17. Januar [1917]

Hermann Bahr: 17. Januar [1917]. In: 1917. Innsbruck, München, Wien: Tyrolia 1918, S. 51–60.

Verfasser:in Bahr, Hermann
Titel 17. Januar [1917]
Gesamttitel 1917
Erschienen
  • Innsbruck, München, Wien
  • Tyrolia
  • 1918
  • Seite 51–60
Rezensiert
  • Arno Holz: Phantasus (1916)
  • Hermann Erhardt: La Tour, der Pastellmaler Ludwigs XV. 89 Abbildungen von Kunstwerken in St. Quentin (1917) [München: Korpsverlag Buchhandlung Bapaume]
Textanfang Ich kann mir nicht helfen: Die stärkste deutsche Leistung von 1916 ist mir doch – der «Phantasus” von Arno Holz! Schon daß ein deutsche Buchhändler, der Insel-Verlag wagt, in so verworrener und verwüsteter Zeit Teilnahme für ein ganz strenges, gemeinem Tagessinn mit mönchischer Entsagung abgekehrtes Werk des reinen Geistes zu hoffen! Mitten im Lärm der wahnentbrannten Wut sind da Tag um Tag in der stillen Druckerei von Drugulin kunstvolle Hände treubesorgert Setzer geduldig mühsam am Werk gewesen, das nun durch seine Form schon, in der Vollkommenheit schon seiner seiner äußeren Erscheinung verkündet: es gibt auch noch den lebendigen Geist und der ist mehr, der frangt nicht nach Erdenlust noch Erdenleid, der geht seinen ewigen Weg. Das ist zunächst nur eine Gebärde, wie die Gebärde Goethes, als er 1813 ins Bad fuhr und sich, bis der Welthandel wieder vorüber wäre, dem Studium Chinas ergab. Aber daß wir tief in uns so deutsch, altdeutsch, kerndeutsch geblieben sind, einer solchen weltverachtenden, geistergreifenden Gebräder nur überhaupt noch immer mächtig zu sein, damit beweisen wir eine Kraft des unerschütterten Gemüts, die, was immer aus uns werde, nicht verlöschen kann. Wir haben einen Ort in uns, wohin kein äußeres Schicksal dringt, da sind wir ganz mit uns allein und genügen uns, der Geist ist unser Vaterland. Und es fügt sich nun wunderschön, daß uns dieses Zeichen gerade Holz gibt! Das Gefühl, das der Deutsche vor allen voraushat, hat keiner unter uns so stark wie Holz: das Gefühl einer besonderen inneren Verpflichtung, seiner ihm zugewiesenen Sache, seines ihm bestimmten Amtes, für das er in die Welt geschickt worden ist, von Anbeginn eigens dafür auserwählt. Dreiunddreißig Jahre kenne ich ihn jetzt und in diesen dreiundreißig Jahren hat er jeden Augenblick mit jedem Atemzug nur immer seine Sendung gelebt. Er ist auf der Welt, um der Welt das neue Gedicht zu bringen. Was sonst in ihr vorgeht, sieht er nicht, hört er nicht, weiß er nich, will er nicht, er will nur seine Kunst. Ich bin ungewiß, ob er schon bemerkt hat, daß jetzt Krieg ist. Er ist ein Momomane seiner Kunst. Man versteht das, wenn man den Phantasus liest. Der Dichter des Phantasus braucht wirklich die Welt nicht, denn er hat sie schon, er hat mehr von ihr, als er an ihr haben könnte, er hat alles, was sie war, ist und wird, in sich durchgemacht und alles steht im Phantasus. – Er selbst überschätzt die Form. Er sucht keine Bedeutung im Bruch mit der alten Metrik. Diese will er durch seine Rhythmik ersetzen. Bisher habe der Dichter seinen neuen Inhalt immer doch wieder in eine überlieferte Form gepreßt. Er selber anfangs ja auch, in seienm Buch der Zeit, «wo die ganze lyrische Vergangenheit Stimme geworden.” Nun aber, im «Phantasus”, ist zum erstenmal «der Inhalt selbst ganz zu seiner eigenen im entwachsenen Form geworden”. Aber, lieber