Tagebuch. 1. November

Hermann Bahr: Tagebuch. 1. November. In: Neues Wiener Journal, Jg. 28, Nr. 9714, 21.11.1920, S. 4.

Verfasser:in Bahr, Hermann
Titel Tagebuch. 1. November
Periodikum Neues Wiener Journal
Erschienen
  • 21.11.1920
  • Jahrgang 28
  • Nummer 9714
  • Seite 4
Rezensiert
  • P. Heribert Holzapfel: Die Bedeutung des heiligen Franz von Assisi für die Gegenwart. In: Jahrbuch des Verbandes der Vereine katholischer Akademiker zur Pflege der katholischen Weltanschauung (1919)
Volltext Ob ich nicht aber im Grunde vielleicht, ohne das selber zu wissen, doch eigentlich selber ein – Kommunist sei, fragt mich jemand und meint, ich müßte darüber umfallen vor Schreck. Er sieht mich ratlos an, als ich antworte: Kommunist? Hoffentlich! Schon weil mich ja verlangt, ein katholischer Christ zu sein, und womöglich noch von der Franziskaner Art. Was, wenn das mißbrauchte Wort überhaupt einen Sinn haben soll, ist denn ein Kommunist? Man wird in dem Augenblick dazu, wo einem unversehens eines Tages, während man sich das Essen schmecken läßt, einfällt, daß zur selben Zeit andere hungert. Ist der Einfall so stark, daß einem nun das Essen auf einmal nicht mehr schmeckt, ja bald auch die warme Kleidung, die liebe Wohnung nicht mehr, solange man andere hungern und frieren und durch die Nacht streifen weiß, und steigert sich dies bis zum Selbstvorwurf, zum Gefühl, als wäre man dadurch, daß man selber schmaust, am Hunger der anderen schuld, als nähme man, was man selber hat, damit anderen weg, ja steigert es sich durch wachsende Scham bis zum Entschluß oder doch, bei der Armseligkeit unseres Willens, wenigstens zum frommen Wunsch, alles herzugeben, alles den Armen hinzugeben und selber arm zu werden, um dadurch, daß man das Leid der Armut auf sich nimmt, gutzumachen, was an Leid in der Welt man durch Reichtum verschuldet hat, dann ist der Kommunist komplett. Einen ganz kompletten hat es freilich bisher nur einmal gegeben: den heiligen Franziskus, Pater Heribert Holzapfel, der beredte, so viele Bekehrungen wirkende Münchener Franziskaner, dem auch ich es verdanke, daß meine Seele geheilt ist, hat jüngst (in einem Aufsatz über »Die Bedeutung des heiligen Franz von Assisi für die Gegenwart«, im »Jahrbuch« des »Verbandes der Vereine katholischer Akademiker zur Pflege der katholischen Weltanschauung«, 1919, bei L. Schwann, Düsseldorf; das Jahrbuch enthält noch einen anderen Aufsatz von höchster Bedeutung, den des Abts Ildefons Herwegen über »Die Erneuerung unseres religiösen Innenlebens aus dem Geist der Liturgie«) den Kommunismus des heiligen Franz im vollen Sternenglanz seiner unschuldigen, fast kindlichen, herzensheiteren Erhabenheit gezeigt: »Er war ein ganzer Christ, ein radikaler Christ, der sich nicht jeden Schritt und Tritt auf Kompromisse einließ, der vielmehr mit unerbittlicher Strenge durchführte, was er glaubte, was er im Evangelium las. Mit dem ganzen Heroismus seines Wesens lebte er dem christlichen Volke das Evangelium vor in aller Einfachheit und Reinheit, indem er so treu wie nur möglich in die Fußstapfen seines Heilandes trat, indem er gleich ihm ein Leben höchster Armut und Entsagung führte... Als Armer, als freiwillig Armer, als fröhlicher Armer trat Franziskus vor das arme Volk hin. Daher sein großer Einfluß. In gleicher Weise verlangte er von seinen Anhängern, daß sie arm würden und in Gemeinsamkeit ein armes Leben führten. Franz war also Anhänger des Kommunismus. Aber der Kommunismus war ihm ein hohes, heiliges Ideal, und zu Idealen kann man niemand zwingen. Darum führte er den Kommunismus ein nur für jene, die sich ihm freiwillig anschlossen.« Hätten wir doch mehr von jenem heroischen Christentum, sammelten sich doch die »radikalen« Christen endlich, kämen doch auch jene herbei, die es nur noch nicht wissen, daß sie tief im Herzen ja Franziskaner sind, die nur ihre eigenen inneren Stimmen noch immer nicht verstehen, den Ruf ihrer Sehnsucht, Bettler zu sein, und machten wir uns doch von unserer Qual los, machten wir uns doch endlich frei, in Wahrheit frei, alles hergebend, nichts für uns behaltend als das eine, was allein uns nottut: die Liebe Gottes, machten wir doch endlich ernst mit dem Kommunismus!... Kommunist ist jeder, der lieber alles Eigene selber hergibt, um sich nur nicht länger von dem Gefühl quälen zu lassen, daß er damit einem anderen etwas wegnimmt. Kommunist wird man, sobald man das Gefühl hat dadurch, daß es einem selber gut geht, irgendwie geheimnisvoll mit an allem Bösen in der Welt schuld zu sein. Kommunist wird man durch das Verlangen nach Leid, dem sündentilgenden Leid. Das ist die »Teilung«, die der Kommunist fordert: er will das Weltleid teilen, jeder will seinen Anteil am Leid haben, jeder einen möglichst großen. So wird dann auch der Reichtum »abgeschafft«, automatisch, weil ja jeder Kommunist nur den Wunsch hat, arm zu sein. Wenn aber jetzt Leute, die, statt alles Eigene herzugeben, von sich wegzugeben, vielmehr umgekehrt anderen was wegnehmen wollen, dies Kommunismus nennen, das ist ein kleines Mißverständnis. Warum jedoch, weil unter diesem Namen dilettantisch allerhand Unfug getrieben wird, ich leugnen soll, Kommunist zu sein, seh ich nicht ein ... Kommunist sagt nicht: Gib mir dein Geld! Kommunist sagt: Nimm mein Geld! Dazu gehört aber zunächst, daß man eins hat. Kommunismus kann nur von den Reichen kommen. Franziskus war eines mächtigen Kaufherrn Sohn. Kommunismus ist eine Selbstüberwindung. Er setzt Reiche, die es im Reichtum nicht mehr aushalten, er setzt Mächtige, die es in der Macht nicht mehr aushalten, voraus. Arme sind meistens dem Kommunismus totfeind: sie wünschen sich ja noch reich zu werden. Dem Kommunismus fehlt noch immer sein Mirabeau. |
Zusammenfassung Bahr ist Kommunist, wie jeder Franziskaner Kommunist ist. Voraussetzung für den Kommunisten alias radikalen Christen ist, dass man reich ist, um geben zu können, und dass man geben kann, und nicht genommen wird.
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Alternative Drucke Hermann Bahr: 1. November [1920]. In: Kritik der Gegenwart. Augsburg: Haas & Grabherr 1922, S. 253–256.
Schlagwörter Artikel in einem Periodikum, Tagebuch