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Im Oktoberheft des von Otto Kaus herausgegebenen »Sowjet« werden
Betrachtungen über die Schundliteratur angestellt, zu der »Ungebildete« ja
genötigt sind, so lange die Kunstliteratur sich einer Geheimsprache bedient. Und
merkwürdig sei, daß gerade »je universaler die Weltgemeinschafts- und
Verbrüderungsgefühle werden, welche in den letzten Jahren viele Autoren von sich
aussagen, desto exklusiver die Form und die Sprache wird, in der sie es tun, bald
versteht sie nur mehr ein ganz kleiner Kreis von Eingeweihten: der Dichter
schließt jedes atmende Geschöpf in seine Seele ein, aber die Kluft zwischen den
Millionen unterdrückter Menschen und seinem Buch ist unübersteigbar.« In der Tat
ein schreiendes Mißverhältnis: immer klarer empfinden schon seit den achtziger
Jahren die Geistigen den unversöhnlichen Gegensatz zwischen dem Geist und allen
irdischen Gewalten, immer mehr hoffen sie, vertrauen sie nur noch auf das Volk,
aber indem sie sich dem Volke darum immer mehr zu nähern trachten, finden sie sich
von ihm nur immer weiter entfernt, weil sie ja, mit ihm fühlend, mit ihm denkend,
doch längst nicht mehr mit ihm reden können. Die Sprache ist ein Verkehrshindernis
geworden, und zwar, wunderlich genug!, gerade seit die »Gebildeten« und das Volk
begannen, ungefähr dieselben Worte zu gebrauchen. Im Mittelalter schied sich die
Mundart der Wissenschaft und der Kunst noch rein von der des Volkes: der Denker
wie der Dichter sprach Latein, das Volk mit der Zunge seines Stammes. Das Unglück
fangt erst mit dem »Schriftdeutsch« an, das der »Gebildete« von vornherein
verdirbt, weil er unwillkürlich aus dem Latein, das er gewohnt ist, unheimische
Bräuche hereinträgt, weil er es unwillkürlich lateinisch »konstruiert«, wodurch es
denn gleich von Anfang an dem Volke verdächtig ist und immer unbehaglich bleibt,
ja fast unheimlich. Daß die Sprache des deutschen Denkers, des deutschen Dichters
zwar der Sprache des Volkes ähnlich klingt, aber befremdend und anstrengend für
das Volk, daß sie dem Volke von obenher klingt, daß es das Gefühl hat, dazu stets
erst sozusagen den Hut abnehmen zu müssen, das erschwert unter uns jede
Verständigung zwischen Geist und Volk. So blieb uns kein Ausweg als der in dle
Musik, die denn auch den Deutschen zm Muttersprache geworden, ja die das einzige
Gemeingut aller Deutschen ist, das einzige, was sie sich als Nation fühlen läßt;
ihre gemeinsamen Angelegenheiten sind immer nur von der deutschen Musik besorgt
worden. Und nur, wenn die Dichtung sich der Musik nähert oder aber aus den alten
Brunnen der Mundarten schöpft, kann sie hoffen, auch über den engen Stand der
»Gebildeten« hinaus zu wirken, nicht bloß Staunen und einen dürftigen Respekt des
Volkes erregend, sondern es ins Herz treffend. Wer im Dialekt dichtet, heißt bei
