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Der Glanz dieser herrlich manikürten Sätze Karl Sternheims, des
elegantesten Stilturners unserer Zeit, macht mir so viel Freude, der selbstgewisse
Stolz, mit dem er, niemals sich zum Publikum herablassend, jahrelang ruhig
gewartet hat, bis es ihm nachlaufen wird, und nun, seit es ihm nachläuft,
spöttisch ausprobiert, wie weit es sich treiben läßt, bezaubert mich so, die Form
nicht blos seiner höchst persönlichen Syntax sondern vor allem auch seiner seit
Jahren scheinbar unachtsam vorbereiteten, jetzt scheinbar verächtlich genossenen
Diktatur über den deutschen Geschmack hat einen solchen Reiz für mich, daß ich
meistens gar nicht dazu komme, mich auch einmal zu fragen, was er denn eigentlich
sagt und ob ich zustimmen kann oder widersprechen muß. So las ich auch seine
Schrift, »Berlin oder Juste milieu« (Kurt Wolff Verlag, München 1920), zunächst
nur mit dem reinsten Vergnügen an den glitzernden Kristallen einer lange gut in
Eis eingekühlten Bosheit. Dann aber fiel mir doch ein: wenn jetzt in den immer
alles sogleich eilfertig abfingernden Händen nichts kristallisierender
Nachschreiber Straß aus seinem Edelschmuck wird, ja das wird dann wieder
entsetzlich sein! Gar bei der ohnedies schon von Tag zu Tag anwachsenden
Berlinfeindlichkeit ganz Deutschlands! Wärs da nicht eher Zeit, Berlin, das viel
gescholtene, nun einmal zu loben? Uns einmal darauf zu besinnen, wie viel wir
anderen, wie viel alle deutschen Stämme Berlin schulden? Und auch uns zu besinnen,
wie wir doch alle, alle begeistert mitgesündigt haben an den Berliner Sünden?
Gewiß hat in Berlin der letzten dreißig Jahre, wie Sternheim ausführt, durchaus
der Begriff gefehlt, »daß viel nicht groß ist«, aber wo sonst im übrigen
Deutschland war denn dieser Begriff noch tätig am Leben? Gewiß ist die Berliner
»Vergottung des Kolossalen« scheußlich, aber welches deutsche Land vergottete denn
nicht um die Wette mit? Gewiß hat der Berliner »Betrieb« alle deutschen Städte der
Reihe nach verseucht, aber sie konnten es ja gar nicht erwarten, angesteckt zu
werden, sie drängten sich doch dazu! Sternheim schreibt: »Auch dort, wo man in der
Provinz nicht unmittelbar unter des Weichtiers Berlin eiternden Drüsen gelegen
hatte, war man im klebrigen Schleim, der Kanäle durch das ganze Land geätzt hatte,
so verstrickt, daß durch Sekrete, die den Blick verschmiert hielten, keiner ein
Ziel sah.« Da muß ich, der doch das auch miterlebt hat, der schaudernd Zeuge, ja
der immerhin unter den ersten war, die den verruchten Berliner Betrieb
durchschauten und öffentlich vor ihm warnten, da muß ich aber doch widersprechen:
nein, so war das nicht, daß Berlin etwa seine Macht über Deutschland dazu
mißbraucht hätte, den Widerstand der anderen zu brechen und ihnen den Berliner
Betrieb gegen ihren Willen aufzuzwingen, sondern umgekehrt erst dadurch, daß
Berlin vor den anderen den Betrieb, das Bedürfnis auch der anderen, das Bedürfnis
aller, einzuführen und auszuführen verstand, dadurch ist es, den von den anderen
nur dumpf empfundenen Wunsch bewußt erfüllend, dadurch ist es erst zur Macht über
alle, zur geistigen Herrschaft gelangt. Daß, was alle wollten, Berlin früher und
besser konnte, scheint mir noch kein sittlicher Vorzug der anderen, es war nur
ihre Schwäche. Das Schicksal seiner Generation hat Heinrich Mann (in »Macht und
Mensch«, Kurt Wolff Verlag, München) geschildert: »Wir wollten nur genießen, und
weder bessern noch uns bessern. Die geistig Lebenden waren keines anderen Wesens
