Tagebuch. 12. Juni

Hermann Bahr: Tagebuch. 12. Juni. In: Neues Wiener Journal, Jg. 28, Nr. 9576, 4.7.1920, S. 4–5.

Verfasser:in Bahr, Hermann
Titel Tagebuch. 12. Juni
Periodikum Neues Wiener Journal
Erschienen
  • 4.7.1920
  • Jahrgang 28
  • Nummer 9576
  • Seite 4–5
Allgemein

Der Text enthält Entwürfe des 6. und 8. Kapitels des »Selbstbildnis«.

Volltext Jetzt ist es gerade fünfzig Jahre her, daß der Theaterteufel in mich fuhr; ganz bin ich ihn ja noch immer nicht los. Dies begab sich in Kreuzen bei Grein an der Donau. Einen »fashionableren« (so sagte man zu jener Zeit) Kurort ließ sich damals der Linzer nicht träumen; es ging ein Gerücht, sogar Herrschaften aus Wien hätten schon dieses »florierende« Bad besucht. Ich, vordem ein dicker schlimmer Bub, war im Winter durch Wechselfieber blaß und schmal geworden; Wasser und Wiesen des stillen Orts sollten mich bräunen und stärken. Mein Vater, als Notar und junger Gemeinderat (die neue Verfassung hatte das Land zunächst in die Gewalt der »Studierten« gebracht), konnte nur jeden zweiten Sonntag kommen. Da hatte die Mutter ihre liebe Not, meinen Ungestüm zu bändigen, bis zum Glück eines Tages fahrende Komödianten im Schloßhof gastierten; Freilichttheater würde man das jetzt nennen: ein paar Bretter mit Blumentöpfen, die den Kasten des Einsagers verbargen, und darüber rauschten alte Wipfel. Mit offenem Mund saß der verzauberte Knabe vor dieser Märchenwelt. Eigentlich hab ich dann erst von der Duse wieder einen so gewaltigen Eindruck empfangen. Und am nächsten Tag lief ich in aller Früh schon hin, um das doch gleich selber auch einmal zu versuchen, trat auf und schoß herum, agierend und deklamierend, genau wie ich es gestern von den Spielern gesehen. Ein kleines Mädl fand sich, das tat mit, später kam auch noch ein Bub dazu, ein Lackl, bald auch Publikum, Eltern, Gouvernanten, Neugierige, die Wipfel rauschten im Winde, jeder spielte, was ihm einfiel, ich hatte die Regie. Jene Komödianten kamen von Grein nur zweimal die Woche herauf, an den anderen Tagen war der Kurgast auf uns angewiesen, das spannte meinen Ehrgeiz straff, ich zweifelte nicht, daß unsere Commedia dell‹ arte doch eigentlich höheren Ranges war, wir führten im Grunde da den uralten, niemals ganz entschiedenen Kampf des Barocks mit dem »regelmäßigen« Stück. Aber ich ahnte noch nicht, daß mir beschieden war, sogleich auch die ganze Niedrigkeit des Publikums am eigenen Leibe kennen zu lernen. Durch jenen Lackl nämlich, der, während es mir heiliger Ernst war, Lazzi trieb. Nachdem ich dies mit schweigender Verachtung bestraft, solang ich noch an den edleren Geschmack des Publikums glauben konnte, riß mir, als sich eines Tages Menschen fanden, die solchen Lazzis noch applaudierten, ja sogar mehr als mir, die zu stark belastete Geduld, ich sprang vor, schmiß dem Lackl einen Blumenstock an den Kopf, die anderen aber mitten in das Publikum hinein, da dieses sich nicht schämte, für den heulenden Lackl noch Partei zu nehmen. Bald war weder ein Blumenstock noch ein Publikum mehr da; selbst meine Mutter verriet mich, so schloß meine erste Direktion. Wie oft hab ich mich später, bei meinen Premieren, daran erinnert, von Herzen beklagend, daß keine Blumenstöcke da waren! Jene Stunde hat mein Verhältnis zu dem Premieren besuchenden Teil der Nation ein für allemal fixiert. Ich galt seitdem in