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»Mein Freund, die Menschen so zu lieben, wie sie sind, ist
unmöglich. Und doch soll man es nun einmal. Deshalb verbeiße deine Gefühle, wenn
du ihnen Gutes tun willst, halte dir die Nase zu und schließe die Augen.«
Dostojewski im »Jüngling« (Siebenter Band der sämtlichen Werke in der deutschen
Ausgabe von Moeller van den Brück unter Mitarbeit Mereschkowskis, bei R. Piper in
München). Ich kannte diesen Roman Dostojewskis noch nicht, der zwischen den
»Dämonen« und dem »Karamasow« steht, künstlerisch jenen näher, weil er wie sie so
viel zu sagen hat, daß im Gedränge die Handlung noch fast erdrückt und ein
einziger ungeheurer Monolog daraus wird; aber man sieht hier den Urstoff zu den
Karamasow, man sieht sie gleichsam entstehen. Und ich empfinde dabei wieder so
stark, was man mir immer nicht glauben will, daß alle diese vermeintlich so
stockrussischen Probleme Dostojewskis die Grundfragen des ganzen Abendlands sind,
es geht in seinen Romanen immer um uns, um das Schicksal Europas, und zu jeder
Stelle Dostojewski vermesse ich mich, Konkordanzen in den Wanderjahren, im zweiten
»Faust« oder in der Farbenlehre, bei Balzac, bei Radowitz, Lagarde und Nietzsche,
bei Hello und Barrès, bei Newman, Matthew Arnold und Chesterton zu finden: wir
stehen alle, wenn auch gegeneinander, doch an demselben Werk! »Mein Gott, das ist
ja für uns eben das wichtigste: gleichviel was für eine Ordnung«, wenn es nur
endlich einmal eine selbstgeschaffene Ordnung ist, heißt’s im »Jüngling«, und der
eine Satz enthält doch eigentlich den ganzen Lagarde, enthält alle »wahrhaft
deutsche« Politik, enthält alles, was jetzt wieder Keyserling verkündet, ganz wie,
fast mit denselben Worten, die rührende Märchengestalt Peguys es den Franzosen
verkündet hat, und was sonst meint denn Gundolfs Goethe mit seinem Drängen aufs
»Urerlebnis«? Aber auch der innere Verlauf Deutschlands seit 1890 wird schon im
»Jüngling« (ohne Beziehung auf Deutschland) pragmatisch dargestellt: »Es ist nicht
mehr der Nachschub von unten, der sich an die höhere Menschenschicht anschließt
und mit ihr zusammenwächst, sondern umgekehrt, von der schönen und feststehenden
Schicht bröckeln mit fröhlicher Eilfertigkeit Stückchen und Klümpchen ab und
scharen sich in einen Haufen mit den Vertretern der Unordnung und des Neides.«
Daraus zieht Dostojewski dann seinen Begriff der »zufälligen Familie«, im
Gegensatz zur traditionell erwachsenen. Dies ist ein noch lange nicht in seiner
ganzen Fruchtbarkeit erkannter Begriff. Aus »zufälligen« Familien entstanden
»zufällige« Völker, bis schließlich die Menschheit Europas »zufällig« wurde: das
haben wir erlebt. Und jetzt müssen wir zeigen, wer von uns etwa noch die Kraft
hat, aus dem Zufälligen wieder ins Notwendige zurückzufinden. Ist in Europa noch
ein Volk, das sich wieder auf das Geheimnis seines eingebornen inneren Wachsens zu
besinnen weiß? | |