeutsch und exotisch, Wie meinem Sinn die Vaterstadt zwiefach stehet: am
Hafen Einmal der Ostsee, gotisch und grau, doch als Wunder des Aufgangs Noch
einmal, entrückt, die Spitzbogen maurisch verzaubert, In der Lagune –
vertrautestes Kindheitserbe und dennoch Fabelfremd, ein ausschweifender Traum.«
Enthalten diese paar Verse nicht eigentlich alles, was in den Buddenbrooks und in
Fiorenza und im Tod in Venedig steht? Und wieder, wenn er dann, bei der Taufe, von
dem einen der Paten, einem jungen Invaliden sagt: »Dir stand im gläubigen Herzen
ein anderes Deutschland: das wahre. Für das tiefsinnige Vaterland zeugtest du,
welches den Fremden Zwar ein Fremdes war und ein hohes Ärgernis immer, Aber auch
Ziel ihrer Ehrfurcht und ihrer heimlichsten Hoffnung: – Nicht für das
selbstvergessene, das strotzenden Leibes sich aufhob, Sich zum Meister zu machen
des gegenwärtigen Weltstands.« Ist in diesen sechs Zeilen nicht alles versammelt,
was er in den »Betrachtungen eines Unpolitischen« den tauben Deutschen einzubleuen
sich vergebens mühte, fast der einzige, der damals Deutschland ganz erkannte, die
furchtbare Schmach erkannte, der es verfallen war, aber auch die hohe Sendung, zu
der es auserwählt bleibt? Wie wunderbar aber empfinden wir dabei die sanfte Macht
der Dichterhand, die, was sie berührt, sogleich demaskiert und uns, was es auch
sei, Lust oder Leid des Augenblicks, darin die stillen Züge der Ewigkeit erkennen
läßt. Mas ist denn eigentlich Großes dabei, wenn einem zu vier Kindern nach einer
Pause noch ein fünftes beschert wird? Aber groß wird’s, wenn er daran erlebt, daß
wir überhaupt nur Großes erleben, bei jedem Blick, in jedem Laut! Und deutsch ist,
seit Jung-Siegfried die Sprache des Waldvogels verstehen gelernt, daß uns jeder
Grashalm genügt, um die Größe des Schöpfers daran zu schauen. »Das Große posaunet
sich nie aus«, hat Stifter gesagt, und wirklich Stifter-Art hat dieser »Gesang vom
Kindchen«, er ist, wie Stifter von der Kunst verlangt, »Arbeit an dem Himmlischen
dieser Erde«. So führt uns dieses Werk über Stifter an Stelzhamers Ahnl vorbei zum
armen Spielmann und zur Geschichte vom braven Kasperl und der schönen Annerl bis
an Hermann und Dorothea zurück und stellt den Zusammenhang unserer Generation mit
der großen deutschen Dichtung wieder her. Über Hermann und Dorothea schrieb die
Barbara Schultheß an Goethe: »Ist’s einem doch, der alte Homer lebte unter uns –
und erzähle Geschichten unserer Tage.« Genau so wird’s einem hier wieder! Denn das
ist das Merkwürdige: wenn uns nur ein Deutscher recht aus seines Herzens treuer
Einfalt und, wie wieder Stifter es einmal nennt: »nichts anderes als die Sachen
gebend«, Geschichten erzählt, dann lebt gleich immer wieder der alte Homer unter
uns, wir müssen schon irgendwie ganz geheimnisvoll dem Griechensinn verwandt sein!
Und so mag auch Mann von sich sagen: Doch Homeride zu sein, auch nur als letzter,
ist schön. Auch die traurigen Zeiten, sie führ ich vorüber; Aber es siege der Mut
in dem gesunden Geschlecht. Weise denn sei das Gespräch! Uns lehret Weisheit am
Ende Das Jahrhundert; wen hat das Geschick nicht geprüft? Blicket heiterer nun auf
jene Schmerzen zurücke, Wenn euch ein fröhlicher Sinn manches entbehrlich erklärt.
Menschen lernen wir kennen und Nationen; so laßt uns, Unser eigenes Herz kennend,
uns dessen erfreu’n! Wie doch da Vers für Vers Goethes auf Mann und unsere
Gegenwart stimmt! Vor allem diese beiden Sätze: »Aber es siege der Mut in dem
gesunden Geschlecht« und: »So laßt uns, unser eigenes Herz kennend, uns dessen
erfreu’n«. Der Deutsche braucht ja wirklich nur endlich wieder einmal sein eigenes
Herz kennen zu lernen und er wäre gesund und es siegte der Mut! Was schiert uns
Macht und Ruhm und Lohn? Der Deutsche hat in sich selber Welt genug, um jede
äußere entbehren zu können! Hört den Gesang vom Kindchen, da klingt das alte
heilige Deutschland wieder, das unsterbliche! | |