20. November [1919]

Hermann Bahr: 20. November [1919]. In: Kritik der Gegenwart. Augsburg: Haas & Grabherr 1922, S. 5–8.

Verfasser:in Bahr, Hermann
Titel 20. November [1919]
Gesamttitel Kritik der Gegenwart
Erschienen
  • Augsburg
  • Haas & Grabherr
  • 1922
  • Seite 5–8
Rezensiert
  • Ilse von Stach: Genesius
Volltext »Lieber Albert Heine! Den ganzen Tag muß ich heute an Sie denken, neidgeschwollen: Denn wonach ich mich damals in meinem Burgtheaterkammerl vor Sehnsucht fast blind geblickt, siehe, das fällt Ihnen jetzt, fliegt Ihnen zu, Sie haben nur die Hand aufzutun! Nein, ich will nicht undankbar sein: mir ward unverdientes Glück, » Dies irae« und »Joákobs Traum« hab ich ans Licht bringen dürfen, überreich ist mir damit das bißchen Arbeit, Verdruß und Geduldspiel jener sieben Monate belohnt. Aber ich hätte mir dies dann gern noch auch durch ein Werk gekrönt, von eben solcher Seelenkraft, Wortgewalt und Bühnenmacht wie jene beiden, menschlich, dichterisch und szenisch ihrer wert, aber meinem eigenen Sinne noch näher, durch ein Werk, dessen Schönheit ich mir nicht erst übersetzen mußte, durch ein Werk sozusagen in der Mundart meines Herzens. Das war ja selbst der standhafte Prinz nicht, den ich unserem braven Dr. Smekal für Moissi bereiten half und Sie, lieber Freund, wenn Moissi kommt, nicht vergessen dürfen: an ihm kann sich Moissi noch über den lebenden Leichnam empor zur letzten Selbstentblößung erheben. Und auch Claudels mächtiger »Ruhetag«, den Sie mir, den Sie vor allem sich, dem Direktor, dem Regisseur und dem Schauspieler Albert Heine, noch schuldig sind; auch der war immer noch nicht, was ich mit solcher Leidenschaft suchte. » Dies irae« wie »Joákobs Traum«, den Künstler in mir beseligend, lassen den Katholiken unberührt; der Ruhetag ergreift auch diesen, aber aus der Ferne. Was ich suchte, war ein katholisches Stück aus der Nähe: katholisch, doch deutschen Geistes und deutscher Form. Ich bin Katholik, aber einer der durch Kant und Goethe, durch die deutsche Romantik und die deutsche Musik gegangen ist. Das Kunstwerk, das sich meiner ganz bemächtigen soll, nicht bloß meiner Gedanken, nicht bloß meines Gefühls, sondern um unmittelbares Erlebnis zu werden, auch noch meiner Sinnlichkeit, muß denselben Weg gegangen sein. Über ihn hinaus, ja! Weiter als jene kamen, ja! Und noch so weit als nur irgend möglich vor, ins Dunkel, in die Zukunft, ins Unentdeckte vor! Neuer Geist scheidet nämlich alten nicht aus, sondern saugt ihn auf. Der des Christentums nimmt den antiken mit in sich hinein und so nimmt dann das Barock wieder den Aufstand der Renaissance mit in sich hinein, jener Aufstand wird im Barock dienend, als Rhythmus, Farbenspiel, Kontrast: der siegende Geist tilgt den bezwungenen niemals aus, er eignet sich ihn als Form an, so macht er ihn unschädlich. Ein Zeitalter ist um so größer, je mehr es sich von der Vergangenheit beizusetzen, je mehr Vergangenheit es sicher als seine Form zu gebrauchen weiß; denn solange noch irgendein alter Geist nicht ganz zur eigenen Form des neuen geworden ist, wirkt er in diesem vergiftend fort. An ihrer schlechten Verdauung ist unsere Zeit so siech geworden, darum fehlt es uns auch bei hohen Künstlern an der Kunst. Denn Kunst hat die Kraft, nichts Lebendiges auszuschließen; Geschöpf einer Einheit, wird sie dann selber wieder Schöpfer von Einheit. Unsere Zeit aber kennt kaum die kleinsten Einheiten, sogar der einzelne selber ist ja keine mehr. Kunst ist immer katholisch, im höchsten Sinn: die Menschheit umschließend. Und jenes Stück also, das ich mir fürs Burgtheater erträumte, das war ein in jedem Sinn katholisches, von solcher Menschlichkeit in seiner Glaubensmacht, daß es auch ein kunstloses Kind erschüttern, von solcher Schönheit der Erscheinung, daß es auch den Ungläubigen bezaubern, von solchem Glockenton unserer Vergangenheit, daß im Chor ganz