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»Lieber Albert Heine! Den ganzen Tag muß ich heute an Sie
denken, neidgeschwollen: Denn wonach ich mich damals in meinem Burgtheaterkammerl
vor Sehnsucht fast blind geblickt, siehe, das fällt Ihnen jetzt, fliegt Ihnen zu,
Sie haben nur die Hand aufzutun! Nein, ich will nicht undankbar sein: mir ward
unverdientes Glück, » Dies irae« und »Joákobs Traum« hab ich ans Licht bringen
dürfen, überreich ist mir damit das bißchen Arbeit, Verdruß und Geduldspiel jener
sieben Monate belohnt. Aber ich hätte mir dies dann gern noch auch durch ein Werk
gekrönt, von eben solcher Seelenkraft, Wortgewalt und Bühnenmacht wie jene beiden,
menschlich, dichterisch und szenisch ihrer wert, aber meinem eigenen Sinne noch
näher, durch ein Werk, dessen Schönheit ich mir nicht erst übersetzen mußte, durch
ein Werk sozusagen in der Mundart meines Herzens. Das war ja selbst der standhafte
Prinz nicht, den ich unserem braven Dr. Smekal für Moissi bereiten half und Sie,
lieber Freund, wenn Moissi kommt, nicht vergessen dürfen: an ihm kann sich Moissi
noch über den lebenden Leichnam empor zur letzten Selbstentblößung erheben. Und
auch Claudels mächtiger »Ruhetag«, den Sie mir, den Sie vor allem sich, dem
Direktor, dem Regisseur und dem Schauspieler Albert Heine, noch schuldig sind;
auch der war immer noch nicht, was ich mit solcher Leidenschaft suchte. » Dies
irae« wie »Joákobs Traum«, den Künstler in mir beseligend, lassen den Katholiken
unberührt; der Ruhetag ergreift auch diesen, aber aus der Ferne. Was ich suchte,
war ein katholisches Stück aus der Nähe: katholisch, doch deutschen Geistes und
deutscher Form. Ich bin Katholik, aber einer der durch Kant und Goethe, durch die
deutsche Romantik und die deutsche Musik gegangen ist. Das Kunstwerk, das sich
meiner ganz bemächtigen soll, nicht bloß meiner Gedanken, nicht bloß meines
Gefühls, sondern um unmittelbares Erlebnis zu werden, auch noch meiner
Sinnlichkeit, muß denselben Weg gegangen sein. Über ihn hinaus, ja! Weiter als
jene kamen, ja! Und noch so weit als nur irgend möglich vor, ins Dunkel, in die
Zukunft, ins Unentdeckte vor! Neuer Geist scheidet nämlich alten nicht aus,
sondern saugt ihn auf. Der des Christentums nimmt den antiken mit in sich hinein
und so nimmt dann das Barock wieder den Aufstand der Renaissance mit in sich
hinein, jener Aufstand wird im Barock dienend, als Rhythmus, Farbenspiel,
Kontrast: der siegende Geist tilgt den bezwungenen niemals aus, er eignet sich ihn
als Form an, so macht er ihn unschädlich. Ein Zeitalter ist um so größer, je mehr
es sich von der Vergangenheit beizusetzen, je mehr Vergangenheit es sicher als
seine Form zu gebrauchen weiß; denn solange noch irgendein alter Geist nicht ganz
zur eigenen Form des neuen geworden ist, wirkt er in diesem vergiftend fort. An
ihrer schlechten Verdauung ist unsere Zeit so siech geworden, darum fehlt es uns
auch bei hohen Künstlern an der Kunst. Denn Kunst hat die Kraft, nichts Lebendiges
auszuschließen; Geschöpf einer Einheit, wird sie dann selber wieder Schöpfer von
Einheit. Unsere Zeit aber kennt kaum die kleinsten Einheiten, sogar der einzelne
selber ist ja keine mehr. Kunst ist immer katholisch, im höchsten Sinn: die
Menschheit umschließend. Und jenes Stück also, das ich mir fürs Burgtheater
erträumte, das war ein in jedem Sinn katholisches, von solcher Menschlichkeit in
seiner Glaubensmacht, daß es auch ein kunstloses Kind erschüttern, von solcher
Schönheit der Erscheinung, daß es auch den Ungläubigen bezaubern, von solchem
Glockenton unserer Vergangenheit, daß im Chor ganz Deutschland einstimmen sollte –
