Vor Sonnenaufgang. (Soziales Drama von Gerhart Hauptmann. Zur heutigen Aufführung durch den Akademischen Verein für Kunst und Literatur im Deutschen Volkstheater am 25. April 1903)

Hermann Bahr: Vor Sonnenaufgang. (Soziales Drama von Gerhart Hauptmann. Zur heutigen Aufführung durch den Akademischen Verein für Kunst und Literatur im Deutschen Volkstheater am 25. April 1903). In: Glossen. Zum Wiener Theater (1903 bis 1906). Berlin: S. Fischer 1907, S. 140–149.

Verfasser:in Bahr, Hermann
Titel Vor Sonnenaufgang. (Soziales Drama von Gerhart Hauptmann. Zur heutigen Aufführung durch den Akademischen Verein für Kunst und Literatur im Deutschen Volkstheater am 25. April 1903)
Gesamttitel Glossen. Zum Wiener Theater (1903 bis 1906)
Erschienen
  • Berlin
  • S. Fischer
  • 1907
  • Seite 140–149
Weitere Drucke (Bücher)
  • Hermann Bahr: Kritiken (1963), S. 47–53 [Herausgeber Heinz Kindermann]
Textanfang Als ich mich in den Jahren 1884 bis 1887 an der Berliner Universität zuerst im Seminar von Adolf Wagner, später bei Gustav Schmoller der politischen Ökonomie befliß, lernte ich Wolfgang Heine kennen, der jetzt ein Führer der deutschen Sozialisten ist. […] Dort war es auch, im Café Bauer oben, daß wir [=Wolfgang Heine und H. B.] einmal Arno Holz trafen. Es eben, 1885, sein «Buch der Zeit” erschienen, das, in der Form eigentlich noch gar nicht so neu, uns doch durch seinen frechen und verruchten Ton entzückte; wir fühlten überall den Rebellen heraus. Und dann hatte ihm der «Kladderadatsch” geraten, Essigfabrikant zu werden; im «Kladderadatsch” verhöhnt zu sein, genügte aber damals, um von der Jugend bewundert zu werden. Auch war uns in unseren schwanken Stimmungen nichts gewiß als ein sehr starkes Zeitgefühl. Dieses aber schlug in jenem Buche heftig. Vivos vocos stand gleich dem dem Titel, und dann hieß es: D’rum ihr, ihr Männer, die ihr’s seid, Zertrümmert eure Trugidole Und gebt sie weiter, die Parole: «Glückauf, Glückauf, du junge Zeit!” und ebenso: Das Lied der Lieder, Das ist das Lied der Zeit und: Ein neu Geschlecht, schon wetzt es seine Schwerter, Schon webt die Sonne ihm den Glorienschein, Und glaubt: Es wird kein veilchenblauer Werther, Es wird ein blutiger Messias sein! In solchen Drohungen meinten wir unsere eigene Stimme zu vernehmen, und wenn er sich rühmte: Der Tonfall meiner lyrischen Kollegen Ist mir ein unverstand’ner Dialekt, Denn meinem Reim hat die Kultur beleckt Und meine Muse wallt auf anderen Wegen! so klang auch da wieder unsere Hoffart mit, in ihrem blinden Glauben an die Macht unserer neuen «Bildung”. Wir schwärmten also schon längst für ihn, und als wir ihn nun kennen lernten, war es völlig um uns geschehen. Ich habe nämlich seither nur noch einen Menschen gefunden, der so vermag, durch die Kraft seiner Gesinnung, durch seinen gebieterischen Ton, ja durch einen suggestiven Zauber seines bloßen Blickes schon alle Welt zu tyrannisieren: unseren jungen Meister Olbrich, der nurn aber freilich viel ruhige und reifer, viel freier und reicher, viel männlicher und menschlicher ist, als Holz damals war. Dieser hatte eine Art, einen mit seinen Meinungen förmlich zu knebeln, die mir nicht wieder vorgekommen ist. In den Büchern, bei den Lehrern hatten wir immer nur Vermutungen und alles voll Zweifel angetroffen. Hier hatten wir endlich einen, der seiner Sache sicher war. Er glaubte, wie nur ein Fanatiker jemals geglaubt hat. Er wußte alles ganz genau. Er lachte über seine lyrische Vergangenheit, da für ihn noch das höchste «eine Zeile war, die wie eine Kuhglocke läutete”. Nun ging er daran, die Kunst «wissenschaftlich” zu begründen. Eigentlich verachtete er zwar alle Theorie, er war aber notwendig, sie durchzumachen, um «der verflixten Praxis besser beizukommen”. Und so saß er