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Schon als Student fiel mir Robert Müller unter seinen Kameraden
auf durch das Wesentliche seiner Bemühungen, als einer, der nicht bloß jongliert,
sondern nach der Wahrheit späht. In seinem Blut ist dem schweren Ernst nordischer
Geistesart ein österreichischer Glanz beweglich aufgesetzt und ragt er schon durch
Talent hervor, so noch vielmehr dadurch, daß dieses Talent sich nicht in sich
selber beruhigt, sondern durchaus empor zum Sittlichen strebt. Dies zeichnet ihn
aus, aber eben dies drängt ihn freilich auch wieder zurück, da gerade dafür ja bei
Wienern, und heute noch mehr als je, doch alles Gefühl, alles Verständnis fehlt.
So lastet auch auf ihm drohend der Druck jener entsetzlichen Einsamkeit, an der,
wer irgend etwas ernst nimmt, in dieser lieben Stadt erstickt, und er sieht sich
fast zum Gespött werden gerade weil er, wie sonst dort von den Heutigen so
sichtbar vielleicht nur noch Ernst Wagner und Werfel, um die Probleme ringt, mit
denen die anderen sich immer nur allerliebst drapieren. Doch diesem ängstigenden
Gefühl, allein und ganz auf sich angewiesen zu sein, verdankt er es, daß sein
Blick aus der Enge der stumpfen Umgebung, um Hilfe suchend, ins Weite muß: weil er
daheim nichts Festes für den fordernden Tritt seiner Geistesart findet, sieht er
sich in die Welt hinausgewiesen, und zu der Freiheit, die schon durch sein ganzes
Wesen ihm vorbestimmt scheint, drängt ihn auch noch innere und äußere Not. Ihm
stand in jungen Jahren schon an der Stirn, daß er zu den nirgends verweilenden, zu
den schweifenden Geistern gehört, die erst lange kreisen müssen, um sich ihren
Mittelpunkt zu sichern. Auf den ersten Blick sah man ihm den Wikinger oder
Normannen an, den land- und seefahrenden Menschen, mit der inneren Spannung von
Grönland bis Sizilien; und dem phantasierenden Blick seiner Baumeisteraugen war
eine seltsame Nüchternheit beigemischt, eine Nüchternheit, die sich erlauben kann,
Haschisch zu rauchen. In dem Alter, wo man sonst Indianergeschichten liest, hat er
sie lieber gleich erlebt, und während Österreicher sonst meistens auch in den
Flegeljahren schon irgendetwas Pensioniertes an sich haben, ist er da eine Art
Cowboy, und wenn die paar guten Österreicher, die es bis zum November 1918
allenfalls noch gab, alle doch eigentlich eher Stephanstürmer waren, ist er der
letzte Revenant des großen Österreich, des barocken, gewesen, des Österreich, das
schon immer nur in der Vergangenheit und in der Zukunft lag. Wie rein er diesen
unsterblichen Mythos empfand, bezeugen nicht bloß seine Bücher »Österreich und der
Mensch« und »Europäische Wege« (S. Fischers Verlag, Berlin). Als nun der Mythos
dann wieder einmal eine Zeit entwich, schien auch Robert Müller mehrere Tage
hindurch dem Wahn nicht abgeneigt, was sich da so pompös als Revolution
ankündigte, könnte wirklich eine sein oder doch vielleicht, wenn sich ein Führer
fände, mit der Zeit eine werden. Es fand sich keiner, und aus einer Herzenssache
der Menschheit, die der Sozialismus fünfzig Jahre lang gewesen, wurde über Nacht
wieder die nur etwas vergröberte Mundart der conglomerated mediocrity, der Hofrat
atmete beruhigt auf, die Jugend aber, gewahr, daß sich die mediocrity jetzt nicht
mehr zu genieren brauchte, wodurch allein nämlich die neue Zeit sich von der alten
unterschied, die Jugend verstummte. Ihr sogenannter Idealismus besteht im Grunde
ja bloß darin, daß sie wünscht, über die Gemeinheit des Menschenlebens irgendwie
getäuscht zu werden. Es ist aber das Charakteristische dieser Epoche, daß sie
jetzt solche Täuschungen erst gar nicht mehr für nötig hält: die Gemeinheit des
Lebens wird jetzt akzeptiert. Der Jugend, die noch irgendwie jung geblieben ist,
bleibt, seit daheim nichts mehr vorhanden ist als Niedertracht, über die sie
selbst die lebhafteste Phantasie nicht hinweglügen kann, also nichts übrig als
ihre Sehnsucht auswandern zu lassen, und sie hat gar nicht weit zu wandern, da
begegnet sie dem Bolschewismus. Jugend hat heute keine Wahl; wenn sie, worauf
echte Jugend nicht gern verzichtet, schwär en und glühen will, kann sie’s heute
nur für den Bolschewismus. Es ist ja sonst öffentlich in Mitteleuropa jetzt nichts
mehr vorhanden, woran lebendige Phantasie kristallisieren könnte. Robert Müller
hat denn auch schon geschwind an ihm kristallisiert: in »Bolschewik und Gentleman«
(Erich Reiß, Berlin 1920). Damit ist, schon in der Aufschrift, vortrefflich
ausgedrückt, was der Bolschewismus dem Abendland bringen müßte, wenn er überhaupt
dem Abendland etwas bedeuten können soll: er muß irgendwie den Gentleman
vollenden. Die letzte große Form des Europäers ist der barocke Mensch gewesen. Auf
ihn hat seit dem XVIII. Jahrhundert die Verstandesbildung ihre Schatten geworfen.
