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»Das rätselhafte Deutschland« von Oskar A. H. Schmitz (Georg)
Müller, Verlag München, 1920). Schmitz, den geborenen Weltfahrer, den höchst
Geselligen, hat ein Witz seines Schicksals jetzt schon fast auf mich reduziert
und, statt wie sonst, als uns Europa noch einließ, bald mit einem Oxfordman durch
den Peloponnes zu traben, bald an blauen Küsten mittelmeerisch oder auch dann
wieder auf einem Wolgadampfer rechtgläubig zu schwelgen, muß er jetzt mit mir
untergegangenem Österreicher winters durch schneestarren Wald den Gaisberg hinauf,
sommers durch Almenrosenbrand zum Hochthron empor. Wir zwei sollten von Rechts
wegen einander eigentlich nicht ausstehen können, darum sind wir uns allmählich
fast unentbehrlich, ja soweit das nach überwundenen Flegeljahren überhaupt noch
möglich ist, beinahe schon ungefähr etwas wie Freunde geworden: er wittert in mir
einen Bolschewiken, ich schimpfe ihn gelegentlich Boche, aber ihm hat offenbar
gerade dieses Gran Bolschewismus, das ich enthalte, bisher ebenso gefehlt, wie mir
wieder ein »bocher« Zusatz vielleicht nur guttun könnte. Und eins ist uns ja
beiden gemein, nämlich daß von keinem das heutige Deutschland den rechten Gebrauch
macht und wir uns aber beide nun, statt zu klagen, darüber noch freuen: wir haben
beide den uns vom Schicksal zugedachten Beruf verfehlt und atmen auf, unserer
Bestimmung echappiert zu sein. Heute, wo mein Vaterland zergangen ist, hat’s ja
keine Gefahr mehr, wenn ich verrate, was meine Vokation war: ich hätte 1898, nach
Burckhard, Burgtheaterdirektor werden müssen, der letzte; wovon Schreyvogel der
Anfang war, das hätte doch unter allen Menschen dieser Zeit eigentlich nur ich,
jenem Anfänger so geheimnisvoll verwandt, wahrhaft vollenden können, der Kreis
wäre dann geschlossen gewesen (gerade darum schlug ich ja doch auch vor zwei
Jahren mit solcher Entschiedenheit ab, Burgtheaterdirektor zu heißen in einem
Augenblick, als es kein Burgtheater mehr gab, als das Burgtheater, das
Schreyvogels, das meine, längst zersprungen war). Und ganz dasselbe hat nun in
seiner Art auch Schmitz erlebt: denn mit ihm war doch vom Schicksal offenbar der
Journalist großen Stils gemeint, der bisher den Deutschen immer noch fehlt. Der
durchaus in der Eigenart, ja im Eigensinn seiner Nation wurzelnde, doch eben von
diesem so sicheren Stand nun nach allen Fernen ausblickende, umblickende,
weltverlangende, weltdurchsuchende, weltversammelnde, niemals sich daheim
beruhigende, völkerverbindende Journalist, der immer irgendwie heimlich ein
Dichter ist oder früher einmal ein Dichter war oder ein Dichter geworden wäre,
wenn ihm das genügt hätte, der aber ebenso stets auch einmal daran war, Politiker
zu werden, der vielleicht nur viel zu sehr Politiker ist, um sich der Politik
irgend einer Partei fügen zu können, der ferner stets glaubt, eigentlich ein
Philosoph oder eigentlich ein Nationalökonom oder eigentlich ein Historiker,
jedenfalls eigentlich alles eher als ein Journalist zu sein und in dem ja doch
auch dies alles steckt, und überdies aber auch noch ein Abenteurer, ein
Glücksritter, ein Landsknecht, zugleich Pizarro, Casanova, Cagliostro, ja bis zum
Commis voyageur herab in einer Person, dieser Journalist, der noch einen letzten
Nachklang vom barocken Menschen hat, der Journalist von der Art Wickham Steeds,
Maurice Barings oder auch Keynes‹ und der großen Weltreisenden vom Mailänder
»Corriere de la Sera«, der fehlt ja bisher in Deutschland. Theodor Wolff hat
manches davon, er hätte vielleicht alles dazu gehabt; er ist nur zu früh seßhaft
geworden, während andere, die schon auch den Ehrgeiz zu dieser Art Journalismus
hätten, wieder nicht genug seßhaft sind: denn sie verlangt beides, sie verlangt
zur treibenden Unruhe einer unsteten Wanderseele dann doch auch noch das
Gegengewicht angeborener ganz starker innerer Seßhaftigkeit. Davon hat, soweit ich
sehen kann, unter den Deutschen heute keiner eine bessere Mischung als Schmitz. In
Homburg geboren, in Frankfurt erzogen, immer also von Jugend auf an jener Kurve,
wo das Süddeutsche schon einen härteren Klang vom Norden her, aber auch wieder
einen überrheinischen Anhauch hat, selber dazu noch durch einen erregenden fremden
