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In einer jetzt erst von Adolf Erman ausgedeuteten altägyptischen
Inschrift wird geschildert, wie das Land der Pyramiden nach dem Sturz der Könige,
der Priester und der Beamten aussah: »Die Listen sind fortgenommen, die
Sackschreiber sind ausgetilgt, und jeder kann sich Korn nehmen, wie er will. Die
Bureaus stehen offen, die Personenlisten sind weggenommen und Untertanen gibt es
nicht mehr. In den Gerichtssälen gehen die Geringen ein und aus, und das Haus der
Dreißig (der höchste Gerichtshof) ist entblößt. Jede Stadt sagt: Wir wollen die
Starken aus unserer Mitte jagen, und nun dreht sich das Land, wie eine
Töpferscheibe tut: die hohen Räte hungern und die Bürger müssen an der Mühle
sitzen, die Damen gehen in Lumpen, sie hungern und wagen nicht zu sprechen, die
Söhne der Vornehmen sind nicht mehr zu erkennen, und ihre Kinder wirft man auf die
Straße und schlägt sie an die Mauer. Die Sklavinnen können das große Wort führen,
Raub und Mord herrschen im Lande, die Städte werden zerstört, die Gräber werden
erbrochen und die Bauten verbrannt. Man wagt nicht mehr zu ackern, man baut nicht
mehr, und Holz wird nicht mehr ins Land gebracht. Das Land ist wüst wie ein
abgeerntetes Flachsfeld; es gibt kein Getreide mehr, und vor Hunger raubt man den
Schweinen das Futter. Niemand achtet mehr auf Reinlichkeit; man lacht nicht mehr,
und die Kinder sind des Lebens überdrüssig. Der Menschen werden weniger, die
Geburten nehmen ab, und schließlich bleibt nur der eine Wunsch, daß doch alles
zugrunde gehen möge. Die Beamten sind abgetan, sie sind verjagt, kein Amt ist mehr
an seinem Platz und das Land wird von wenigen sinnlosen Leuten des Königstums
beraubt. Und nun beginnt das Reich des Pöbels, er ist obenauf und freut sich
dessen in seiner Weise. Er trägt das feinste Leinen und salbt seine Glatze mit
Myrrhen, hat ein großes Haus und Speicher, dessen Korn freilich einem anderen
gehört hat. Er hat Herden und Schiffe, die auch einmal einen anderen Besitzer
hatten. Sonst ging er selbst als Bote, jetzt freut es ihn, andere auszuschicken.
Er schlägt die Harfe, und seine Frau, die sich früher im Wasser besah, paradiert
jetzt mit einem Spiegel. Auch seinem Gotte, um den er sich sonst nicht kümmerte,
spendet er jetzt Weihrauch – allerdings den Weihrauch eines anderen. Während so,
die nichts hatten, reich geworden sind, liegen die einstmaligen Reichen schutzlos
im Winde ohne Bett, zerlumpt und durstig. Der nichts hatte, besitzt jetzt Schätze,
und ein Fürst lobt ihn, selbst die Räte des alten Staates machen in ihrer Not den
neuen Emporkömmlingen den Hof.« Stimmt auffallend. Übrigens sind Könige, Priester
und Beamte schließlich dann doch wieder zur Macht gelangt in Ägypten, aber
freilich erst nach dreihundert Jahren. Dreihundert Jahre hat’s dort gebraucht.
Dreihundert Jahre lang haben Raub und Mord geherrscht ... Ich fand diesen
ägyptischen Text im Novemberheft der »preußischen Jahrbücher«, in einem Aufsatz
Delbrücks. Erstaunlich dieser Hans Delbrück, dem über Siebzig noch eine dritte
Jugend grünt. Menschen seiner saturnischen Art müssen sich offenbar erst am
Bratspieß des Lebens gehörig rösten, um ganz reif und schmackhaft zu werden. Der
Aufsatz zeigt, wie der Marxismus »in eben dem Augenblick, wo er sich praktisch
einen großen Teil der Welt unterworfen hat, theoretisch zusammengebrochen ist«.