Kreuzen als ein unmöglicher Bub und genoß zum erstenmal das beseligende Gefühl, gemieden zu sein, outcast, outlaw. Nur ein älterer Herr, ein Sonderling, schwindsüchtig, menschenscheu, wunderlich, nahm sich meiner an und ging seitdem mit mir stundenlang allein spazieren. Er ist mir unvergeßlich, es war der erste Mensch, der mit mir wie mit einem Erwachsenen sprach. Er war unglücklich, erzählte mir von seinen Enttäuschungen, warnte mich, dem Trug des irdischen Daseins zu trauen. An aller Gerechtigkeit, am Sinn des Lebens, ja selbst an Gott war er irre, er war des Treibens müde geworden und staunte nur, daß die Sonne noch immer scheinen mag und die Blumen blühen und die Käfer surren, daß es ihnen noch dafür steht! Darüber besprach er sich ausführlich mit mir, als ob ich ihm hätte helfen, es ihm erklären hätte können. Ich bin ihm noch heute dankbar dafür, denn es hat mich um Jahre vorwärts gebracht: ich schlug den Blick zur Wirklichkeit auf. Nichts ist törichter, als wenn Erwachsene meinen, sich zu Kindern immer erst geistig herabschrauben zu müssen, die meistens selbst viel mehr Lebensernst, Lebenssinn, Lebensmut und ein viel reineres Bedürfnis nach Wahrheit haben, als wer schon nach Gewinn schielen gelernt hat. Der Mann war mir so gut, daß er sogar seine Scheu vor Menschen überwand und sich meiner Mutter vorstellen ließ, um ihr von meiner Begabung vorzuschwärmen. Ich bekam nach Jahren noch von ihr zu hören, daß es mit mir bisher ein einziger Mensch ausgehalten hätte und der sei verrückt gewesen ... Ich hatte damals morgens immer zunächst meine Wasserkur zu bestehen und wurde, noch bettwarm, in eiskalte Tücher eingeschlagen; so lag ich, während Fliegen sich auf meiner wehrlosen Nase ergingen. Dann kamen die peripatetischen Stunden mit meinem Freund. Der Nachmittag aber gehörte dem Robinson. Es war das zweite Buch, das ich las, und es gefiel mir viel besser als das erste, das mir ein in unserem Hause wohnender alter Onkel gegeben hatte, der Onkel Anastas, ein pensionierter Hofrat, Menschenfeind, gar aber Weiberfeind, der den ganzen Tag in Stößen von Büchern und Zeitungen auf dem schwarzen Sofa lag, unzählige Portorikos rauchend, verärgert, mit der Welt zerfallen, gemütskrank, ein fortwährend die Welt verbessernder, bis zur Verschrobenheit scharfsinniger, uns alle mit seinem Verstand quälender Mann, vielleicht übrigens nur darum unleidlich, weil sich sein vielleicht in der Tat ungewöhnlicher Geist an der bureaukratischen Enge wund stieß: er hat ein sehr merkwürdiges, vor fünfzig Jahren schon tolstoisierendes Buch über die »Degeneration der Bevölkerung« geschrieben: dem Bureaukraten des alten Österreich stand offenbar nur zur Wahl, blöd oder ein heimlicher Bolschewist zu werden oder eine Mischung davon. Wenn meine Mutter, ohnedies phantastisch sparsam, sich doch einmal von ihm in einem neuen Hut ertappen ließ, hieß es gleich: »Wozu das noch? Du hast dir ja so schon einen Mann gefangen!