Sie wissen, lieber Heine, daß ich nicht immer ganz zurechnungsfähig bin, das sind
die schönsten Tage meines Lebens! Und ihre Wünsche haben dann aber eine so
beschwörende Gewalt, daß sie mir meistens in Erfüllung gehen, wenn auch gewöhnlich
für mich selbst zu spät. Auch diesmal wieder: erst aus dem Oktoberheft des
»Hochland« erfuhr ich von dem Stück, das jenen Traum meiner Burgtheaterzeit
erfüllt. Dort wurde von Joseph Sprengler ein »Genesius« gerühm , eine
»christlicheTragödie« der Dichterin Ilse v. Stach. Einige Verse, die zitiert
waren, ließen mich aufhorchen: das war ein Klang jüngster Jugend. Aber der sieht
es doch sonst eigentlich nicht gleich, einen alten Spanier zu benutzen, wie hier
mit Lopes » Fingido verdadero« und seinem französischen Abkommen, dem Saint Genest
des Jean de Rotrou, geschieht. Dieser Rotrou, heute noch im Foyer der Comédie zu
sehen, nahe dem Molière Houdons, war ein Zeitgenosse, Freund und Nebenbuhler
Corneilles und um die Wette mit dem Polyeucte des Corneille hat er diesen Genest
gedichtet, auch ein Märtyrerstück, aber dabei höchstes Theater und noch dazu von
der dem Kulissensinn des Publikums frönenden Art, das Theater selbst aufs Theater
zu bringen: Schauspieler in der Garderobe, sich schminkend aufs Stichwort wartend,
mit Theaterarbeitern zusammen, im Lampenfieber, und all das Auf und Ab, all das
Hin und Her hinter der Szene, nach dessen Geheimnissen das Publikum so lüstern
ist, die Dessous der Schauspielerei wurden da gezeigt, die, scheint’s, schon
damals weit mehr Reiz für das Publikum hatten als ihr schönstes Prunkgewand. Der
Stoff, nämlich, daß ein Schauspieler, der vor Heiden einen Christen zu spielen
hat, unter dem Eindruck seines eigenen Spiels selbst zum Christen wird und die
Wahrheit seines Spiels mit dem Tode bezeugt, muß dem Schauspieler schmeicheln, die
Gelegenheit, ein Bühnenspiel von allen Seiten, vorher und nachher zu zeigen, dann
aber auch zwischen das Bühnenspiel und das Publikum noch ein Publikum
einzuschieben, ein gespieltes nämlich, und noch gleich eins dazu mit einem
mächtigen Kaiser und seinem versammelten Hof, gar aber dann der Übergang von der
Täuschung zur Wahrheit, wo man eine Zeit gar nicht mehr unterscheiden kann, was
noch Spiel, was schon blutiger Ernst ist, wie muß das jeden derben Theatersinn
erregen, den nicht ein warnender Geschmack gerade vor dieser brünstigen Häufung
sicherer Effekte zurückhält! Nun aber die Verse, die zitiert waren mit ihrem
dunklen Hölderlinklang und dazu noch einer Hast und wilden Hitze des Emportaumelns
aus glühenden Tiefen, wie nur zuweilen in den Erektionen unserer überkleistenden
Expressionisten, aber eines Dichters Verse von so holdseliger, zartester
Frömmigkeit, wie sie reiner und süßer kaum von den gottestrunkenen Lippen der
Mechtild von Magdeburg floß! Sardou mit Droste-Hülshoff in einer Person, kann denn
das sein? So ließ ich mir das Buch kommen (Josef Köselsche Buchhandlung Kempten
und München). Und jetzt, lieber Heine, muß ich mich sehr zusammennehmen, um Sie
nicht hymnisch anzustrudeln, was doch unter uns Auguren wenig Sinn und noch
weniger Wirkung hat, aber lesen, Heine!, lesen müssen Sie das, dann spielen Sie’s
ja gleich! Denn das Allerseltenste wird hier Ereignis: Hier ist einem hohen
Dichter ein gewaltiger Theatermensch gesellt und wie nur bei den gebornen
Dramatikern schlägt in dieser Dichtung das Herz der Schauspielkunst! Es schlägt so
stark, daß Heiden und Juden und Türken und Ketzer und Spötter und Leugner, ich
möchte wetten, überhören werden, wie fromm es schlägt, also könnten Sie’s doch
ruhig wagen, lieber Freund!« | |