22. August [1920] [1920]

Hermann Bahr: 22. August [1920] [1920]. In: Kritik der Gegenwart. Augsburg: Haas & Grabherr 1922, S. 202–203.

Verfasser:in Bahr, Hermann
Titel 22. August [1920] [1920]
Gesamttitel Kritik der Gegenwart
Erschienen
  • Augsburg
  • Haas & Grabherr
  • 1922
  • Seite 202–203
Volltext Komisch, wie stark mein Burgtheaterbüchl doch wirkt! Offenbar erfahren viele daraus erst, daß dort, wo jetzt unsere Bettelrepublik verendet, in alten Zeiten das Herz eines mächtigen, das Abendland führenden Reiches schlug und daß dieses strahlende Reich anderthalb Jahrhunderte lang der abendländischen Kultur ihren reinsten Ausdruck gab, in Sinnesart, Haltung und Gebärde nicht nur, sondern bis in jeden Atemzug des täglichen Lebens hinein. Das Merkwürdige war nun, daß sich diese hohe Gewalt auf einmal ihrer selbst zu schämen und ihren Geist zu verleugnen begann. Was sonst an den Großen der Geschichte durch Neid, Eifersucht und Tücke der sich gegen sie zusammenrottenden Kleinen verübt wird, tat Österreich sich selber an; es war sich plötzlich verleidet, es wollte nichts mehr von sich wissen. Mit Maria Theresia fing die Selbsterniedrigung Österreichs an, und diese Selbsterniedrigung als System, Österreichs Entösterreicherung als System ist der Josefinismus. Der erzog den Österreicher dazu, sich sein Wesen abzugewöhnen. Seitdem erschrak der Österreicher, wenn er sich doch noch einmal auf einer eigenen Tat, auf seinem eigenen Sinn ertappte. Von uns selber wegzuleben wurden wir hundert Jahre lang gedrillt, bis Österreich erloschen und jeder Österreicher zum Affen irgend einer fremden Art geworden war. Dieses Werk des österreichischen Liberalismus wurde in den sechziger Jahren reif. Reif für Königgrätz. November 1918 zog dann nur noch den notwendigen Schluß aus Königgrätz. Schon damals waren wir so weit, daß etwa selbst ein solcher Urösterreicher wie Stifter von unserem Barock, dem Stil der österreichischen Seele, nichts mehr wußte; das österreichische Barock hat von Albert Ilg erst wieder entdeckt werden müssen (beim Bau der Altlerchenfelderkirche, die noch im »Jesuitenstil« geplant war, wurde von der öffentlichen Meinung das gotisch romantische Gemisch erzwungen, das allein damals für wahrhaft »kirchlich« galt, und selbst Rudigier, der große Bischof, auch ein Urösterreicher, entschied sich für einen »gotischen« Dom, in dem doch Gott sei Dank an Leib und Seele von Grund aus ungotischen Linz!) So kam es auch zu dem höchst merkwürdigen Geschichtsunterricht der liberalen Zeit, der uns in der Schule mit den punischen Kriegen und dann allenfalls noch mit den wildfremden Hohenstaufen quälte, die sämtlichen Daten der englischen wie der französischen Revolution von den armen Buben erzwang, Österreich aber ausließ, Österreich unterschlug: in der Schule des Liberalismus sind alle österreichischen Kinder in Abwesenheit Österreichs erzogen worden. Österreich zerfiel erst, als es schon seit zwei Generationen keinen Österreicher mehr gab. Und jetzt wundern sie sich, wenn sie aus meinem Burgtheaterbüchl erfahren, daß es überhaupt einst ein Österreich gab! Aber ganz Europa ringt gerade jetzt nach einem neuen Stil, der im Grunde nichts als unser altes Barock ist! Und so wird Österreich gerade jetzt, nachdem seine Form zerbrach, vielleicht erst sein wahres Leben finden, ein Leben im reinen Geiste! Und dann wird man schließlich auch einmal erkennen lernen, daß Goethes höchste Kunstform (die der Pandora, des zweiten Faust, der Maskenzüge) ganz ebenso wie Nietzsches am Anblick Wagners entzündeter Begriff einer vermeintlich dionysischen Kunst, aber ebenso dann auch noch der für gotisch verkannte tiefste Drang aller Expressionisten, daß dies alles schon im Grunde nur Heimweh nach dem vergessenen Barock war. |
Zusammenfassung Die Wirkung seines Buchs über das »Burgtheater« (1920) lässt ihn hoffen, dass nunmehr das Barock richtig verstanden und wiederkehren wird.
Weitere Drucke (Periodika)
Alternative Drucke Hermann Bahr: Tagebuch. 22. August. In: Neues Wiener Journal, Jg. 28, Nr. 9646, 12.9.1920, S. 6.
Schlagwörter Buch, Section, Tagebuch, Buchtext