uns ein Volksdichter; das ist bezeichnend: fast als ob wir uns überhaupt nicht
vorstellen könnten, daß auch ein hochdeutsches Gedicht einmal ins Volk geht. Und
wie dicht an der Mundart hält sich der »Sturm und Drang«, wie wunderlich fällt dem
jungen Goethe gleich immer wieder der Volkston ins pindarisch angestimmte Wort,
wie hängen Brentano, die Brüder Grimm, Görres, Uhland, ja Mörike noch an den
Lippen des Volkes! Und ebenso dann doch auch wieder Arno Holz und der junge
Hauptmann! Inzwischen aber war im »Jungen Deutschland« aus dem Dichten und dem
öffentlichen Reden ein Beruf, ein Gewerbe geworden, worin nun, wer es trieb, vor
allem auffallen wollte, um die Kundschaft anzuziehen: es entstand der »Literat«,
dessen Wort überhaupt nichts mehr zu sagen hat, sondern nur noch glänzen soll, ihn
schmücken, sein Geschäft vor anderen auszeichnen, eigentlich also nur als
wohlarrangiertes Schaufenster wirken soll. So wird die Sprache jetzt zum Plakat,
das seine Schuldigkeit getan hat, wenn es nur grell und schrill genug ist, um den
vorübereilenden Passanten so zu verblüffen, daß er vor Schreck einhält und
neugierig aufblickt. Die Sprache hört auf Mitteilung zu sein, sie ist nur noch
Anruf. Wie jene modischen Namen, aus den Anfangsbuchstaben von orten gebildet, Äge
oder Oaka oder Dete, sinnlos, nichtssagend, aber eben durch ihre Fragwürdigkeit
aufreizend, so verliert auch die Sprache selbst allmählich jeden eigenen Sinn, sie
tut den Dienst der Verständigung nicht mehr, ihr eigentlicher Reiz wird jetzt,
unverständlich zu sein, so völlig, daß man händeringend fragt, was denn dies um
Gottes willen zu bedeuten habe! Der »Ausdruck« emanzipiert sich immer mehr von
jedem Inhalt, der Ausdruck drückt nichts mehr aus, der Satz wird zur Charade, die
Literatur zur Rätselecke der Nation. Nur einer Zeit, die bloß noch der Ungewißheit
alles Daseins gewiß war, an gar nichts Festes, den menschlichen Vereinbarungen
Entrücktes mehr glaubte, ja den bloßen Begriff der Wahrheit, einer wirklich
wahren, einer sich auf alle Fälle, selbst ohne Zustimmung und ohne Zutun des
Menschen, ja gegen diesen bewährenden Wahrheit verloren hatte, konnte dies
erträglich sein. Jetzt aber taucht aus ihr eine neue Jugend hervor, wieder nach
Sinn, Gehalt und Bedeutung des Lebens, nach etwas Standhaftem und Stichhaltigem in
uns, und nicht bloß in, sondern auch über uns verlangend, und gerade dieses
ungeheuere Verlangen nach Ernst, nach dem tiefsten innern Selbst der Erscheinungen
sieht sich nun an diese ganz zum bloßen Spiel, ganz Willkür und Eigensinn und
Laune gewordene Sprache gewiesen, ja selber in ihre Fallen verfangen! Ein
Geschlecht, zum Bersten voll von dem, was es alles zu sagen hat, soll dies in
einer Sprache, deren stärkster Reiz es ist, ganz nichtssagend geworden zu sein!