Tropfen im Blut aufgeschreckt, zwar noch gesichert genug, um sich niemals ganz
verlieren, aber doch schon zu sehr bedroht, um sich jemals ganz beruhigen zu
können, jung in den edlen Kreis Georges eingelassen, der, mit Wahnfried zusammen,
in jener tiefsten Dämmerung des deutschen Geistes die Wacht am verborgenen Licht
hielt, in der strengen Zucht dieses bis zur Hoffart reinen Kreises früh schon an
die höchsten Forderungen künstlerisch wie sittlich gewöhnt, zu seinem Glück aber
dieser Enge dann, kaum flügge, nach Paris entrückt, um die Zeit gerade, wo diese
Stadt des stärksten Gefühls für Tradition bei höchster Leidenschaft für ungestüme
Freiheit eben wieder einmal, im Dreyfus-Handel, in diesem Stahlbad ihrer
sämtlichen nationalen Energien, zur Besinnung auf sich selbst in allen ihren
Widersprüchen und eben auf die Notwendigkeit, Unentbehrlichkeit, Wesentlichkeit
des Ganzen aller dieser Widersprüche gelangt war, ist auch er, wie die Besten
unserer Generation fast alle, dort erst seiner deutschen Art, der alten deutschen
Art, der goethisch weltweiten, ganz bewußt und so sicher geworden, daß er sich
fortan getrost allen Eindrücken aussetzen und hingeben konnte, ohne von ihnen in
seiner Eigenheit bedroht zu werden: nur wer sich durchaus in sein Volk verwurzelt
weiß, bis in die letzten Tiefen, ja bis ins Absurde dieser Volksart hinein, nur
der darf sich dann erst über sein Volk hinaus wagen, hinaus und empor; wer, ohne
bis ins Absurde national zu sein, über seine Nation will, der entwest und verwest.
Schmitz war nun gerettet, ein richtiger Deutscher, und gerade dadurch allen
Völkern offen, mit einer inneren Spannung von Oxford bis Laotse, freilich aber
eben darum seitdem beiden Arten von verstockten Deutschen gleich verdächtig, den
im eigenen Wesen erstarrten Nationalisten ganz ebensowie den für Volksverwischung
schwärmenden Allerweltsamphibien, den Commis voyageurs des Internationalismus.
Gerade diese sind jenes großen Journalismus, des internationalen, ganz unfähig,
weil es ihnen an der Eigenart fehlt, von der allein sich doch die fremder Völker
erst abheben kann. Schmitz aber, von Jugend auf schon mit geheimen inneren
Verlockungen über sich hinaus und nun in Paris noch zugleich seiner Eigenheiten
erst recht bewußt, aber auch weltweit geworden, dann Jahre lang durch Europa bis
ins Morgenland abenteuernd, wovon sein vortreffliches Buch über Disraeli, das über
»Französische Gesellschaftsprobleme«, die »Fahrten ins Blaue« und »Scheinwerfer
über Europa« (alle bei Georg Müller, München) berichten, der hätte nun zu jenem
großen Journalisten, der uns fehlt, alles; nur die Zeitung nicht, bei uns steht
immer entweder ein Platz leer und der Mensch für ihn findet sich nicht oder es
erscheint ein Mensch und findet seinen Platz nicht, so wird alles bei uns
irgendwie stets leise zur eigenen Karikatur, früher die Monarchie, jetzt die
Republik, es scheint schon Schicksal zu sein. Ohne die Zeitung, die dieser
geborene Journalist großen Stils brauchte, sieht sich Schmitz also genötigt, sie
gewissermaßen selber auf eigene Faust herauszugeben, er hat sich in seinen Büchern
einen Preßersatz bereitet, von ganz eigenem Reiz, nur daß man doch immer wieder
irgendwie leise heraushört, wie schmerzlich er, vielleicht ganz unbewußt, das Echo
von dreimalhunderttausend Abonnenten vermißt, dieses gerade dem geborenen
Journalisten unentbehrliche Korrektiv. Mit dem in Deutschland so seltenen Blick
für die Wirklichkeit, ja noch ganz besonders eben fürs Detail der Wirklichkeit,
für den Eigensinn jeder Einzelheit verbindet er Ideenvermögen, die Kraft, vieles
in eins zusammen zu sehen, den überall die geheimen Verbindungen ahnenden Sinn,
und wenn dieser ihn zuweilen bis ans Urphänomen selber lenkt, so bewahrt ihn eine
gewisse Geradheit oder Redlichkeit des Ausdrucks, es bewahrt ihn ein
unüberwindliches Bedürfnis nach Deutlichkeit vor jedem Schwulst und der fatalen
Neigung des philosophierenden Deutschen, im Dunkeln zu munkeln. Er denkt
gegenständlich, das wird Deutschen immer am schwersten, aber wenn er stets vom
Gegenstand aus und am Gegenstand hin denkt, so denkt er zuletzt über den