« Jede kleine Freude, aller Reiz und Schmuck des Lebens, alles, was gefällt, galt ihm für Tand, vernunftbegabter Wesen unwürdig und verächtlich. Er hat uns täglich beim Essen so viel vom Segen der Vernunft vorgepredigt, daß mir die Person heute noch zuwider ist. Sie hielt ihn übrigens nicht ab, sich einzubilden, er hätte seit zehn Jahren nicht mehr geschlafen. Um ihn von diesem Wahn zu heilen, schlug der Arzt vor, ihm einmal nachts das Zimmer auszuräumen. Dies geschah. Man wartete geduldig, bis drin das Licht verlosch, und als alles still war, wurden ihm heimlich alle Möbel fortgeschafft. Als er morgens erwachte, fand er von seinem Zimmer nichts übrig als sich im Bett. Wir freuten uns aber umsonst. Denn er erklärte, das beweise nichts! Er verfalle nämlich, eben weil er niemals schlafen könne, vor quälender Müdigkeit in einen kataleptischen Zustand, das gerade Gegenteil von Schlaf, da man aus diesem erfrischt und gestärkt erwache, während jener Starrkrampf, wenn die Betäubung dann allmählich doch wieder weicht, sein Opfer geschwächt, zerschlagen und erschöpft zurückläßt. Das Exempel ad oculos half aber nichts, er fuhr dennoch an seine Schlaflosigkeit zu glauben fort, ja so fest, daß sie ihn am Ende zum Selbstmord trieb: er sprang ein paar Jahre später vor Schlaflosigkeit in die Donau und wurde nach Tagen erst bei Wallsee aufgefischt; es war die erste Leiche, die ich sah. Dieser wunderliche Mann, der meinen jüngeren Bruder eigentlich bei weitem vorzog, beschäftigte sich dennoch viel mit mir, aus Mitleid nämlich, denn er hielt mich für ein sehr unglückliches Kind, weil ich einen Sprachfehler hatte: ich stieß mit der Zunge an und er verzweifelte daran, daß aus dem lispelnden Kinde jemals ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft werden könnte (als ich später ein berühmter Kommersredner und deshalb von der Wiener Universität relegiert wurde, seufzte mein Vater: »Hätte der Onkel Anastas doch recht behalten!«) Da war er nun also, als ich lesen zu lernen begann, immer hinter mir her, weil diese Kunst für einen, der, wie ich, zu einer stummen Existenz verdammt sei, noch eine ganz besondere Bedeutung hätte. Und als ich so weit war, mühelos zu buchstabieren, gab er mir auch gleich ein gutes Buch zu lesen von dem besten deutschen Dichter: den »Faust«. Ich muß aber sagen, daß ich eigentlich sehr enttäuscht war. Und ich ging darum ehr mit Mißtrauen an das zweite Buch, den »Robinson Crusoe«, den mir mein Vater nun mit nach Kreuzen gab. Zu meiner angenehmsten Überraschung war dieser Robinson aber viel, viel besser als jener Faust: man »sah doch, wo und wie!« Ich las ihn gleich von vorne noch ein zweites und ein drittes Mal. Seit Kreuzen aber las ich ihn dann bis vor ein paar Wochen nicht mehr. Das ist ja merkwürdig: in der Jugend hält man ein Buch damit, daß man es »kennt«, für erledigt. Es ist ein Zeichen des beginnenden Alters, wenn man auf einmal Lust kriegt, Bücher wieder zu lesen, die man schon kennt. Noch einen Schritt näher an das Grab, und man liest überhaupt nur noch Bücher, die man schon kennt. Und ganz zuletzt zieht man sich auf ein einziges dieser Bücher zurück, das allein man nun nur noch immer wieder liest. Denn man weiß dann, daß in allen Büchern, in allen wirklichen Büchern, doch eigentlich ganz dasselbe steht und daß man dieses Eigentliche doch, wenn man das Buch auch noch so genau kennt, noch immer nicht genug kennt; ich hätte wirklich damals gleich beim »Faust« bleiben und mir die anderen ersparen können, und wenn uns jetzt unsere Staatskünstler nächstens dahin bringen werden, daß ich meine Bibliothek verkaufen muß und mir nur den »Faust« behalten kann, ich weiß nicht einmal, ob mich das sehr traurig machen wird (der Verlust der Bücher nämlich; unsere Staatskünstler machen