tagelang emsig in seinem kalten «Idyll”, in Niederschönhausen draußen, eine Stunde vor Berlin, und brütete einsam und rang um eine Formel, welche die ganze Kunst enthalten und die albernen Lügen der Vergangenheit entlarven sollte. Er hat später einmal bekannt, dies seien seine «glücklichsten Tage” gewesen, in der kleinen Bude, die «wie ein Vogelbauerchen mitten über einer Winterlandschaft hing: von unseren Schreibtischen aus, vor denen wir dasaßen, bis an die Nasen eingemummelt in große, rote Wolldecken, konnten wir fern über ein verschneites Stück Heide weg, das von Krähen wimmelte, allabendlich die märchenfarbenen Sonnenuntergänge studieren, aber die Winde bliesen uns durch die schlecht verkitteten kleinen Fenster von allen Seiten an und die Finger waren uns trotz der vierzig dicken Preßkohlen, die wir allmorgendlich in den Ofen schoben, oft so frostverklammt, daß wir gezwungen waren, unsere Arbeiten schon aus diesem Grunde zeitweise einzustellen. Denn mitunter mußten wir sie auch noch aus ganz andern Gründen quittieren. So zum Beispiel, wenn wir aus Berlin, wohin wir immer zu Mittag essen gingen – ganze Stunde lang, mitten durch Eis und Schnee, weil es dort «billiger” war – wieder ganz hungerig in unser Vogelbauerchen zurückgekrochen waren, wenn uns ab und zu, um die Dämmerzeit, während draußen die Farben starben und in all der Stille rings die Einsamkeit, in der wir lebten, plötzlich hörbar wurde, hörbar und fühlbar, die Melancholie überfiel oder wenn, was freilich stets das Allerbedenklichste war, uns einmal der «Tobak” ausging, das war dann ein Herzeleid – gar nicht zu beschreiben! Von Cuba wraren wir so allmählich auf «Caraballa” gesunken, von Caraballa auf «Paetium optimum”. Ja, einmal, als die Not am größten war, entsinne ich mich, rauchten wir sogar das letzte Stück einer alten Girlande auf. Honny soit, qui mal y pense … Unseren schönsten runden Tisch mit bunter Velourdecke, der eigentlich hätte vor dem Sofa stehen sollen – dem «Perserdiwan”, wie es offiziell hieß – hatten wir eigens zwischen unsere beiden Schreibtische gerückt, als würdige Unterlage für die lange Stricknadel, mit der wir unsere Pfeifen putzten, eine leere Liebig-Büchse diente als Aschenbecher. Schließlich, als dann endlich durch unsere Scheiben wieder blau der Frühlingshimmel brach, hatten wir die Genugtuung, konstatieren zu können, daß unser schöner, schneeweißer Hermeskopf, der so lange quer über einem großen, rotgebundenen Don Quixote mitten unter einem Spiegelchen gestanden, aussah wie ein Niggerschädel.” Gott, wenn ich das jetzt lese und daran denke, wie ich da auch einmal im knisternden Schnee hinausgewandert bin, mit Wolf Heine zusammen, jener süßen Unruhe und Bangigkeit voll, die wir damals immer hatten, am Ende das Große doch zu versäumen – Gott, war das doch schön! Freilich, unser Ton und die wilden Worte gegen die Alten, und wie wir einen großen Strich unter alle Vergangenheit zogen, um von uns aus erst die wahre Geschichte zu datieren, «die Welt, sie war icht, eh‹ ich sie erschuf”, und wie wir uns entrüsteten, wußten selbst noch nicht, gegen wen, und wie wir uns der höchsten Taten vermaßen, wußten selbst noch nicht, wo und wann, dies mag alles wohl furchtbar komisch gewesen sein. Aber diese Zuversicht, diese Anspannung aller Nerven und Sinne und, wie Holz einmal gesagt hat, dieser «simsonstarke” Glaube, das gab doch ein Hochgefühl, das ich für die müde Weisheit der heutigen Jugend nicht umtauschen möchte. […]
Alternative Drucke Hermann Bahr: Vor Sonnenaufgang. (Soziales Drama von Gerhart Hauptmann. Zur heutigen Aufführung durch den Akademischen Verein für Kunst und Literatur im Deutschen Volkstheater). In: Neues Wiener Tagblatt, Jg. 37, Nr. 113, 25.4.1903, S. 1–3.
Schlagwörter Buch, Section, Buchtext