Das ist der höchst paradoxe Fall des Expressionismus: er muß sich jetzt erst
wieder eine Sprache schaffen, eine nicht bloß in sich mit sich selber spielende,
sondern ausdrückende, mitteilende, verständigende Sprache. Die Gefahr ist, daß er
dabei selber auch wieder an eine willkürliche, statt der notwendigen, gerät. Und
recht eigentlich die Lebensfrage der Expressionisten ist es darum, ob unter ihnen
ein Sprachgenie sein wird, ein schöpferisches, das wieder einmal dem verborgenen
Quell den Urlaut unseres Volkes abzuhören vermag, wie Luther einst, wie der junge
Goethe, wie die Brüder Grimm. Aber bisher hat diese neue Jugend noch immer die
Sprache nicht wiedergefunden, sondern auch wieder nur ihren Jargon. Denn wirklich
in den Jargon, in ein Rotwelsch, einen Slang, wenn auch sehr preziöser Art, gerät
die Rede der Expressionisten unwillkürlich immer wieder. Das hat seinen Reiz, denn
es zwingt den Hörer, wenn er halbwegs einen Sinn erraten will, zu hochgespannter
eigener Mitarbeit; er ist schon sehr stolz, wenn es ihm nur ungefähr gelingt, sich
überhaupt irgend etwas dabei denken zu können. Gerade dem Redner aber, der
wirklich etwas zu sagen hat, wird diese Zweideutigkeit aller Reden zum Hindernis,
er ringt vergebens mit ihr und leicht geschieht’s ihm, daß er an ihr erstickt. Das
empfand ich jetzt wieder sehr stark beim Lesen der »Geburt« von Fritz Uhl. Dieses
ist offenbar eine der großen Abrechnungen, womit hochgesinnte Jünglinge beim
Eintritt ins Leben, bevor sie sich es nun aneignen und es für ihre Sendung
gebrauchen werden, gern noch einmal alle Vergangenheit um sich versammeln, zum
Abschied noch einen letzten Blick auf die Welt, wie sie vor ihnen war, werfen und
sie dann entlassen, tief bei sich gewiß, daß jetzt, mit ihnen selbst, eine neue
beginnt. Dieses Gefühl der Berufung zum Richteramt über die Gegenwart, zur
Entscheidung, wie viel vom Erbe der Väter Geltung behalten, wie viel verworfen
werden soll, zur Gesetzgebung der Zukunft, ein Gefühl, das recht eigentlich die
starken Generationen ankündigt und von den bloß übernehmenden, bloß vermittelnden
unterscheidet, gibt sich in Uhls rhapsodischem Entwurf (den er selbst eine
»Komposition« nennt, damit eingestehend, das er über allen bestimmten Gattungen
vagiert) mit großer Willenskraft kund. Etwas gewaltiges fühlt der Leser hier
unternommen, es treibt ihn, atemlos taumelt er mit, von Seite zu Seite gewärtig,
daß Ungeheures geschehen wird. Geschieht es? Ja, das weiß ich eben eigentlich
nicht! Ich blieb, wenn ich ganz ufrichtig sein soll, zuletzt erschöpft zurück, als
ob ich Großes erlebt hätte, doch nur in einem Traum, auf den ich mich aber
erwachend dann durchaus nicht mehr besinnen konnte, von dem ich nichts als
Schweiß, eine nachzitternde Furcht und das Aufatmen, entronnen zu sein, behielt.
Und fraglich ist, ob vielleicht auch der Dichter selbst sich seines Traumes nicht
mehr erinnern kann oder aber bloß noch nicht die Kraft hat, ihn in Gestalt zu
beschwören. Die Schönheit dieser Dichtung ist ihr stolzer Schritt, ihr Eilmarsch:
sie geht so tapfer darauf los, sie geht im Sturm entgegen! Aber wem? Wohin? Es mag
an mir liegen, daß ich das nicht weiß, ich alter Mann. Die Jugend mag diesen
jungen Dichter besser verstehen, weil sie ja, was er zu verkünden hat, alles schon
selber weiß. Wozu dann aber eigentlich erst noch überhaupt Verkündigung, wenn sie
nur den erreicht, der sie schon selber hat? Gerade weil ich so stark das Eigenwort
dieser Jugend auf ihren Lippen liegen fühle, kann ich mir nicht daran genügen
lassen, daß sie nur immer heftig winkt und große Zeichen ihrer Aufregung gibt: es
wird Zeit, daß sie sich mitteilen lernt! Der Augenblick ist zu groß, als daß diese
Jugend, die jetzt über unsere Zukunft, ja vielleicht, ob uns überhaupt noch eine
Zukunft beschieden ist, entscheiden wird, ihre geistige Wirkung auf einen geheimen
Kreis von Adepten oder Mitverschworenen beschränken dürfte! Zum erstenmal wagt
unsers deutsches Volk jetzt, selbst sein Schicksal aus eigener Kraft frei zu
bestimmen. Der Dichter ist der geborene Vertrauensmann des Volkes, sich selber
will es von ihm ausgesprochen hören! Was aber sollen uns da Dichter, die das Volk
sich erst übersetzen lassen müßte? | |