Deutschland einstimmen sollte – Sie wissen, lieber Heine, daß ich nicht immer ganz zurechnungsfähig bin, das sind die schönsten Tage meines Lebens! Und ihre Wünsche haben dann aber eine so beschwörende Gewalt, daß sie mir meistens in Erfüllung gehen, wenn auch gewöhnlich für mich selbst zu spät. Auch diesmal wieder: erst aus dem Oktoberheft des »Hochland« erfuhr ich von dem Stück, das jenen Traum meiner Burgtheaterzeit erfüllt. Dort wurde von Joseph Sprengler ein »Genesius« gerühm , eine »christlicheTragödie« der Dichterin Ilse v. Stach. Einige Verse, die zitiert waren, ließen mich aufhorchen: das war ein Klang jüngster Jugend. Aber der sieht es doch sonst eigentlich nicht gleich, einen alten Spanier zu benutzen, wie hier mit Lopes » Fingido verdadero« und seinem französischen Abkommen, dem Saint Genest des Jean de Rotrou, geschieht. Dieser Rotrou, heute noch im Foyer der Comédie zu sehen, nahe dem Molière Houdons, war ein Zeitgenosse, Freund und Nebenbuhler Corneilles und um die Wette mit dem Polyeucte des Corneille hat er diesen Genest gedichtet, auch ein Märtyrerstück, aber dabei höchstes Theater und noch dazu von der dem Kulissensinn des Publikums frönenden Art, das Theater selbst aufs Theater zu bringen: Schauspieler in der Garderobe, sich schminkend aufs Stichwort wartend, mit Theaterarbeitern zusammen, im Lampenfieber, und all das Auf und Ab, all das Hin und Her hinter der Szene, nach dessen Geheimnissen das Publikum so lüstern ist, die Dessous der Schauspielerei wurden da gezeigt, die, scheint’s, schon damals weit mehr Reiz für das Publikum hatten als ihr schönstes Prunkgewand. Der Stoff, nämlich, daß ein Schauspieler, der vor Heiden einen Christen zu spielen hat, unter dem Eindruck seines eigenen Spiels selbst zum Christen wird und die Wahrheit seines Spiels mit dem Tode bezeugt, muß dem Schauspieler schmeicheln, die Gelegenheit, ein Bühnenspiel von allen Seiten, vorher und nachher zu zeigen, dann aber auch zwischen das Bühnenspiel und das Publikum noch ein Publikum einzuschieben, ein gespieltes nämlich, und noch gleich eins dazu mit einem mächtigen Kaiser und seinem versammelten Hof, gar aber dann der Übergang von der Täuschung zur Wahrheit, wo man eine Zeit gar nicht mehr unterscheiden kann, was noch Spiel, was schon blutiger Ernst ist, wie muß das jeden derben Theatersinn erregen, den nicht ein warnender Geschmack gerade vor dieser brünstigen Häufung sicherer Effekte zurückhält! Nun aber die Verse, die zitiert waren mit ihrem dunklen Hölderlinklang und dazu noch einer Hast und wilden Hitze des Emportaumelns aus glühenden Tiefen, wie nur zuweilen in den Erektionen unserer überkleistenden Expressionisten, aber eines Dichters Verse von so holdseliger, zartester Frömmigkeit, wie sie reiner und süßer kaum von den gottestrunkenen Lippen der Mechtild von Magdeburg floß! Sardou mit Droste-Hülshoff in einer Person, kann denn das sein? So ließ ich mir das Buch kommen (Josef Köselsche Buchhandlung Kempten und München). Und jetzt, lieber Heine, muß ich mich sehr zusammennehmen, um Sie nicht hymnisch anzustrudeln, was doch unter uns Auguren wenig Sinn und noch weniger Wirkung hat, aber lesen, Heine!, lesen müssen Sie das, dann spielen Sie’s ja gleich! Denn das Allerseltenste wird hier Ereignis: Hier ist einem hohen Dichter ein gewaltiger Theatermensch gesellt und wie nur bei den gebornen Dramatikern schlägt in dieser Dichtung das Herz der Schauspielkunst! Es schlägt so stark, daß Heiden und Juden und Türken und Ketzer und Spötter und Leugner, ich möchte wetten, überhören werden, wie fromm es schlägt, also könnten Sie’s doch ruhig wagen, lieber Freund!« |
Zusammenfassung Bahr hat endlich das von ihm gerade während seiner Burgtheaterdirektoriumszeit gesuchte katholische Kunstwerk gefunden und legt es dem Schauspieler Albert Heine dringend ans Herz.
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