Der Gentleman ist schließlich eine Art Kompromiß davon und dieses Kompromiß ist
erstarrt. Wir fühlen, er selber fühlt schon leise, daß ihm irgend etwas fehlt; ein
Hauch von Wärme, Freiheit, Weite: der Gentleman müßte wieder einmal in Schwingung
geraten. Und eben diese Schwungkraft ist es, die sich Robert Müller vom
Bolschewismus für ihn erhofft: eine neue Geistesrasse kündigt sich ihm in
Sibirjaken an, den »intuitiven Hochstil einer anderen, fremden, jedenfalls
dunkelrassigen Zukunftskultur« meint er da zu vernehmen. Ich kann das sehr gut
verstehen. Auch ich empfinde die fast magische Gewalt des Dunkels, in das sich
Lenin hüllt. Vielleicht ist es auch bloß der Reiz, den Chaos immer hat. Und
vielleicht ist es gerade nur Chaos, was dem Gentleman fehlt. Vielleicht muß wieder
einmal Chaos nachgefüllt werden, wenn das Abendland nicht erstarren soll. Aber es
ist auch möglich, daß, was uns alle so geheimnisvoll am Bolschewismus lockt, den
ja keiner von uns kennt, über den wir uns doch alle bloß aus vagen Gerüchten
eigentlich auf gut Glück nur allerhand zusammen phantasieren, daß dies gar nicht
der Bolschewismus selber ist, sondern nur der Wogenschlag des Ostens in ihm,
vielleicht auch einfach das russische Volk, dessen Urkräfte der Bolschewismus
jetzt, solang er sich noch verteidigen muß, und solang er noch erobern will, alle
zusammenfaßt und zunächst noch zusammenhält. Aber wie wird er aussehen, wenn er
sich erst entscheiden muß? Er ist echt russisch darin, daß er durchaus das Reich
Gottes errichten will, aber er hat sich noch nicht entschieden, ob er das Reich
Gottes errichten will mit Gott oder ohne Gott. Das ist im Grunde ja die einzige
russische Frage seit hundert Jahren; es ist auch der Inhalt Dostojewskis. Jeder
Russe glaubt, daß es der geschichtliche Sinn des russischen Volkes ist, zur
Verwandlung der irdischen Welt in das Reich Gottes berufen zu sein. Nur erwarten
es sich die einen von Gottes Ankunft auf Erden, wie sie vom heiligen Johannes
verheißen ist, die anderen aber erwarten sich das Reich Gottes nicht von Gott, den
sie längst, wie Dostojewski das einmal nennt, »kassiert« haben, sondern sie trauen
es der Menschenkraft zu, ja sie vermessen sich, daß aus dem Menschen selber Gott
werden soll, den es für sie jetzt noch gar nicht gibt, den erst der Mensch
erschaffen muß. Den Kampf, der über den Bolschewismus entscheiden wird, hat er gar
nicht mit dem Abendland, nein, den hat er in sich selber, mit sich selber
auszutragen: zwischen dem Christus des russischen Volkes und jenem frommen
Unglauben der russischen Intelligenz, den Mereschkowski (im »Anmarsch des Pöbels«,
bei R. Piper, München, wo jetzt auch sein »Auf dem Wege nach Emmaus« erschienen
ist, wirklich die ganze Geistesgeschichte der russischen Revolution, in ihren
Wurzeln aufgedeckt) einmal einen »mystischen Atheismus« genannt hat und in dem die
Gottesnähe der russischen Vergangenheit noch so gewaltig nachglüht, daß auch in
seinen Blasphemien noch mehr Gottesfurcht steckt als in den lyrischen Platitüden
deutscher Monisten, deren letzten, aus Jean Marie Guyaus » irreligion de l’avenir«
frisch gewürzten Aufguß jetzt Leopold Ziegler serviert, in seinem »Gestaltwandel
der Götter« (S. Fischer, Berlin), einer mit Nietzsche, der sich im Grab umdrehen
muß, gepfefferten David Friedrich Straußiade, die sozusagen auf ein seelisches
Onanieren hinau läuft. Atheisten der reinen Art, wie der edle Fritz Mauthner etwa
(von dessen Geschichte des Atheismus im Abendland eben der erste Band in der
Deutschen Verlagsanstalt, Stuttgart und Berlin, erschienen ist, ein in seinem
