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Als ich mich in den Jahren 1884 bis 1887 an der Berliner
Universität zuerst im Seminar von Adolf Wagner, später bei Gustav Schmoller der
politischen Ökonomie befliß, lernte ich Wolfgang Heine kennen, der jetzt ein
Führer der deutschen Sozialisten ist. […] Dort war es auch, im Café Bauer oben,
daß wir [=Wolfgang Heine und H. B.] einmal Arno Holz trafen. Es eben, 1885, sein
«Buch der Zeit” erschienen, das, in der Form eigentlich noch gar nicht so neu, uns
doch durch seinen frechen und verruchten Ton entzückte; wir fühlten überall den
Rebellen heraus. Und dann hatte ihm der «Kladderadatsch” geraten, Essigfabrikant
zu werden; im «Kladderadatsch” verhöhnt zu sein, genügte aber damals, um von der
Jugend bewundert zu werden. Auch war uns in unseren schwanken Stimmungen nichts
gewiß als ein sehr starkes Zeitgefühl. Dieses aber schlug in jenem Buche heftig.
Vivos vocos stand gleich dem dem Titel, und dann hieß es: D’rum ihr, ihr Männer,
die ihr’s seid, Zertrümmert eure Trugidole Und gebt sie weiter, die Parole:
«Glückauf, Glückauf, du junge Zeit!” und ebenso: Das Lied der Lieder, Das ist das
Lied der Zeit und: Ein neu Geschlecht, schon wetzt es seine Schwerter, Schon webt
die Sonne ihm den Glorienschein, Und glaubt: Es wird kein veilchenblauer Werther,
Es wird ein blutiger Messias sein! In solchen Drohungen meinten wir unsere eigene
Stimme zu vernehmen, und wenn er sich rühmte: Der Tonfall meiner lyrischen
Kollegen Ist mir ein unverstand’ner Dialekt, Denn meinem Reim hat die Kultur
beleckt Und meine Muse wallt auf anderen Wegen! so klang auch da wieder unsere
Hoffart mit, in ihrem blinden Glauben an die Macht unserer neuen «Bildung”. Wir
schwärmten also schon längst für ihn, und als wir ihn nun kennen lernten, war es
völlig um uns geschehen. Ich habe nämlich seither nur noch einen Menschen
gefunden, der so vermag, durch die Kraft seiner Gesinnung, durch seinen
gebieterischen Ton, ja durch einen suggestiven Zauber seines bloßen Blickes schon
alle Welt zu tyrannisieren: unseren jungen Meister Olbrich, der nurn aber freilich
viel ruhige und reifer, viel freier und reicher, viel männlicher und menschlicher
ist, als Holz damals war. Dieser hatte eine Art, einen mit seinen Meinungen
förmlich zu knebeln, die mir nicht wieder vorgekommen ist. In den Büchern, bei den
Lehrern hatten wir immer nur Vermutungen und alles voll Zweifel angetroffen. Hier
hatten wir endlich einen, der seiner Sache sicher war. Er glaubte, wie nur ein
Fanatiker jemals geglaubt hat. Er wußte alles ganz genau. Er lachte über seine
lyrische Vergangenheit, da für ihn noch das höchste «eine Zeile war, die wie eine
Kuhglocke läutete”. Nun ging er daran, die Kunst «wissenschaftlich” zu begründen.
Eigentlich verachtete er zwar alle Theorie, er war aber notwendig, sie
durchzumachen, um «der verflixten Praxis besser beizukommen”. Und so saß er
tagelang emsig in seinem kalten «Idyll”, in Niederschönhausen draußen, eine Stunde
vor Berlin, und brütete einsam und rang um eine Formel, welche die ganze Kunst
enthalten und die albernen Lügen der Vergangenheit entlarven sollte. Er hat später
einmal bekannt, dies seien seine «glücklichsten Tage” gewesen, in der kleinen
Bude, die «wie ein Vogelbauerchen mitten über einer Winterlandschaft hing: von
unseren Schreibtischen aus, vor denen wir dasaßen, bis an die Nasen eingemummelt
in große, rote Wolldecken, konnten wir fern über ein verschneites Stück Heide weg,
das von Krähen wimmelte, allabendlich die märchenfarbenen Sonnenuntergänge
studieren, aber die Winde bliesen uns durch die schlecht verkitteten kleinen
Fenster von allen Seiten an und die Finger waren uns trotz der vierzig dicken
Preßkohlen, die wir allmorgendlich in den Ofen schoben, oft so frostverklammt, daß
wir gezwungen waren, unsere Arbeiten schon aus diesem Grunde zeitweise
einzustellen. Denn mitunter mußten wir sie auch noch aus ganz andern Gründen
quittieren. So zum Beispiel, wenn wir aus Berlin, wohin wir immer zu Mittag essen
gingen – ganze Stunde lang, mitten durch Eis und Schnee, weil es dort «billiger”
war – wieder ganz hungerig in unser Vogelbauerchen zurückgekrochen waren, wenn uns
ab und zu, um die Dämmerzeit, während draußen die Farben starben und in all der
Stille rings die Einsamkeit, in der wir lebten, plötzlich hörbar wurde, hörbar und
fühlbar, die Melancholie überfiel oder wenn, was freilich stets das
Allerbedenklichste war, uns einmal der «Tobak” ausging, das war dann ein Herzeleid
– gar nicht zu beschreiben! Von Cuba wraren wir so allmählich auf «Caraballa”
gesunken, von Caraballa auf «Paetium optimum”. Ja, einmal, als die Not am größten
war, entsinne ich mich, rauchten wir sogar das letzte Stück einer alten Girlande
auf. Honny soit, qui mal y pense … Unseren schönsten runden Tisch mit bunter
Velourdecke, der eigentlich hätte vor dem Sofa stehen sollen – dem «Perserdiwan”,
wie es offiziell hieß – hatten wir eigens zwischen unsere beiden Schreibtische
gerückt, als würdige Unterlage für die lange Stricknadel, mit der wir unsere
Pfeifen putzten, eine leere Liebig-Büchse diente als Aschenbecher. Schließlich,
als dann endlich durch unsere Scheiben wieder blau der Frühlingshimmel brach,
hatten wir die Genugtuung, konstatieren zu können, daß unser schöner, schneeweißer
Hermeskopf, der so lange quer über einem großen, rotgebundenen Don Quixote mitten
unter einem Spiegelchen gestanden, aussah wie ein Niggerschädel.” Gott, wenn ich
das jetzt lese und daran denke, wie ich da auch einmal im knisternden Schnee
hinausgewandert bin, mit Wolf Heine zusammen, jener süßen Unruhe und Bangigkeit
voll, die wir damals immer hatten, am Ende das Große doch zu versäumen – Gott, war
das doch schön! Freilich, unser Ton und die wilden Worte gegen die Alten, und wie
wir einen großen Strich unter alle Vergangenheit zogen, um von uns aus erst die
wahre Geschichte zu datieren, «die Welt, sie war icht, eh‹ ich sie erschuf”, und
wie wir uns entrüsteten, wußten selbst noch nicht, gegen wen, und wie wir uns der
höchsten Taten vermaßen, wußten selbst noch nicht, wo und wann, dies mag alles
wohl furchtbar komisch gewesen sein. Aber diese Zuversicht, diese Anspannung aller
Nerven und Sinne und, wie Holz einmal gesagt hat, dieser «simsonstarke” Glaube,
das gab doch ein Hochgefühl, das ich für die müde Weisheit der heutigen Jugend
nicht umtauschen möchte. […] |