1. Juni [1920]

Hermann Bahr: 1. Juni [1920]. In: Kritik der Gegenwart. Augsburg: Haas & Grabherr 1922, S. 144–145.

Verfasser:in Bahr, Hermann
Titel 1. Juni [1920]
Gesamttitel Kritik der Gegenwart
Erschienen
  • Augsburg
  • Haas & Grabherr
  • 1922
  • Seite 144–145
Rezensiert
  • Karl Ludwig Schleich: Vom Schaltwerk der Gedanken. Neue Einsichten und Betrachtungen über die Seele (1916)
  • Karl Ludwig Schleich: Gedankenmacht und Hysterie (1920) [Reinbek: Rowohlt]
Volltext Karl Ludwig Schleich, Strindbergs Jugendfreund, Chirurg und Poet, als Ersinner der Infiltrations-Anästhesie (ich habe keine Ahnung, was das eigentlich ist, aber jeder Arzt macht auf den bloßen Namen hin ein ehrfurchtsvolles Gesicht) sehr berühmt, hat schon vor einigen Jahren seinen wissenschaftlichen Ruf durch die Taktlosigkeit gefährdet, in den geistlichen Übungen des Heiligen Ignatius »ein bisher ganz übersehenes, praktisch enorm wichtiges Heilverfahren« aufzufinden, ja es in seiner eigenen ärztlichen Praxis anzuwenden und dann gar noch dazu mit diesen Methoden des heiligen Ignatius die größten Erfolge zu haben; sein auch sonst für einen doch sozusagen beruflich zum Materialismus verpflichteten, auf Materialismus vereidigten Mann höchst ketzerisches Buch »Vom Schaltwerk der Gedanken« (Neue Einsichten und Betrachtungen über die Seele. S. Fischer Verlag, Berlin 1916) erzählt davon. Es enthält auch einen sehr merkwürdigen Aufsatz über »die Hysterie – ein metaphysisches Problem.« Da wird ein Fall von Fieber aus Hysterie, ferner ein Tetanus aus Hysterie, schließlich ein Tod aus Hysterie berichtet: alle drei bloß durch Phantasie, durch eine rein geistige Kraft also bewirkt. In einem jüngst zu Charlottenburg gehaltenen Vortrag über »Gedankenmacht und Hysterie«, der jetzt im Ernst- Rowohlt-Verlag, Berlin, erschienen ist, definiert er nun, jene Beispiele benützend, die Hysterie als »einen Spezialfall der Schöpfung aus Idee«, durch den also Platos Lehre, daß nichts in der sinnlichen Welt ist, was nicht vorher in der schöpferischen Vernunft war, bewiesen sei, bewiesen, daß unsere Phantasie »direkt schöpferisch Formen erzeugt«, bewiesen »Formenbildung aus Idee«, bewiesen, daß auf rein geistigem Wege Substanz entstehen kann. Wie mag sich nur ein »Mann der Wissenschaft« so finsterer Mittelalterlichkeiten erdreisten? Er hat sich schon in jenem Buch auf sehr verdächtigen Gesinnungen ertappen lassen. Sagt er doch dort geradezu: »Die Menschen, welche ohne den Glauben an ein ewiges Leben leben, haben überhaupt kein Dasein, sondern nur ein Hiersein. Wieviel würde die Menschheit gewinnen, wenn sie so lebte, als gäbe es eine Vorbereitung auf das Jenseits! Die Unsterblichkeit, wenn es sie nicht gäbe, müßte aus psychologischen Gründen als ein einzig mögliches Lebensregulativ besonders erfunden werden. Es hat keinen epochalen Menschen gegeben, der nicht den Glauben an Allmacht und Unsterblichkeit besessen hätte.« Und an einer anderen Stelle: »Was ist Wissenschaft? Der Versuch, die Wunder der Welt glaubhaft zu machen. Aber um das zu können, muß man diese Wunder zunächst mutig anerkennen!« Es wird Zeit, daß die Herren Oberlehrer, die Hüter der Gedankenfreiheit, diesem ersichtlichen Pfaffenknecht das Handwerk legen. |
Zusammenfassung Schleichs Arbeiten zur Hysterie und überhaupt zur Grundlage der Wissenschaft im Glauben gefallen Bahr.
Weitere Drucke (Periodika)
Alternative Drucke Hermann Bahr: Tagebuch. 1. Juni. In: Neues Wiener Journal, Jg. 28, Nr. 9562, 20.6.1920, S. 6.
Schlagwörter Buch, Section, Tagebuch, Buchtext