Marx hat richtig prophezeit, aber auf Grund ganz falscher Voraussetzungen. Die
Kritik, die Delbrück an ihm übt, bringt nichts Neues. Dies alles haben die
jüngeren Marxisten selber seit Jahren schon gesagt. Aber daß er sich die Geduld
nimmt, es noch einmal zu sagen, ist sehr gut. Man wird es nämlich immer wieder
noch einmal sagen müssen, solange Dogmen, an die der wissenschaftliche Marxismus
selber längst nicht mehr glaubt, agitatorisch immer noch gebraucht werden. Auch
wird dadurch, daß man den Marxismus widerlegt, Marx nicht im mindesten kleiner.
Wir sehen das Merk dieses Propheten erst jetzt in seiner wahren Bedeutung: es hat
die revolutionäre Kraft erzeugt, durch die Rußland und Deutschland zersprengt
worden sind; die »Geschichtsauffassung« hatte bloß das nötige Pathos zu liefern.
Zur Wirkung gehörte freilich aber auch der gute Glaube der Marxisten an den
Marxismus. Fahren sie jetzt aber fort, Lehren, die sie selbst indessen für falsch
erkannt haben, auch ferner noch zu verkünden, so schwächen sie sich nur selbst.
Delbrück erinnert an ein Wort Lassalles: »Alle große politische Aktion besteht in
dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei
besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.« Aber zum Schluß gibt
Delbrück seinem Aufsatz, ja der ganzen »Arbeiterfrage« plötzlich noch eine neue
Wendung, eine neue Höhe dadurch, daß er den Gegensatz von Kapital und Arbeit, der
zunächst überall nur um Anteil am Gewinn, um Lohnsteigerung zu pendeln scheint,
als »Kampf um die soziale Stellung« erkennt: »Die Not des Arbeiterstandes liegt
nicht im Materiellen. Die Not des Arbeiterstandes ist psychologischer und
pädagogischer Natur ... Es ist der Gegensatz zwischen der höheren Bildung und der
Volksbildung, zwischen den sogenannten Gebildeten und Ungebildeten.« Er rührt hier
an die tiefste Wunde des deutschen Lebens: daß die Deutschen nämlich noch immer
kein Volk sind. Volksgefühl entwickelt sich, wie Lagarde einmal gesagt hat, erst
im gemeinsamen, am gemeinsamen Besitz eines Heiligtums. Seit die Deutschen durch
Luther zerrissen worden sind, gibt es nichts allen Deutschen Heiliges mehr.
Franzosen, auch ungläubig, sind immer noch von derselben inneren katholischen
Form, Engländer sind alle desselben Gewissens. In England sieht Delbrück jenen
Gegensatz zwischen der höheren und der Volksbildung »durch das viel intensivere
kirchliche Leben überbrückt: die verschiedenen Gesellschaftsklassen finden sich in
England in ihren kirchlichen Gemeinschaften, sei es der Staatskirche, sei es der
Sekten, zusammen; die Bildung in Deutschland ist mehr weltlich, sie ist tiefer,
aber darum auch mehr exklusiv, der Spalt wird sehr stark empfunden.« Wenn aber
Delbrück nun hofft, daß »vielleicht der Schillersche Gedanke, das Theater als die
große und höchste Volksbildungsanstalt anzusehen, der Gedanke der Zukunft wird«,
so kann ich diese Hoffnung nicht teilen, weil eben jene gemeinsame Bildung, die er
vom Theater erwartet, erst schon da sein muß, damit ein solches Theater, wie wir
es seit dem bayrisch-österreichischen Barocktheater ja nicht mehr hatten,
überhaupt entstehen kann. Theater kann uns nicht zur Nation machen, denn Theater
setzt selber schon eine Nation voraus. Der Kraft, mit der Wagner uns die Illusion
aufzwang, wir wären schon eine, verdanken wir den einzigen Ansatz zum wahren
Theater: Bayreuth. Theater, selbst ein Geschöpf der Nation, kann uns sie nicht
geben. Zur Nation können wir erst werden, wenn alle Deutschen gemeinsam beten.