einen natürlich sehr traurig, auf jeden Fall, ob nun mit Büchern oder ohne). Neulich also, jener Kreuzener Zeit mich erinnernd, las ich zum erstenmal nach fünfzig Jahren den Robinson wieder. Und mit Entzücken! Welch ein Erzähler! Welcher Reichtum an Erfindung! Welche Kenntnis des menschlichen Herzens! Es fällt ihm immer wieder was ein, er gibt sich niemals aus, und indem er nur so vor sich hin auf gut Glück und ohne die leiseste Spur künstlerischer Ambition bloß zu seinem und unserem Vergnügen zu fabulieren scheint, mit welcher vollendeten Kunst ist das aber dabei doch durchkomponiert, immer in denselben großen, ruhigen Atemzügen, die ganzen fünfhundertachtundvierzig eng gedruckten Seiten Tauchnitz hindurch! Mit welcher unerschöpflichen Kraft weiß er uns im steten Wechsel verblüffender Abenteuer immer wieder von einer anderen Seite doch immer wieder denselben Menschen zu zeigen, der an seinem verwirrenden Schicksal schließlich doch nur zu sich selber geführt wird! Und mit welcher List läßt er uns, auf deren Belustigung allein hier alles angelegt scheint, bis ans Ende nicht merken, daß er doch von Anfang an schon ununterbrochen moralisiert! Ein Erbauungsbuch mit den Mitteln des Schelmenromans; Kino zur Christenlehre! Denn um diese geht’s ihm ja, nur um sie: wie dieser verwegene Galgenstrick, der, wicked and profane to the last degree, Gott längst ganz vergessen hat und seit Jahren nur noch in a certain stupidity of soul, without desire of good or conscience or evil, weder im Glück Gott dankend, noch in Not Gott fürchtend, dumpf dahin tiert, wie der da von selber in seiner Welteinsamkeit den lieben Gott entdeckt, das über uns waltende, Sternenlauf und Wogengang und Menschenschritt lenkende, gütig gerecht unaufhaltsame Gesetz die secret hand of providence governing the world, um sich und in sich vernehmen lernt und, sobald ihn der Glaube nur erst einmal leise berührt hat, unmerklich ganz anders, aber eben dadurch doch erst ganz erst selbst wird gerade by resigning to the will of God, das ist das Leitmotiv der Erzählung, das kunstreich immer wieder auf einer höheren Stufe, immer heller, immer mächtiger wiederkehrt: erst in Robinsons eigener, still versonnener Konversion, dann bei Freitags Bekehrung, am gewaltigsten aber in der erschütternden Szene bei Robinsons zweitem Besuch auf seiner Insel, wenn Will Atkins, der Strolch, indem er sein Weib, die Kannibalin, in den Anfängen der Christenlehre unterweist, eben dadurch, ohne daß er es will, sich selbst vom Glauben überwältigt sieht, in Tränen ausbrechend. Und dieses an Sinn und Form vollendete Buch hat nun schon der selige Campe geköpft, entherzt und zum albernen Kinderschwatz zugestutzt und ein höchstes Werk der Weltliteratur ist uns dadurch unterschlagen worden! Aber bald wird ja jetzt auch Wagner definitiv so zusammengestrichen sein, daß er nur noch der Ohrenlust von Säuglingen dient. Wir sind das Volk der Denker und Dichter. |
Zusammenfassung Bahr referiert seinen Kuraufenthalt in Bad Kreuzen vermutlich 1870, erste Theater- und Lektüreerfahrungen (»Faust«, »Robinson Crusoe«) sowie das Ende von Onkel Anastas Weidlich.
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Alternative Drucke Hermann Bahr: 12. Juni [1920]. In: Kritik der Gegenwart. Augsburg: Haas & Grabherr 1922, S. 154–160.
Schlagwörter Artikel in einem Periodikum, Tagebuch