7. September [1920]

Hermann Bahr: 7. September [1920]. In: Kritik der Gegenwart. Augsburg: Haas & Grabherr 1922, S. 215–216.

Verfasser:in Bahr, Hermann
Titel 7. September [1920]
Gesamttitel Kritik der Gegenwart
Erschienen
  • Augsburg
  • Haas & Grabherr
  • 1922
  • Seite 215–216
Volltext Kerr zieht im Septemberheft der »Neuen Rundschau« Fischers die Bilanz des heutigen deutschen Theaters: »Zwei Gegenrichtungen werden kenntlich. Links: das gelallte Stück. Rechts: das gefingerte Stück. Links: die verantwortungslose Nebelei, die kein Stück ist. Rechts: die feste Zimmerei, die nur »Stück« ist«. Es muß im letzten Winter zu Berlin schon sehr arg gewesen sein, wenn selbst er, zur Wahl »zwischen dem Gelall und dem Gefinger« genötigt, seufzend bekennt: »Man ist imstande und zieht das Gefinger vor«. Was fast nach einer Abbitte klingt, da doch grad er sonst gegen jeden der ihm nur im Leisesten zu »fingern« verdächtig war, immer gleich in Schaum geriet. Er begründet diesen Anfall von Reue mit dem kapitalen und wenn auch nicht just im Ausdruck, so doch im Gedanken geradezu goethischen Satz: »Unrecht ist mir lieber als Stuß.« Und dann tobt er noch einmal los: »Stegreifstammeln; das Widersinnige mit Wirrsalwillkür hingeheult; Skurriles mechanisch aufs Papier genäßt voll Schwäche; wertloses, aberwitziges Zeug im Handumdrehen; hundert Zeilen auf gut Glück weitergeharnt; Geplapper statt Ausdruck; Schwaden statt Ballung; Zergehendes – aus Hinfälligkeit; Verwaschenes – aus Willensschwund ... Embryonensumpf; Erzwungenes; Erkrümmtes; die gehäuften ausgerechneten Unwirklichkeiten – aus Verzweiflung (nicht Verzweiflung über die Welt, über den tiefen Begabungsmangel). An Haaren fehlt es nie, woran alles herbeigezogen wird; außer auf den Zähnen. Rings Psychoschmonzes; das Um-die-Ecke; noch lange nicht einmal Buchdramen; Pollack, wo hast du’s Ohr; Qualm; jede Spur von Sinn, durch ein Mikroskop ermittelt, läßt sich der Fötus noch ankreiden. Dunst als Ziel; Unmacht als Gesetz; Dichtung als Stenogramm des besoffenen Droschkenkutschers; brägenbrüchige Faulheit als Tugend stabilisiert; Widerstandsmangel, Schumm, Pleite, Kollaps als Vorbild; Windeln als Gemälde; Wallach-Aufruhr; gute Zeit für Mießnicks mit Schubladen. Einst Expressionismus genannt«. Aber in all seiner Wut vergißt er doch nicht hinzuzufügen: »Alle Richtungen sind wunderbar, wenn ein Kerl dahinter steht.« Ja das ist es: Auf den warten wir alle, auf den Kerl! Vielleicht aber ist er schon da, vielleicht ist es Unruh, der nur dazu noch ein bischen »fingern« zu lernen hätte, ja vielleicht sich bloß auf das Fingern zu besinnen hätte, das er doch in den »Offizieren« schon ganz gut verstand und nur dann über den Krieg halb vergaß. |
Zusammenfassung Aus Alfred Kerrs Flüchen über die abgelaufene Theatersaison nimmt Bahr, dass es einen dramatischen »Kerl« brauche. Und fragt sich, ob Fritz von Unruh das nicht wäre.
Weitere Drucke (Periodika)
Alternative Drucke Hermann Bahr: Tagebuch. 7. September [II]. In: Neues Wiener Journal, Jg. 28, Nr. 9660, 26.9.1920, S. 5.
Schlagwörter Buch, Section, Tagebuch, Buchtext