Tagebuch. 1. Januar

Hermann Bahr: Tagebuch. 1. Januar. In: Neues Wiener Journal, Jg. 28, Nr. 9412, 18.1.1920, S. 6.

Verfasser:in Bahr, Hermann
Titel Tagebuch. 1. Januar
Periodikum Neues Wiener Journal
Erschienen
  • 18.1.1920
  • Jahrgang 28
  • Nummer 9412
  • Seite 6
Rezensiert
  • Hessische Freiheitsblätter. Monatsschrift
Volltext Aus dem Brief einer Amerikanerin: »Die deutsche Propaganda war drüben nicht glücklich, weil ein seelisches Ziel fehlte, das lebhafte Interessen bei den Anglikanern zu erwecken vermocht hätte. Man war nicht nur falsch und ungenügend über die Vorgänge in Deutschland informiert, sondern man interessierte sich gar nicht dafür, ob wahr oder unwahr. So sprach die deutsche Propaganda immer und immer wieder nur für ein deutschamerikanisches Publikum, das von vornherein prodeutsch war.« Diese Sätze decken unser ganzes Mißverhältnis zur Welt auf: wir trommeln nur immer wieder aus, was wir alles können, was wir alles leisten, aber die Welt erfährt nie, was wir sind. Und in der Welt gilt doch jedes Volk nur so viel, als es den anderen zu sagen, als es Eigenart vorzuweisen, als es Seelenklang in den Chorgesang der Menschheit einzusetzen hat! Aber von uns kannte die Welt vor dem Kriege ja nur noch den Handlungsreisenden in der preußischen Aufstutzung. Wir müßten ihr zeigen, daß es auch noch andere Deutsche gibt, die stillen. Wir klagen nur immer, verkannt zu werden, beteuern nur immer, anders zu sein. Wir sollten lieber eingestehen: Ja, wir ließen unter uns seit den neunziger Jahren eine Menschenart aufkommen, die sich und uns den Haß der Menschheit zuzog, aber diese Handvoll Neudeutschen, Lärmdeutschen, Mauldeutschen, Gewaltdeutschen, Betriebsdeutschen waren eine Fremdherrschaft in unserem Lande. Das wilhelmische Deutschland sprang ganz aus der Art: es hat mit keinem früheren Deutschland auch nur einen einzigen Zug gemein, weder mit dem bismarckischen Kleindeutschtum, noch mit dem Großdeutschtum von Konstantin Frantz, nicht einmal mit dem »Wendogermanischen«, wie der gute Fontane das landrätliche preußisch gerne hieß, geschweige mit dem Weltdeutschtum Goethes, das schließlich doch, in allerhand Verdünnung, heute noch den inneren Bodensatz des Durchschnittsdeutschen abgibt, freilich von Bierbankpolitikasterei verschüttet. Das Unglück ist, daß man in den deutschen Zeitungen (aller Parteien!) stets das Gegenteil der deutschen Meinung liest und vom Deutschen selbst, sobald er politisiert, das Gegenteil seiner eigenen Meinung hört: das hängt mit unserer besten Eigenschaft zusammen, mit unserer wesentlichen Unfähigkeit zur Politik, durch die wir vielleicht, wenn wir uns ermannen und die Kraft finden, aus unserer Not eine Tugend zu machen, noch Europa vor der Politik retten werden (siehe Keyserling, dessen von Tag zu Tag insgeheim wachsende geistige Macht über die Deutschen schon ein Zeichen der Genesung ist). Aber da wir, sobald wir politisieren, in einer uns ungewohnten Sprache reden, in der wir höchstens zur Not anderen nachsprechen, niemals aber uns selber aussagen können, wie soll gar das Ausland uns verstehen? Es ahnt nicht, daß das wahre Deutschland auch heute noch unausgesprochen bleibt, daß es noch immer sein Schicksal ist, nur von ein paar Sonderlingen und Eigenbrödlern gestammelt zu werden. Ja wir selber leben deshalb jeder in einer so furchtbaren Einsamkeit, weil wir vor unseren eigensten Gedanken, eben jenen, durch die sich uns der deutsche Geist kundgibt, im Tiefsten wie vor etwas eigentlich Unerlaubtem erschrecken. Es gehört eine Art Verruchtheit dazu, damit ein Deutscher den Mut finde, nicht nach der Gesinnungsvorschrift irgendeiner Partei zu politisieren, sondern aus dem deutschen Herzen; es steht auch der Tod durch Verschweigen darauf, der zum Beispiel eben jetzt wieder an dem tapferen Fritz Stück in Kassel exekutiert werden soll. Seiner »Hessischen Freiheitsblätter« (Kassel-Niederzwehren, Monatsschrift) großer Reiz ist es, daß da wieder einmal einer in den ungebrochenen Urlauten seiner Stammesart politisiert, der deutsche Demokrat von 48 steht da wieder auf, ein entpreußtes Deutschland will empor. Er schlägt wild um sich, denn nach allen Seiten muß er sich wehren, um den »Weg zur stämmischen Gliederung« Deutschlands zu bahnen. Im Grund ist’s auch nur wieder der ewige Kampf des Organischen gegen das Mechanische! |
Zusammenfassung Deutschlands Unfähigkeit, sein Wesen dem Ausland begreiflich zu machen.
Link TEXT
Alternative Drucke Hermann Bahr: 1. Januar [1920]. In: Kritik der Gegenwart. Augsburg: Haas & Grabherr 1922, S. 28–29.
Schlagwörter Artikel in einem Periodikum, Tagebuch