Anders ist noch leine jemals entstanden. Wir müßten erst eine nationale Bewegung
haben: eine verbindende, statt der trennenden, und die kann nur religiös sein ...
Indem ich, von meiner Bergwanderung so gut durchfroren und eingesonnt zugleich, in
jener herrlichen Müdigkeit, wo der eingeschlafene Leib den Geist willig allen
Launen überläßt, noch in dem Heft der Jahrbücher blättere, fällt mir auf, wie
merkwürdig gut sich an Delbrück der nächste Aufsatz anschließt, über Tagore, von
Martin Kaubisch. Ist’s ein Zufall? Er wäre seltsam. Denn gerade dort, wo Delbrück
verstummt, setzt diese helle Stimme des neuen Ostens ein. Als »ein unreligiös
erschütterter Mensch« wird hier Tagore gezeigt, den nach einer
»übernational-menschheitlichen Ergänzung und Versöhnung von Westen und Osten, von
Europa und Asien«, verlangt, »aus welcher dann vielleicht auch ein neuer und
anderer »westöstlicher Diwan«, das heißt, eine neue übereuropäische geistige
Weltgemeinschaft hervorgehen könnte«. Wie beseligt’s mich, von indischen Lippen da
mein altes Lied zu hören, mein ewiges Lied von Österreich! Was war mir denn
Österreich immer als eine Verheißung dieses, wie ich’s gern nenne, zweiten
Barocks, eines westöstlichen, wie jenes erste nordsüdlich gewesen, eines, das, was
jenes vertikal begann, nun auch noch horizontal vollenden sollte, den Bogen, den
jenes einst vom Mittelmeer zur Nordsee zog, jetzt von Walt Withman über Goethe und
Dostojewski hin bis zu Laotse spannend! Und mußt ich nicht, wenn mich unsere
Patrioten mit sich verwechselten, immer wieder beteuern: Mein Österreich liegt in
der Zukunft? Und dort liegt es so fest, daß es jetzt auch von dem Seherauge dieses
Inders schon erblickt wird! Daß jetzt, indessen es unter uns niemand mehr sein
will, auf einmal ein Inder schwarzgelb wird, ist das nicht ein herrlicher Spaß?
Auch er haßt, wie ich, allen Nationalismus, aber auch er weiß, wie ich, daß der
Weg ins Übernationale nur durch nationale Geschlossenheit geht. Der Sprung zur
Menschheit über die Nationen hinweg, den das XVIII. Jahrhundert versucht hat, ist
überall ein Absturz in die Nationalismen geworden. Eher fährt der Mensch aus
seiner Haut als aus seiner Nation. Auch die Clarté, überhaupt gedanklich durchaus
nichts als aufgewärmtes XVIII. Jahrhundert, wird die Natur des Menschen nicht
ändern. Indem der Einzelne seine Nation in sich auswischt, wird er nicht
übernational, er wird nur zunichte. Wenn aber eine Nation vollkommen wird, ist sie
dadurch schon übernational. »Alles Vollkommene in seiner Art«, sagt Goethe, »muß
über seine Art hinausgehen, es muß etwas anderes, Unvergleichbares werden.« Und
noch reiner spricht er dieses Urgeheimnis aus, wenn er sagt: »In manchen Tönen ist
die Nachtigall noch Vogel; dann steigt sie über ihre Klasse hinüber.« Alle
Vollendung zeigt sich durch solches Hinübersteigen über die Klasse. Erst indem
sich eine Nation in sich vollendet, steigt sie über ihre Klasse hinüber; es gibt
keinen anderen Weg. Natura non facit saltum: mit seinem Scheitel berührt das
Individuum die Nation, mit ihrem Scheitel die Nation das Reich Gottes. Nicht gegen
den Nationalismus, nur durch den Nationalismus, indem wir ihn vollenden, gelangen
wir über den Nationalismus empor. | |