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In einem Entwurf, den er unausgeführt ließ, erzählt Fontane von
einem Ehepaar, das, als es zur goldenen Hochzeit kam, beschloß, die
Hochzeitsreise, die es vor fünfzig Jahren gemacht, noch einmal zu machen,
neugierig, wer sich inzwischen mehr verändert hätte, die Welt oder sie selbst. Und
so machten sie sich, sie siebzig, er fünfundsiebzig, wiederum, wie damals, nach
Venedig auf und siehe da, die Gondel und der Kanal, Rialto und Campanile, alles
war unverändert, und die Tauben von San Marco und die Assunta auch. Nur sie selber
sind verändert. Denn damals haben sie sich in einem fort gezankt und jetzt zanken
sie nicht mehr. Und damals haben sie Engländer nicht ausstehen können und jetzt
finden sie sie doch eigentlich ganz fein. Und damals war der jungen Frau die
Assunta »zu dunkel, zu katholisch« und jetzt ist auf einmal der alten Frau »der
Ausdruck der Verklärung, das allem Irdischen Abgekehrte« ganz vertraut – »ach, in
unseren Jahren versteht man es« (nur warum sie dazu denn eigentlich »ach!« sagt,
weiß ich nicht). Kurz: das Leben draußen ist ganz dasselbe geblieben, das Leben
bleibt immer dasselbe, nur der Mensch ändert sich mit den Jahren, er wird um so
besser, je mehr er durchgebraten wird. »Es fällt vieles von uns ab, aber das, was
bleibt, das ist das bessere Teil und vor allem auch das glücklichere.« Mir recht
aus dem Herzen gesprochen! (Wenn ich auch leider zurzeit die Probe darauf in
Venedig nicht machen kann, denn Fontane hat nur eines vergessen: die Welt ändert
sich allerdings nicht und der Mensch wird immer besser mit den Jahren, aber unsere
Valuta nicht.) Wir könnten aus der allerliebsten kleinen Erzählung vor allem
lernen, daß man doch auch die Weltgeschichte nicht überschätzen darf. Sie hat
einige Macht über die Landkarten, man muß sich zu Zeiten neue Namen merken, unter
denen aber doch immer das Alte bleibt. Ich denk mir’s oft, wenn ich, an solchen
Wintersonnentagen durch die römische Ebene Salzburgs schreitend, nachsinne, was
sich alles mit uns begeben hat und wohl noch begeben wird, aber dann auf einmal
über den sinkenden Morgensilbernebeln unser alter Untersberg sein verschneites
Haupt rötlich schimmernd erhebt: der Untersberg hat von Umsturz, Republik und
Sozialisierung noch nicht die geringste Notiz genommen! Was immer sich an
sogenannten geschichtlichen Ereignissen zutragen mag, das Eigentliche, das
Wirkliche des Menschenlebens wird dadurch nicht berührt, ja das Eigentliche, das
Wirkliche des Menschenlebens merkt gar nichts davon. Wenn sich zwei Menschen lieb
haben, können sie wirklich auf den übrigen Rest der Weltgeschichte ruhig
verzichten. Man braucht nur doch etwas lange, bis man die wahrhaften
Wirklichkeiten entdeckt. Für die Jugend sind gerade sie: Sonnenschein,
Sternenhimmel, Schnee, das Gesicht eines guten Hundes, der Untersberg, gerade des
Lebens Unvergänglichkeiten, die Pfänder der ewigen Seligkeit sind für die Jugend
meistens noch gar nicht vorhanden, während sie fest an Billard, Politik und derlei
Zweideutigkeiten mehr glaubt. Und eben an Fontane, je mehr ich jetzt wieder mit
ihm zusammen bin (Fischers kleines »Fontane-Buch« ist mir dabei der liebste
Gehilfe), wird mir das Geheimnis der wahrhaft glücklichen Menschen offenbar,
nämlich: früh alt, mit den Jahren immer jünger zu werden; die schönste Zeit
scheint doch eine Kindheit mit weißen Haaren zu sein! Und dazu hat er dann auch
noch die Kraft gehabt, ein Privatmensch zu bleiben; er hat sich von der
Öffentlichkeit nicht auffressen lassen, das Beste von sich behielt er bei sich.