Gegenstand doch bis zur Idee durch, und ohne dann dort das metaphysische Pfauenrad
zu schlagen. Er ist klar, ohne seicht zu sein, er wird tief, ohne darin
unterzugehen, er bleibt, auch wenn er sich gelegentlich bis ans phantastische
wagt, immer noch besonnen, und wenn es jetzt Mode geworden ist, auch das Banalste
möglichst extravagant zu sagen, ist er, so verwegen er zuweilen spricht, selbst
dann noch auch dem mittleren Leser verständlich. Dadurch bringt er sich freilich
um die beste Wirkung auf ein Volk, das Bücher um so mehr schätzt, je weniger es
sie versteht ... Vom »Rätsel, das Deutschland der Welt aufgegeben hat«, handelt
seine neue Schrift. Wie, fragt sie, konnte aus dem Volk der Dichter und Denker in
wenigen Jahrzehnten das Volk der Handlungsreisenden und Feldwebel werden? Sie
antwortet: Durch eine Entgleisung seines alten tiefen Unendlichkeitsdranges. Den
deutschen Denker zeichnet sein eigentümliches Verhältnis zum Unendlichen aus und
indem nun dieses Verhältnis von der ganzen Nation, auch von den Nichtdenkern,
übernommen wurde, sei sie verwirrt worden. »Der alte deutsche Idealismus ist in
die Säue gefahren«, so kräftig drückt Schmitz das aus. Und wenn nun die Feinde
verlangen, der Deutsche müsse, damit sich ihm die Welt wieder öffnen kann, erst
»ein anderer« werden, entgegnet er: Nein!, ein anderer ist er ja während der
ganzen wilhelminischen Ersatzzeit gewesen; nein, er selbst muß er wieder werden!
Zunächst aber ist er auch in der demokratischen Verkappung doch wesentlich
wilhelminisch geblieben: unvornehm. »Die westlichen Demokraten wollen, daß alle an
der Kultur, das heißt, an den vornehmen Werten teilhaben ... Die deutschen
Demokraten aber wollen die Vornehmheit überhaupt aufheben, die allgemeine geistige
wie gesellschaftliche Rüpelei endlich von ihren letzten Dämmen befreien... Die
deutsche Zukunft hängt einzig und allein davon ab, ob es gelingen wird, eine neue
Oberschicht von lebendigem Geist und unstarrer Form zu schaffen ... Nichts ist
daher heute für uns wichtiger als die höhere Schule. Nicht die Einheitsschule tut
uns not, die noch den letzten Rest ererbter Kultur auflösen würde, sondern die
vornehme Schule (er denkt an Eton und Harrow)... Gerade die nur tüchtigen
Deutschen pflegen auffallend subalterne Persönlichkeiten zu sein. Nur der geistige
deutsche Typus besitzt jene kostbare, von den Kriegern geschmähte, von den Snobs
nachgeäffte Universalität des wahren Kosmopolitismus.« Dieser deutsche Typus sei
nun aber »im Protestieren« stecken geblieben und ihn wiederzufinden, dazu sieht
Schmitz nur »eine mögliche Wirklichkeit: die vereinigten Staaten von Europa unter
Führung des einzigen Volkes, das seit den Römern wahre staatsmännische Begabung
bewiesen hat, der Engländer«. Und »Grundbedingung ist, daß der Schwerpunkt des
deutschen Reiches wieder dort ist, wohin er gehört, nämlich im Süden ... Unsere
politische Unbegabtheit, unser weltliches Ungeschick waren nur Laster, als wir
täppisch anmaßend sie zu verleugnen suchten,- aber der Selbsterkenntnis zeigt sich
dieses Nichtkönnen als ein tieferes Nichtwollen« ... Wie hier aus einer großen
Anschauung der höchst ergiebige Begriff der deutschen Bestimmung zur Unendlichkeit
im Irdischen und auf diesem eigentlich ganz barocken Grunde dann gleichsam in
Stockwerken alles Gebot und Verbot für den Deutschen emporsteigt, das ist in
seiner Strenge, Klarheit und Ordnung echt schmitzisch aufgebaut. Echt schmitzisch
aber wirkt freilich auch der whim, aus dieser grundsätzlichen Erörterung dann
plötzlich auf einen vielleicht ganz gescheiten, aber jedenfalls grundsätzlich
gleichgültigen, rein praktischen Vorschlag loszufahren, den der eine gutheißen,
der andere bezweifeln mag, niemand aber für wesentlich halten wird, den Vorschlag
eines Ständehauses, eines »Nebenparlaments« der »wirklich Kompetenten«, wo die
vier Stände, der der höheren Bildung, der der Bodenbebauer, der des Handels und
der der Arbeiter, unabhängig von ihrer quantitativen Stärke gleichberechtigt sein
sollen, wogegen ja, schon weil es nur zu beraten, nichts aber zu bestimmen hätte,
niemand etwas einwenden, wofür aber eben darum auch niemand sich ereifern wird,
und des Redens hätten wir jetzt doch eigentlich auch schon genug. | |