als jene, die wirtschaftlich und politisch obenauf waren, oder als selbst die
Unterlegenen und Armen. Für Ideen leben anstatt für Erwerb und Genuß – vom Ende
des Jahrhunderts bis 1914 schien es unmöglich, es würde ausgesehen haben wie
Selbstbetrug oder Spaß. Sogar die Armen samt ihren Führern verloren stückweise
ihren Glauben und kämpften blos noch um Pfennige, um ein weniges mehr an
Wohlleben. Die Lebensgier war bei allen und auch bei uns«. So war überall in
Deutschland der neue Geist, der um die Mitte der neunziger Jahre begann und auch
den Weltkrieg noch wohlgemut überstand. Er ist durchaus kein geborener Berliner,-
ganz Deutschland hat da mitgekreißt. Und Berlin ist durch ihn ganz ebenso sich
selber und seinem eigenen Sinn entfremdet worden wie die anderen ihrem. Er stammt
weder aus Berlin noch aus Deutschland, und er stammt auch gar nicht aus den
neunziger Jahren. Damals erschien blos in Berlin, die Welt aufregend, eben das,
worüber sich die westliche Welt daheim schon längst wieder beruhigt, womit sie
sich durch die Gewohnheit eines halben Jahrhunderts längst abgefunden hatte. Nur
der Berliner Anstrich war noch so gräßlich neu; der Pariser, der Londoner Betrieb
hatte indessen schon Zeit gehabt, angenehm nachzudunkeln. Bei Balzac, unter dessen
Augen Paris schon in den letzten zehn Jahren vor, vollends aber gar nach der
Julirevolution neuberlinisch wurde, schreien die Farben noch ganz ebenso schrill.
Sein Werk ist das ungeheure Grundbuch einer durchaus dem Geld verfallenen, Geist
und Herz verzehrenden, immer rapider um Erwerb allein rotierenden Welt, und wenn
man darin nicht immer gleich Berlin W erkennt, so doch nur, weil durch den
Prachtmantel einer alten höfischen Kultur, in den dieses klappernde Skelett sich
hüllt, der Blick noch geblendet wird. Aber man kann fast zu jeder Gestalt, der
Illusions perdues etwa, getrost an den Rand einen Berliner oder Wiener Namen
schreiben. Es ist schon ganz unsere Situation: wer Ehren oder Freuden, Ruhm, Macht
oder Genuß will, muß seiner Seele, muß dem Gewissen entsagen, ihn holt der
Betrieb; wer dieser Versuchung widersteht, bleibt zur Hölle vergessener,
verachteter, verhöhnter Not verdammt. Wenn Balzac überall l’intéret accroupi dans
tous les coins sieht, wenn er immer wieder l’envers des consciences, le jeu des
rouages de la vie parisienne, le mecanisme de toute chose aufzeigt, wenn ihn ce
mélange de hauts et de bas, de compromis avec la conscience, de suprématies et de
laclietés, de trahisons et de plaisirs, de grandeurs et de servitucles stets von
neuem entsetzt, hat in dieses furchtbare Schauspiel der Berliner Betrieb oder
irgend ein anderer, selbst der Amerikas mit seinen noch viel gewaltigeren
Dimensionen, auch nur einen einzigen noch so leisen neuen Zug gebracht? Die paar
jungen Leute, die dem Geist nicht untreu wurden, die jeunes hommes graves et
serieux, les esprits solitaires hielten sich schon damals in irgendeinem cenacle
versteckt, relégués comme des saints dans leur niche, ganz wie heute noch die
Gefährten Stephan Georges, wo Betrieb herrscht, flüchtet der Geist stets zu den
gens de gloire posthume. So hat Paris den Berliner Betrieb schon um 1830 gehabt
und es hat ihn sich unversehrt bewahrt bis auf den heutigen Tag. Rollands Olivier
sagt einmal zu Jean Christophe: » Combien de Parisiens as-tu connus, qui
habitaient au-dessus du second ou du troisième étage? Si tu ne les connais pas, tu
ne connais pas la France ... C’est à peine si la France est connue des Français«.