Aber plötzlich verlangt mich dann doch immer wieder mit Gewalt aus der Berliner
guten Stube Fontanes in die große Landschaft Whitmans hinaus, wo man immer das
Meer rauschen hört: erst beide zusammen haben ganz recht! ... Der Hauptunterschied
zwischen ihnen ist übrigens, daß der Wanderer durch die Mark dennoch von Grund aus
städtischer Sinnesart blieb, auch in seinem Verhältnis zur Natur (genau demselben,
das schon der Osterspaziergang im »Faust« schildert: der Bürger spaziert in der
Natur, er steht auf dem Bes chfuß zur Natur, einem Sonntagsbesuchfuß; auch dann
noch, wenn er sich für einen Alpinisten hält), während Whitman ein Unikum ist als
seefahrender, landstreichender, passioniert pflastertretender Mensch in einer
Person, der erste nämlich, dem auch die Großstadt zur Natur geworden ist, der
Marktgewühl und Straßenlärm und Massendrang als etwas ganz ebenso Elementares
empfindet wie Meeresbrandung oder Waldesrauschen oder Bergesstille, gewissermaßen
ein ins Gigantische wachsender, ein kosmischer Handwerksbursch. Das abendländische
Vorurteil, ein Schlot könne nicht schön sein oder ein Menschenauflauf sei weniger
malerisch als eine Büffelherde, kennt er nicht; er nimmt auch eine Fabrik ganz
naiv als ein natürliches Gewächs hin, mit einer Unschuld des Blicks, die hier auf
unserem Kontinent, dem alten, nur allenfalls Arno Holz und Verhaeren gelegentlich
haben. Arno Holz am schönsten im »Buch der Zeit«. Das ist 1885 zum erstenmal
erschienen, jetzt aber in der dankenswerten Auswahl seiner Werke wieder
abgedruckt, durch die das Berliner Deutsche Verlagshaus Bong die Deutschen an den
reinsten Dichter meiner Generation mahnt. Sie bringt von Lyrischem das »Buch der
Zeit«, den »Dafnis«, die »Blechschmiede«, von Dramatischem die
»Sozialaristokraten«, die »Sonnenfinsternis« und »Ignorabismus«. Kein anderer
meiner Generation hat mit solcher Gier um den Ausdruck unserer Zeit, um eine neue
Form geworben (gar in Ignorabismus, wo versucht wird, auch den äußeren Apparat der
Welt, auch jedes Geräusch unseres Lebens mitspielen zu lassen und nicht bloß die
Worte, nicht bloß den Akzent, sondern jeden Atemzug der Gestalten und auch noch
das Mitschwingen, das Mitzittern, ja sozusagen selbst Dunst, Geruch und Luft ihrer
Umgebung zu fixieren), aber merkwürdig!, in keinem seiner späteren Werke steht das
»Neue« der Zeit in der ganzen Unmittelbarkeit der augenblicklichen Erscheinung mit
solcher Gegenwart, ja solchem Aroma des Augenblicks da, wie jenes noch ganz
unbefangen die gewohnten ererbten lyrischen Formen, den guten alten »Leierkasten«
handhabende »Buch der Zeit« es uns fast in jedem Verse vernehmen läßt. Er hat hier
nicht bloß die »Poesie der Großstadt« entdeckt, sondern auch schon das grandios
Naturhafte, den Zug von Ewigkeit an ihr, einer freilich gewissermaßen neugebornen
Ewigkeit, welches paradox allerdings bei Whitman noch gewaltiger die Flügel
sträubt. Im »Buch der Zeit« aber hat’s einen ganz eigenen lieben Reiz gerade
dadurch, daß im Grunde dazu noch immer die Schalmei der guten alten Zeit geblasen
wird. | |