Tagebuch. 11. Juni

Hermann Bahr: Tagebuch. 11. Juni. In: Neues Wiener Journal, Jg. 29, Nr. 9954, 24.7.1921, S. 6.

Verfasser:in Bahr, Hermann
Titel Tagebuch. 11. Juni
Periodikum Neues Wiener Journal
Erschienen
  • 24.7.1921
  • Jahrgang 29
  • Nummer 9954
  • Seite 6
Weitere Drucke (Bücher)
  • Arno Holz und sein Werk. Deutsche Stimmen zu seinem 60. Geburtstage (1923), S. 49–50 [Erweitert: Ferdinand Avenarius, Max Liebermann und Max von Schillings, Hgg.: ]
Volltext Da tritt Arno Holz ins Zimmer, als käme meine eigene Jugend in Person! Bald vierzig Jahre wird’s, daß wir im ersten Stock des Café Bauer zu Berlin Nacht für Nacht perorierten, und einunddreißig Jahre sind’s, daß wir mit Otto Brahm die «Freie Bühne für modernes Leben” schufen, er aber ist noch ganz der Alte, er bleibt der ewig Junge! Und indem ich, die Augen schließend, dem Jugendklang seiner ostpreußisch klirrenden Stimme, die noch kein einziges weißes Haar hat, lausche, kommt eine zürnende Bewunderung mit solcher Macht über mich, daß ich’s ihm sagen muß: Arno Holz, Sie sind auf der weiten Welt der einzige Mensch, den ich von ganzem Herzen beneiden muß! Es gibt Kameraden genug, die wir an Ruhm voraus sind, und andere wieder, deren Einkommen meines beschämt, aber ich kann mit dem besten Willen keinen von ihnen beneiden, sie müssen doch alle Ruhm und Geld gar zu schwer büßen. Wir anderen aber, die wir uns in der gemäßigten Zone von Ruhm und Reichtum hielten, dürfen immerhin sagen, daß unser Verrat an uns selbst wenigstens nicht unbescheiden war; nur gerade was man so fürs bürgerliche Leben braucht. Aber wir können nicht leugnen, daß wir, der eine früher, der ander später, unseren Frieden mit der Welt gemacht haben, wie man zu sagen pflegt. Daß es eine gräßliche, niederträchtige, teuflische Welt ist, daran sind wir unschuldig, und wenn man mit dem Teufel nicht in Frieden leben kann, ohne daß er abfärbt, so sagt man sich zum Trost, daß es halt schon einmal nicht anders geht. Aber herrlich ist’s, daß es in unserer Generation doch einen gab, der sich auf diesen faulen Trost nicht einließ, der nicht einen Zoll weit von sich abließ, der heute noch keinen Frieden mit der Welt gemacht hat. Herrlich ist es, daß es Sie gibt, Arno Holz, der noch immer mit dem Kopf durch die Wand geht und der einmal bewiesen hat, daß das geht, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen! Sie hatten vor uns allen eines voraus, lieber Arno Holz, das Entscheidende: den ganz starken Glauben an sich selbst. Sie sind der einzige, der nicht einen Augenblick an seiner Kraft, den Berg unserer Literatur zu versetzen, gezweifelt hat, Sie sind der einzige, den man inbrünstig beneiden darf! … Und er hörte mich geduldig lächelnd an und hat es mir, scheint’s, nicht einmal übel genommen. |
Zusammenfassung Besuch von Arno Holz, dem Einzigen ihrer Generation, der sich nicht anpasste und »der noch immer mit dem Kopf durch die Wand geht«.
Link TEXT
Alternative Drucke Hermann Bahr: 11. Juni [1921]. In: Liebe der Lebenden. Tagebücher 1921/23. Hildesheim: Franz Borgmeyer 1925, S. I, 221–223.
Schlagwörter Artikel in einem Periodikum, Tagebuch