Frankreich, das wahre Frankreich, ist auch noch nur in Dachkammern vorhanden. Die
Wahrheit aller Länder ist nur in Dachkammern vorhanden. Und in Dachkammern ist
auch ein Berlin vorhanden, von dem Sternheims Schrift nichts weiß: das wahre; sie
sieht Berlin doch zu sehr aus der Nähe, da merkt man Höhen und Tiefen nicht. Durch
den Grunewald schreitet einsam Konrad Burdach, der tiefste Kenner, Erkenner
deutschen Wesens, mit dem feinsten Ohr für das letzte lautlose Geheimnis in den
Abgründen unserer Sprache, mit dem weitesten goethescher Kunst des Zusammensehens
von Vergangenheit und Gegenwart in eins mächtigen Blick, es waltet Troeltsch
seines überall angeregt anregenden, zugleich frauenhaft empfänglichen wie männlich
tätigen Geistes, es waltet Ernst Cassirers wirklich die ganze güldene Kette des
abendländischen Denkens vom Cusaner zu Kant, von Luther und Leibnitz bis auf
Schelling und Hegel ehrfürchtig bewahrender Sinn, es fänden sich der reinen
Geister noch andere genug, das Berliner Cénacle ist ganz stattlich, und einer
davon hat ungestraft sogar das Kunststück wagen dürfen, mit beiden Füßen im
Betriebe doch den Scheitel im Äther zu haben: Rathenau führt auch im Auto seine
heimliche Dachkammer mit. Nein, es gibt schon unter dem Betriebs-Berlin noch ein
verborgenes zweites Berlin, in dem das alte, das Berlin Lessings und Mendelssohns,
das Berlin Zelters und Schinkels, das Berlin E.T.A. Hoffmanns, Ludwig Devrients
und der Rahel, das Berlin des Tunnels, das Berlin Menzels und Fontanes unversehrt
lebendig geblieben ist bis auf den heutigen Tag. Über ihm macht nur das neueste,
das ganz unberlinlsche Berlin einen so rasenden Lärm, daß darin die liebe leise
Stimme des Echten fast erstickt. Aber derlei geschieht auch anderwärts, das bin
ich gerade jetzt wieder inne geworden, beim Lesen einer bemerkenswerten Schrift:
»Die Isolierung Japans« (Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte,
Charlottenburg 1920; Verfasser ein »früherer Legationsrat im fernen Osten«, der
ungenannt bleibt). Hier steht das neue Japan in seiner imperialistischen
Beutesucht, Ländergier und Ruchlosigkeit des Erwerbssinns wie Gewissenlosigkeit
der Mittel als ein ins Ungeheure phantastisch gesteigertes Preußen des fernen
Ostens da, nicht blos das arme China, sondern auch England und die Vereinigten
Staaten so gewaltig bedrohend, daß ein neuer Weltkrieg von noch weit
gigantischeren Massen unvermeidlich scheint. Indem ich die Geschichte dieses von
einer rauhen Soldatenoligarchie befehligten japanischen Betriebes las, da fragte
plötzlich in mir eine Stimme leise: Aber Lafcadio Hearn? Und vor mir stand mit
einem Male Lafcadio Hearns unvergeßliches Japan auf, in seiner märchenhaften
Durchseeltheit des ganzen Lebens bis in den leisesten Atemzug hinein, in seiner
Herzensinnigkeit, in seiner treuen Übung von Pflicht, Geduld, Wohlwollen,
Selbstbeherrschung und Selbstverleugnung! Welches Japan ist nun das echte?
Vielleicht ist in allen Völkern das Echte gerade das, was in dieser Zeit ein jedes
mit Leidenschaft geheimhält. | |