jeder anderen Geisteskraft entsagenden Vertrauen auf nichts als den gesunden
Menschenverstand, in seiner Ahnungslosigkeit der Geheimnisse rührendes, tragisches
Werk) oder der verehrungswürdige Josef Popper, zwingen mir durch den tapferen
Ernst ihrer Vermessenheit einen oft fast an Ehrfurcht grenzenden, freilich immer
von einem leisen Grauen begleiteten Respekt ab, ich habe für sie die tiefste
Bewunderung und das innigste Mitleid zugleich; wer sich aber aus Gott, dessen er
stolz entraten zu können meint, gleich darauf ein lustiges Spielzeug zur Emotion
müßiger Stunden macht, der beleidigt gar nicht so sehr meinen Glauben als mein
Bedürfnis nach intellektueller Rechtschaffenheit. Mit keinem dieser
abendländischen Atheismen hat der »mystische Atheismus« der Russen, von dem
Mereschkowski spricht, das geringste gemein, schon darum nicht, weil er durchaus
dämonisch ist. Es ist ein Atheismus, der Gott beleidigen will: damit setzt er
eigentlich schon Gott voraus, er braucht Gott (im Abendland finden wir Züge davon
nur beim Marquis de Sade, bei Goethes Prometheus und zuweilen im Byronismus).
Dostojewski hat ihn am tiefsten erkannt, an jener Stelle seines Tagebuchs (im
zwölften Band der Ausgabe Pipers), wo er von dem Bauernburschen erzählt, der, um
den anderen im Dorf zu beweisen, daß er sie sämtlich »an Frechheit« noch
überbieten könne, seine Flinte holt und auf die Hostie schießt: »Da, wie der Schuß
fiel, bekennt der Bauer dann in der Beichte, da stand plötzlich vor mir das Kreuz
mit dem Gekreuzigten; da fiel ich bewußtlos hin.« Indem Dostojewski nun die
»psychologische Seite dieses Falles« erörtert, findet er manches daran »in hohem
Grade für das ganze russische Volk typisch«, vor allem die Maßlosigkeit, ja das
»Bedürfnis, über das Maß hinauszugreifen, das Bedürfnis nach herzbeklemmenden
Empfindungen, das Verlangen, an einen Abgrund heranzugehen, sich mit dem halben
Körper schon über den Rand zu beugen, in die schaudervolle Tiefe zu blicken und –
sehr oft oder wenigstens in nicht seltenen Fällen – sich wie ein Wahnsinniger mit
dem Kopf voran in die Tiefe zu stürzen. Das ist das Verneinungsbedürfnis im
russischen Menschen, bisweilen sogar in einem durchaus nicht verneinenden, sondern
alles bejahenden Menschen – die Verneinung von allem, selbst des größten
Heiligtums des eigenen Herzens, seines höchsten Ideals, des ganzen
Volksheiligtums, vor dem er soeben noch ehrfurchtsvoll gekniet, das aber dann
plötzlich gleichsam zu einer unerträglichen Last für ihn wird. Er ist dann bereit,
alles zu zerreißen, zu vernichten, sich von allem loszusagen, von der Familie, von
den Sitten, von Gott. Der gutmütigste Mensch, wenn er einmal in diesen Zyklon
gerät, kann dann zum Tier, zum scheußlichsten Verbrecher werden, in diesem
verhängnisvollen Wirbel momentaner konvulsivischer Selbstverneinung und
Selbstzerstörung, der dem Russen so gefährlich ist.« Klingt’s nicht, als
schilderte Dostojewski den Bolschewiken? Gleicht der nicht jenem Bauern, dem aber
dann, wie der schändliche Schuß fällt, das Kreuz mit dem Gekreuzigten erscheint?
Wird auch dem Bolschewismus das Kreuz mit dem Gekreuzigten erscheinen? Novalis
sprach einst das dunkle, fast unheimliche Wort: »Die Sünde ist der große Reiz für
die Liebe der Gottheit; je sündiger man sich fühlt, desto christlicher ist man«.
Vielleicht bestätigt sich das am Bolschewismus wieder. Vielleicht erlebt er in
seinem unbändigen Freiheitssinn noch das Johanniswort: »So euch nur der Sohn frei
macht, so seid ihr recht frei!« Der Bolschewismus ist im Grund eine religiöse
Frage. Im Grund gibt es doch überhaupt nur religiöse Fragen. | |