Arno Holz, meint das nicht jeder? Muß es nicht meinen, wer dichten will? Macht nicht eben, daß man das meint und daß man meint, man sei der Erste, der es meint, doch überhaupt erst zum Dichter? Und dann wird auch noch die Frage sein, wieviel doch selbst in der Form des Phantasus noch auch wieder Überlieferung steckt, freilich unbewußt, auch gut maskiert, was aber die Germanisten nicht hindern wird, den Walt Whitman darin aufzuspüren. In der Kunst ist niemand autochthon und am Ende muß sich jeder zu dem Selbstbekenntnis Goethes bequemen: Was ist denn an dem ganzen Wicht Original zu nennen? Nein, den Former, den Artisten, den Handwerker Holz in allen Ehren, doch er unterschätzt seinen Inhalt. Als Ausdruck einer überquellenden, verschwenderischen, aufs höchste gesteigerten, reichsten, persönlichsten Lebendigkeit, als ein Selbstbildnis, das schon durch das ungeheure Format erst erschreckt, dann gebannt hält, zwingt sich der widerstrebenden Nation der Phantasus auf. Denn sein Selbstbildnis ist auch das ihre; sie wird das allmählich schon merken. Auch der Phantasus ist schließlich wieder ein Buch der Zeit. Das Buch der Zeit enthielt den Deutschen der achtziger Jahre, den Deutschen an der Wende von Kaiser Wilhelm I. zu Kaiser Wilhelm II. Der Phantasus enthält den Deutschen von 1890 bis 1914, die Blüte des Erwerbsdeutschen, Gewaltdeutschen, Betriebsdeutschen, dieses ganz gottlose, ganz selbstvolle, selbstgewollte, selbstgesetzte, selbstgemachte, selbstbewegte, selbstbestimmte, selbstdurchdrungene, selbstvermessene, ganz in sich selber ruhende, nur um sich selber kreisende, die Welt aus sich selbst zeugende, nach sich selber formende und in sich selber wieder verschlingende, Urnebeln entstiegene, wieder in Urnebel aufgelöste Geschöpf, das vielleicht das größte Kuriosum der Weltgeschichte bleiben wird. Nur einer von diesen neuen Lästrygonen konnte den Einfall haben, den satanisch anmaßenden Einfall und die verbissen ausharrende Geduld, sich einen solchen Privatturm zu Babel aufzurichten wie den Phantasus. Höher geht’s nicht mehr, sagt der Österreicher, neidisch, doch auch schadenfroh. Aber nochmals: daß dieses Prachtstück deutscher Selbstherrlichkeit mitten im Krieg erscheinen konnte, ist der höchste Beweis unserer ruhigen inneren Kraft, die man vielleicht einst noch mehr bewundern wird als alle Proben der äußeren. Nur in den allerersten Tagen des Krieges schin es, als stehe das Leben im Lande still. Daß es sich gleich wiederfand, daß, wer nicht mit ins Feld konnte, nicht mitdurfte, gelassen zurück an sein Werk ging, der Pflicht des Tages gehorsam, daß längst der Krieg nun keinen mehr in seiner friedlichen Arbeit stört, nur das läßt uns durchhalten. Arno Holz liest die Korrekturen des Phantasus, Richard Strauß instrumentiert die Frau ohne Schatten, in jedem kleinen Hoftheater, Stadttheater wird pünktlich zur Stunde brav probiert, die Maler Malen, der Acker wird bestellt, der Markt beschickt, der Handel besorgt, jeder geht an sein Geschäft und kehren die Krieger heim, sie finden alles bestens geht, der Krieg ist bloß eine Episode gewesen. [Es folgen Aussagen über Johannes Müller und Quentin La Tour]
Zusammenfassung Ausführliche Rezension des »Phantasus« sowie eine im Feld veröffentlichte Darstellung Quentin de la Tours.
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